Auf nach Italien!
Noch hundert Tage bis Weihnachten. Draußen peitscht Herbststurm Sebastian den Regen mit 140 km/h gegen die Fenster. Im Wohnzimmer, dem einzigen Raum meiner kleinen Wohnung, wenn man das Klo nicht mitrechnet, lege ich sorgfältig mein Zelt zusammen. Ich bin in trüber Stimmung. Die Vorfreude ist nie geringer, als in den Tagen vor der Abreise. Das ist eine merkwürdige Macke von mir. Eine von vielen, aber diese fällt mir selbst auf. Nicht einmal Pieps Fröhlichkeit kann mich heute aufheitern.
Es ist Mitte September. In Hamburg ist es kühl, als ich am Verladebahnhof in Altona ankomme. Ich trage das hübsche Buff, das Funny mir geschenkt hat. Der anschmiegsame Schlauchschal soll auf dieser Reise noch eine wichtige Rolle spielen, aber das kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.
Nichts hebt die Laune so, wie gegrilltes Fleisch. Eigentlich esse ich keinen Döner, aber das Fleisch aus dem kurdischen Restaurant gegenüber vom Bahnhof Altona ist absolut Premium. Besonders lecker ist die Dönerbox mit Kalbfleisch, Pommes Frites, Reis und Salat. Energisch stiefele ich hinüber auf die andere Straßenseite, um eine Portion für Pieps und mich zu holen.
"Eine Dönerbox bitte. Nur Kalb, Reis und Salat. Keine Pommes."
"Ok, Madame, geht klar."
"Oder doch auch kein Reis, bitte."
"Ok, Madame." *lacht*
"Oder doch auch kein Salat, bitte." *guckt irritiert* "Das kostet aber ein bisschen mehr."
"Das ist ok. Ich möchte nur Kalbfleisch."
"Gar nichts dazu, Madame?"
"Doch, eine von diesen weißen Plastikgabel, bitte." *zeigt auf die Schale mit dem Besteck.*
Zufrieden stehe ich zwischen den Motorrädern an der Zufahrt zum Autozug und mampfe das wunderbare Kalbfleisch in mich hinein. Wenn Döner immer so lecker wäre, würde ich den häufiger essen.
"Wo ist denn Pieps?", fragt mich ein Biker.
"Na hier", antworte ich überrascht.
"Ich bin mit GS und Klapphelm unterwegs, aber ohne Gewürzbord", sagt der sympathische Biker, der sich später als Thomas vorstellt.
Thomas ist mit seiner Frau und einem weiteren GS-Pärchen unterwegs nach Verona. Das mag ich am Reisen mit dem Autozug: Man lernt die nettesten Menschen kennen, ob Motorradfahrer, oder Zivilisten.
Das Schlafzimmer teilen Pieps und ich mit Peter, dessen Honda NC750x im Autozug neben Greeny steht, und mit Gerd und Annette, einem sehr charmanten Pärchen, die mit ihrem Auto auf dem Zug unterwegs nach Elba sind.
Der Autozug nach Verona bietet eine Besonderheit: Es gibt einen klassischen Speisewagen ganz im Stil des alten Orient-Express. Einen wunderaren Plüschkarton mit roten Samtvorhängen, bequem gepolsterten Sitzen und weißer Tischwäsche. Schon bei der Onlinebuchung lassen sich ein Dreigänge Abendessen und das große Schlemmerfrühstück für den nächsten Morgen buchen. Natürlich habe ich am Computer sämtliche Häkchen gesetzt, die sich nur anklicken lassen.
Es ist schon spät, als ich den schmalen Gang hinunter zu meinem Abteil wanke. Ist das der Zug, oder der Rotwein? Spielt keine Rolle, denn hinter dieser Tür wartet mein Bett auf mich. Gute Nacht, Welt. Wir sehen uns in Italien.
Am nächsten Morgen...
Ganz allmählich dringt das Schauklen des Zuges zurück in meinen Kopf. Den einen Moment träume ich es noch und im nächsten höre ich das Rattern und Ächzen des Waggons wieder mit eigenen Ohren. Ich drehe mich auf den Rücken, mache mich ganz lang und strecke die Beine bis es wehtut. Ich bin wach. Thomas im Bett über mir atmet leise in sein Kissen und macht dabei kleine Geräusche. Er träumt.
Sieben Stunden Schlaf der Handelsklasse II, aber doch tausendmal besser, als tagelanger Stress auf der Autobahn. Leise und ein wenig zerknittert schleiche ich aus dem Abteil. Meine drei Mitreisenden schlummern selig weiter.Keine Ahnung, ob frühe Vögel tatsächlich mehr Würmer fangen, aber eines weiß ich sicher: Sie bekommen das menschenwürdige Klo und einen sauberen Waschraum. Zweihundert Durchgänge weiter sieht die Welt schon anders aus. Ganz anders.
Frisch gewaschen und bester Laune schlendere ich in den Speisewagen. Unser Platz ist reserviert. Alle anderen können bloß hoffen, einen Platz zu ergattern. Gnädig winke ich einen unbekannten Biker an unseren Tisch. Er sieht nett aus und ich habe Lust mich zu unterhalten. Pieps dagegen spekuliert bloß auf seine Kirschmarmelade.
Das Frühstück wird gerade aufgetragen, als auf einem Bahnsteig ein Schild BRENNERO an uns vorbeihuscht. Kurz darauf fahren wir in den Tunnel ein. Draußen rasen schwarze Tunnelwände vorbei. Im Waggon gedämpftes Licht, weiße Tischwäsche, Geschirrklappern und leise Unterhaltung. Eine Hommage an den Orient-Express.
Nächster Halt Verona. Quietschend kommt der Zug zum Stehen. "Tutti scendono!", alles aussteigen! Endstation. Türen schlagen, Rollkoffer quietschen, Menschen drängen sich in den Gängen. Ich schnappe mir Pieps, den Tankrucksack, meinen Helm und steige aus.
Eine Stunde später habe ich mich durch den dichten Verkehr in Verona gekämpft und fahre aus der Stadt hinaus in die Berge. Es sind nasskalte fünfzehn Grad und es sieht nach Regen aus. Auf jeden Fall hatte ich mir Italien wärmer vorgestellt.
Wie ein Legostein ist die Wallfahrtskirche Madonna della Corona in die senkrechte Felswand gedrückt. Die Glocken verstummen und der Priester beginnt zu sprechen. Hell und klar schallt sein Gebet in einer merkwürdig getragenen Stimme von den Felswänden zurück.
In diesem Moment kommt ein Bus den schmalen Fußweg herunter. Ein ausgewachsener Bus, nur kürzer. Ich presse mich an die Felswand und lasse ihn vorbei. Der Fahrer lacht freundlich und fährt weiter bis zu einer kleinen Bushaltestelle am Ende des Weges. