Sommerreise Baltikum 2016
Litauen
Tag 1: Fähre Kiel - Klaipeda
Tag 2: Am Kurischen Haff
Tag 3: Silute - Jurbarkas
Tag 4: Raudone - Druskininkai
Tag 5: Grutas Park - Trakai - Moletai
Tag 6: Moletai - Kurtuvenai
Tag 7: Berg der Kreuze
Tag 8: Kurtuvenai - Pukarags
Lettland
Tag 9: Liepaja - Ventspils
Tag 10: Kurland
Tag 11: Riga - Gauja Nationalpark
Tag 12: Burg Cesis
Estland
Tag 13: Cesis - Peipussee
Tag 14: Kallaste - Mustvee - Vaikla
Tag 15: Narva - Silamäe - Saka
Tag 16: Kohtla-Nömme - Paunküla
Tag 17: Rapla - Lihula
Tag 18: Lihula - Saaremaa
Tag 19: Burg Kuressaare
Tag 20: Halbinsel Sõrve
Tag 21: Kuressaare - Saue
Tag 22: Tallinn - Helsinki
Tag 23: Heimkehr und Fazit
Platzhalter Motorradreise Baltikum
Platzhalter Motorradtour Litauen
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Der Berg der Kreuze

Es ist Sonntagmorgen und ich habe dienstfrei, kann ausschlafen, das Zelt stehenlassen und muss nicht weiterfahren. Dafür sehe ich mir heute den Berg der Kreuze an, ein kurzer Ausflug von etwa 35 km, doch vorher fahre ich nach Siauliai und mache mich auf die Suche nach einem Frühstück.

Motorrad und Zelt

Von Kurtuvenai sind es nur 6 km bis zur Autobahn und kurz darauf reite ich auf der grünen Welle an den Tankstellen und Supermärkten der Stadt vorbei. Siauliai ist die viertgrößte Stadt Litauens und ich bin ziemlich sicher, dass es hier auch ein gemütliches Café gibt.

Ich biege von der Stadtautobahn ab und lande in einer Plattenbausiedlung. Die Straßen der riesigen Wohnmaschine sind schachbrettartig angeordnet und ein Block sieht gruseliger aus als der nächste. Nein, hier hätte ich als Kind nicht aufwachsen mögen.

Kurz darauf stehe ich vor einer Konditorei Café. Ein flacher Bau zwischen zwei Wohnblöcken. Aus den Fugen der Gehwegplatten wächst Gras, davor eine Telefonzelle.

Konditorei Siauliai

Ich bleibe mit laufendem Motor davor stehen und sehe mich um. Das Café sieht geschlossen aus und ohnehin ist es nicht sehr einladend. Ich lege den Gang ein und fahre zurück zur Hauptstraße.

Tankstellen am Sonntagmorgen haben eine ganz eigene Atmosphäre, das ist in Litauen nicht anders, als in Dänemark oder irgendwo in Irland. Wo sonst der Berufsverkehr im Minutentakt abgefertigt wird, herrscht heute Ruhe. Die wenigen Kunden nehmen sich Zeit beim Tanken, ihre Schritte sind leichter, wenn sie an die Kasse gehen. Viele kaufen eine Zeitung und Gebäck zum Mitnehmen. Ich stehe vor dem Regal mit Motorenöl und trinke meinen Kaffee.

Wie mit dem Lineal gezogen, verläuft die Landstraße A12 schnurgerade nach Nordosten. 12 km hinter Siauliai biege ich ab zum Kreuzhügel. Der Berg der Kreuze ist ein Wallfahrtsort, der zum Symbol gegen die kommunistische Herrschaft der Sowjets in Litauen geworden ist.

Viele der Kreuze wurden in Gedenken an die nach Sibirien Depotierten aufgestellt und die, die überlebt hatten, stellten nach ihrer Rückkehr weitere Kreuze auf. Irgendwann war das den Sowjets solch ein Dorn im Auge, dass sie den Hügel mit Bulldozern plattgemacht und die Kreuze verbrannt haben.

Am nächsten Morgen standen dort, wie von Geisterhand errichtet, die ersten neuen Kreuze. Dreimal wiederholte sich die Zerstörung, dreimal wurde der Hügel neu errichtet. Der Berg der Kreuze war zum nationalen Symbol des Widerstands geworden.

