Mit der Enduro übers Watt
Ein gellender Pfiff schallt hinter mir her, als ich mit der KLX als Erste von der Fähre an Land jumpe. Ich hasse solche Lobhudeleien, bloß weil ich ein Mädchen bin. Der Fährmann will natürlich nur seine Anerkennung zeigen, aber dieser Stunt ist echt babyeierleicht. Man braucht nur bei Rot tief über den Lenker gebeugt unter der halb offenen Schranke durch an Land zu hopsen.
An der dänischen Grenze halte ich es vor Kälte kaum noch aus und ich mache immer häufiger kurze Pausen, um wieder warm zu werden. Dabei sind es noch 7° und ich habe alles an, was ich mithabe: Die dicke Unterwäsche aus Merinowolle, die Fleecejacke, den Windbreaker und die Endurojacke mit Thermofutter. Trotzdem hab ich das Gefühl, ich kratz gleich ab.
40 Minuten später stehe ich am Deich. Schnurgerade führt eine Piste aus grobem Schotter ins Watt hinaus und verschwindet am Horizont. Von der Nordsee ist weit und breit noch nichts zu sehen, von Mandø allerdings auch nicht. Die Insel liegt ziemlich weit draußen.
Sowie der Bus durch ist, lege ich den ersten Gang ein und heize los. Ein bisschen nervös bin ich schon, weil um 13:30 Uhr Tidenwechsel war und ich keine Ahnung habe, wie schnell so eine Nordsee ist. Sicher nicht schneller als Greeny, beruhige ich mich.
Nach drei Kilometern halte ich an und baue die Kamera auf. Den Motor der Kawasaki lasse ich laufen, während ich das Stativ neben die Piste ins Watt stelle. Ich wähle den Ausschnitt, starte die Aufnahme und trabe eilig zurück zum Motorrad. Zweimal düse ich durchs Bild und bin gespannt, ob sich daraus ein brauchbares Standbild herausschneiden lässt.
Kurz darauf kommt endlich Land in Sicht und erleichtert rolle ich zuerst über zwei Kuhgitter und dann die Teerstraße zum Deich hinauf. Sieben Kilometer kamen mir noch nie so lang vor, aber dafür ist mir jetzt auch nicht mehr kalt.
Auf Mandø gibt es einen kleinen Campingplatz, der, wie überhaupt alles auf dieser Insel, nicht schwer zu finden ist, weil es nämlich nur die eine Straße gibt.
Der Platz liegt noch im tiefsten Winterschlaf und die Zeltwiese und Wohnmobilstellplätze sind verlassen. Nur zwei Dauercamper legen einen neuen Holzboden für ihr Vorzelt. Eine Anmeldung gibt es nicht, aber das Schild am Eingang sagt, dass man sich im Brugsen melden soll. Brugsen, das sind die kleinen Krämerläden, die so typisch sind für Dänemark, und wo es von der Ansichtskarte über Grillfleisch bis zum Zelthering einfach alles gibt.
Ich lasse Greeny auf dem Campingplatz stehen und stiefele rüber zum Brugsen. Der Laden ist geschlossen und im Fenster hängt die Tafel mit den Öffnungszeiten: Dienstag, Donnerstag und Samstag von 9-11. Der macht also erst in drei Tagen wieder auf, aber wer soll hier auch groß einkaufen? Auf der Insel leben nur 60 Menschen, die Touristen kommen erst im Mai und die Baumstreichler haben ihre Rucksäcke vermutlich bis obenhin voll Dinkelkekse gestopft.
Ich öffne die Tür zum Mandø Café und betrete den verlassenen Raum. "Hallo?", rufe ich in die Stille. Von hinten aus der Küche kommt ein Mann, der sich die Hände mit einem Küchenhandtuch trocknet. "Guten Tag, verstehen Sie deutsch?", frage ich schüchtern, weil ich es noch immer nicht geschafft habe, Dänisch zu lernen, während die meisten Dänen perfekt unsere Sprache sprechen.
Als Ellen sich nicht meldet, nimmt John einen Block, schreibt mit Kugelschreiber ein paar dänische Worte aufs Papier "Jeg har givet lov til at slå telt op måske 2 natter", und fügt mit seinem niedlichen Akzent erklärend hinzu: "Ich geb dir ein Zeddel, dann kriegst du kein Ärger wenn einer dich auf den Camping sieht".
Beruhigt falte ich den Passierschein zusammen und stecke ihn hinten in mein Moleskine. Zuhause werde ich mir die Worte von Google übersetzen lassen mit: "Ich habe Erlaubnis gegeben, um ein Zelt aufschlagen vielleicht 2 Nächte."
"Willst du morgen ein Frühstück haben?", möchte John noch wissen. "Oh ja, gerne, am liebsten so gegen neun", stimme ich begeistert zu. "Gut, dann mach ich der fertig für um neun Uhr." Ich sage tschüss und gehe zurück zum Campingplatz.
Auf der Zeltwiese steht hinten am Zaun eine Picknickbank und daneben werde ich mein Lager aufschlagen. Vor zehn Monaten habe ich das Zelt zuletzt aufgebaut und heute stelle ich mich gleich so dusselig an, als wenn ich noch nie gezeltet hätte. Ich hoffe nur, dass mich keiner beobachtet.
Zuerst mache ich den Boden verkehrt rum fest, dann vergesse ich das Gestänge einzuklipsen und am Ende stelle ich das Außenzelt mit der Innenseite nach oben. Ich muss über mich selber lachen, denn irgendwie kenne ich das schon: Erst beim dritten Mal geht alles wieder ganz geschmeidig, aber das wird dann schon am Geiranger Fjord sein.
Allmählich bekomme ich Hunger und es wird Zeit für mein Küchenexperiment: Statt Entrecote gibt es heute Bratwurst. Damit will ich schon für Norwegen üben, wo Entrecote bestimmt schwer zu kriegen, oder unerschwinglich teuer ist. Vermutlich beides.
Draußen ist es mir zu kalt, denn auch wenn die Sonne schön scheint, sind es trotzdem nur 7°. Mit dem Dubs setze ich mich ins Zelt auf die Isomatte und stelle den Kocher in der Apsis ins Gras. Es zischt, als ich die Bratwürte ins heiße Fett lege. Damit es appetitlicher aussieht und die Würste eine kleine Kruste kriegen, habe ich sie leicht eingeschnitten.
Die ganze Aktion erinnert fatal an eine Party, die ich mal gegeben habe und wo wir komplett ohne Alkohol feiern wollten. Später ist ein Kumpel zur Tanke gefahren und hat zwei Kisten Bier besorgt. Morgen fahre ich jedenfalls nach Ribe und besorge Oksekød, wie Rindfleisch auf Dänisch heißt. Die wichtigsten dänischen Vokablen kann ich natürlich.
Es ist Zeit für die Nacht und so mache ich mich mit Waschbeutel und Handtuch auf den Weg zum Waschhaus. Es gibt drei Kabinen mit Dusche, Toilette und Waschbecken, aber ich verstehe einfach nicht, wie man die Tür von innen verriegeln kann. Da ist zwar eine Skizze am Schloss, aber die kapiere ich nicht. So bleibt die Tür unverschlossen und die ganze Hygieneaktion ziemlich nervös und an der Oberfläche.
Endlich mache ich das Zelt hinter mir zu und ziehe mich aus für die Nacht. Ich liebe dieses Gefühl, wenn ich mich zum ersten Mal in den Schlafsack lege. Der ist zuerst noch eiskalt, aber ich weiß genau, dass er in wenigen Minuten mollig warm sein wird. Das ist so gemütlich, weil es im Zelt nämlich schweinekalt ist. 5° zeigt das kleine Thermometer, das ich extra mitgenommen habe, um ein Gefühl für die Temperatur zu bekommen, weil ich ausprobieren will, ob meine Sachen für die Tour zum Nordkap auch warm genug sind.
Nach einer Viertelstunde ist der Arm eiskalt, mit dem ich das Kindle halte und ich werde erst morgen erfahren, ob die Hebamme Stechlin unter der Folter gesteht, eine Hexe zu sein. Das Zerquetschen ihrer Hände mit den Daumenschrauben hat sie tapfer ertragen, aber ob sie morgen die glühenden Zangen aushält? Ich halte zu ihr, weil ich nämlich glaube, dass sie unschuldig ist.
Sorgfältig verschließe ich das Kindle in einer wasserdichten Klickbox und stecke den kalten Arm im Schlafsack in die Achselhöhle. Mit der anderen ziehe ich den Reißverschluss des Mumienschlafsacks bis oben hin zu, so dass kaum noch meine Nasenspitze herausguckt. Morgen werde ich vielleicht…aber diesen Plan kann ich schon nicht mehr zu Ende denken, weil ich vorher mal wieder fest eingeschlafen bin...
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