Ich denke nicht, dass diese Symbolik mich erreicht, aber zumindest möchte ich mir den Ort ansehen, der in keinem Reiseführer und auf keiner Litauenreise fehlen darf.

Meine Fahrt endet vor der Schranke eines Großparkplatzes. Ich ziehe ein Ticket und stelle das Motorrad vor dem Besucherzentrum ab. Um den Parkplatz reihen sich Andenkenläden und Verkaufsstände voller Kreuze. Die Händler stehen erwartungsvoll hinter den Tischen und warten auf die Ankunft der Reisebusse, aber noch sind die riesigen Parkflächen leer.

Schon aus der Ferne erkenne ich das typische Bild aus dem Reiseführer, ein flacher Hügel, der in der Mitte von einer hölzernen Treppe durchschnitten wird, hohe Kreuze links und rechts, davor zwei gewaltige Jesusfiguren, die sich aus einem Meer von Kreuzen erheben.

Berg der Kreuze Litauen

Auf den ersten Blick wirkt es sehr touristisch auf mich, sehr gemacht und etwas eigenartig. Ich knipse ein paar Fotos und steige langsam die flachen Stufen der Holztreppe hinauf.

Manche Kreuze sind so riesig, als gehörten sie in einen Dom, andere haben die Größe von Grabkreuzen und dann sind da die vielen, vielen Kreuze, die nur wenige Handbreit hoch sind und die überall aus dem Boden wachsen. Das müssen hunderte, nein, tausende Kreuze sein, die hier stehen.

Berg der Kreuze Litauen

An ihnen hängen Rosenkränze, Kruzifixe an Halsketten, Jesusfiguren aus Holz oder Metall, bunte Glasperlenketten, kleine Anhänger und manche Symbolik, die ich nicht verstehe. Viele tragen Jahreszahlen und Inschriften, die ich wegen der fremden Sprache nicht lesen kann.

Manche Kreuze sind ganz neu aus frischem Holz, andere alt und verwittert, die meisten aus Holz, viele aus Metall. Vorne am Weg stehen die frischen Holzkreuze, die noch hell in der Sonne leuchten, während sie an den Rändern des Abhangs zu zehntausenden ins Grundwasser sickern.

Berg der Kreuze Litauen

Tiefer und tiefer steige ich die Treppe in das Meer der Kreuze hinein. Nicht alle Inschriften sind auf litauisch:

"In beloved memory. Chris Parker."
"In eternal love." Louise, Canada.
"I will always love you, Dad." Pat from Australia.

All die Menschen, all die Liebe, das Unglück und die tiefe Traurigkeit. Ich muss an die denken, die ich selbst verloren habe, Freunde, Verwandte, Familie. Nur zwei durch den Tod, andere durch Entfremdung und Lieblosigkeit, die meisten durch trans.

Berg der Kreuze Litauen

Es ist gut, dass ich alleine hier bin, denn jetzt kann ich den Schmerz nicht länger zurückhalten und heule ungeniert in den schönen Sonntagmorgen hinein, irgendwo tief in Litauen, so weit weg von zu Hause. All die Verletzungen und der Schmerz und der Dreck der vergangenen 11 Jahre müssen raus, soviel Wut und Entäuschung, aber hier und heute lasse ich das alles hinter mir.

Berg der Kreuze Litauen

Im Zentrum des Hügels steht ein Altar aus weißem Marmor. Dahinter erhebt sich eine weiße Jesusfigur aus demselben Stein. Jesus sieht gütig zu mir herab. Auf der weißen Steinplatte liegen Glasperlenketten und kleine, bunte Engel, die am ehesten von Kindern dort hingelegt worden sind. An Stellen wie dieser gleitet die Symbolik ins Kitschige ab und ich schaffe es allmählich, mich wieder einzufangen. Jetzt muss es genug sein, heute und für alle Zeit.

Als ich die Treppe wieder hinunter steige, kommen mir Scharen von Touristen entgegen. Die Chinesen, jedenfalls halte ich sie dafür, tragen fast alle einen Mundschutz, wie man sie aus Arztfilmen kennt, wenn der Professor am OP-Tisch steht. Die haben wirklich eine Meise, die Chinesen, aber eine liebenswerte.

Berg der Kreuze Litauen

Mir kommt ein altes Ehepaar entgegen, die Frau ist in Tränen aufgelöst und ihr Mann, der kaum größer ist, als sie selbst, stützt sie liebevoll. In seinem Gesicht lese ich, dass er selbst mit den Tränen kämpft. Die Beiden habe ihre eigene Trauer hierher getragen.

Wenn man kein völliger Holzkopf ist, wird es einem schwerfallen, sich dem Zauber des Bergs der Kreuze zu entziehen. Es ist, als habe er die Gefühle Hunderttausender aufgesogen. Ich bin vermutlich der am wenigsten spirituelle Mensch auf diesem Planeten, aber dem konnte ich mich nicht entziehen.

Raps und roter Mohn

Als ich zurück zum Parkplatz komme, ist mein Motorrad von sieben Reisebussen eingeparkt, ein achter rangiert gerade rückwärts in eine Lücke. Es war gut, dass ich so früh hier war. Im Tross mit 500 Chinesen, Deutschen und Amerikanern wäre es nicht dasselbe gewesen.

Für das Parkticket zahle ich 60 Cent, ein Auto hätte 90 gekostet. Ich starte die Maschine und fahre zurück nach Siauliai. Dort gibt es einen Maxima XX. Die Zahl der Ixe wird von der Größe des Ladens bestimmt. Ein Doppel X ist schon ein großer Supermarkt, der allein von Triple X, den Megastores, übertroffen wird.

Obwohl Sonntag ist, hat der Laden geöffnet. Ich parke das Motorrad ganz dicht neben dem Eingang, klicke den Helm an der Querstange vom Lenker fest und lasse meine teure Kamera mit den Objektiven im Tankrucksack. Ich bin schlicht zu faul, all meine Sachen mit in den Laden zu schleppen und ich habe auch nicht den Eindruck, als sei das nötig.

Ich suche Fischstäbchen für Pieps, aber die möchte stattdessen wieder Koteletts essen, und zwar: "Die mit die fette Knusperschwaate", wie eine kleine Maus nachdrücklich versichert. Mir solls recht sein, ich mag die auch.

An der Kasse lege ich eine Tüte Koteletts aufs Band, Zwiebeln, Bier, eine Flasche Wasser und einen Camembert mit Pfefferkörnern. Eine halbe Flasche Wein habe ich noch im Zelt. Der gesamte Einkauf kostet nur 5,96 €.

Von Siauliai sind es 15 km Autobahn und weitere 6 km auf kleinen Wegen, bis ich wieder Zuhause bin. Den Tankrucksack lege ich mit dem Einkauf darin ins Zelt.

Camping Kurtuvenai Litauen

Ich tausche die Motorradsachen gegen etwas Bequemeres und mache mich auf zu einem Spaziergang. Ich will mir das Gut ansehen und die weiße Basilika im Dorf.

Gutshof Kurtuvenai hölzerne Stallungen die alte Mühle

Ein Ausflugswagen mit zwei Pferden davor fährt über den Sandweg zum Gestüt. Auf dem Bock sitzen zwei junge Frauen und lassen die Pferde munter traben. Ich gehe ihnen nach und sehe mir das Gelände an.

Der Sandweg führt geradewegs auf den alten Kornspeicher zu, ein imposantes Holzhaus, wie aus einem Südstaatenfilm, nur dass es nicht weiß gestrichen ist, sondern seine natürliche Holzfarbe trägt.

Gutshof Kurtuvenai Alter Kornspeicher

Das gesamte Parkgelände wurde 2015 von Freiwilligen im Rahmen eines Projekts in seinen alten Zustand versetzt, so wie Kurtuvenai gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausgesehen hat. Der Platz, an dem früher das Herrenhaus stand, Kurtuvenai Manor, wird heute von einer weißen Balustrade markiert. Junge Menschen aus der ganzen Welt haben daran gearbeitet und in dieser Zeit auf dem Campingplatz übernachtet.

Ein Fußweg führt unter Bäumen hindurch zu einem Tor am Ende des Guts. Dahinter erhebt sich majestätisch die weiße Basilika von Kurtuvenai. Eine ungewöhnlich große und hübsche Kirche für einen so kleinen Ort.

Basilika Kirche Kurtuvenai Litauen

Der Weg hinauf zur Kirche ist mit Kopfsteinen gepflastert. Die Kirchentür steht offen und ich gehe hinein. Drinnen ist es erstaunlich hell und freundlich. Ich mache diskret ein Foto, auch wenn ein Schild am Portal das eigentlich verbietet.

Basilika Kirche Kurtuvenai Litauen

Hinter der Kirche, halb versteckt unter Bäumen, liegt ein alter Friedhof. Im Grunde habe ich für heute genug Kreuze gesehen, wenn nicht sogar für ein ganzes Leben, aber dieser Kirchhof erscheint so geheimnisvoll, dass ich ihn ansehen möchte.

Der alte Friedhof in Kurtuvenai

Zwischen den Bäumen liegen alte Gräber, eingesunken in den Waldboden. Die steinernen Grabkreuze verwittert und mit Flechten bewachsen. Lange zurückliegende Begräbnisse, die Inschriften nicht mehr zu entziffern und doch wachsen frische Blumen auf jedem Grab. Jemand kümmert sich nach all der Zeit, die vergangen ist. Die Toten sind nicht vergessen.

Ein altes Grab mit frischen Blumen

Das Sonnenlicht wirft malerische Lichtflecken auf den Friedhof und erzeugt Fotomotive von morbider Schönheit. Ich stiefele zwischen den Gräbern umher und fühle mich wie ein Eindringling. Bin ich Besucher oder Gaffer?

Das Gräberfeld ist klein und bevor ich mir weitere Gedanken machen kann, habe ich schon alles gesehen und mache mich auf den Rückweg zum Campingplatz.

Camping Kurtuvenai ist einer der am schönsten gelegenen Plätze, auf denen ich je mein Zelt aufgestellt habe. Der malerische Blick über den Ententeich, der Gutshof mit dem alten Kornspeicher, welch ein friedlicher Ort. Sollte ich je wieder nach Litauen kommen, wäre dies mein Lieblingsplatz.

Camping Kurtuvenai

Pieps und ich setzen uns im alten Obstgarten unter einen Baum. Ich breite unsere Picknick­decke aus und sehe mir auf der Landkarte die Fahrstrecke für den nächsten Tag an. Morgen geht es wieder an die Küste, nicht weit nördlich von Klaipeda, wo wir vor einer Woche angekommen sind, Greeny, Pieps und ich, aber der Zeltplatz abends liegt schon in Lettland.

Landkarte auf Picknickdecke

Es herrscht beinahe Stille im alten Obstgarten, nur der Wind rauscht in den Bäumen und ab und zu macht eine Ente Geräusche, die nur Enten verstehen.

Das Camp liegt verlassen. Außer meinem Zelt steht nur das englische Wohnmobil und die Beiden sind vorhin spazieren gegangen. Ich werde die Chance nutzen und mir die Haare waschen.

Ich schnappe mir Handtuch und Shampoo und mache mich auf den Weg in die Duschen. In der folgenden Viertelstunde verwandele ich den verlassenen Duschraum in einer wahren Wasserschlacht in ein Feuchtbiotop aus Wasserdampf und Shampooschaum.

Es ist erstaunlich, wie ein kleines Outdoor Handtuch mich und meine langen Haare trocknet. Dabei wiegt es keine 300 g. Nach dem Duschen ziehe ich eine Leggings und mein Snoopy Nachthemd an. Auch das mag ich so am Camping: Hier spielt es keine Rolle, wie man rumläuft, selbst wenn jemand da wäre, der mich sehen könnte.

Die Haare können an der Luft zu Ende trocknen, während ich das Abendessen vorbereite. Zuerst ritze ich die Schwarte der Koteletts ein und dann muss ich Zwiebeln schneiden.

Die Zeltküche

Ein perfekter Abend: Ruhe auf dem Campingplatz, die Koteletts brutzeln in der Pfanne, ich lese in meinem Kindle und trinke nebenher Bier aus dem kleinen Metallbecher, dazu duftet es verführerisch nach gebratenem Fleisch.

Abendessen im Zelt

Später liege ich im Zelt und beobachte gedankenverloren die Insekten. Eine kleine Ameise marschiert entschlossen über mein Kopfkissen und am Zelthimmel klettert eine Spinne empor.

Das war ein wunderschöner Jokertag. Die Heulerei am Berg der Kreuze hat mich ziemlich geschlaucht, aber das war das. Nun bin ich durch damit. Der alte Friedhof neben dem Campingplatz war nur noch ein Fotomotiv.

zum nächsten Tag...

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Svenja Svendura EndurowandernMade by Svenja Svendura on Apple iMac with Panic Coda and Photoshop Elements.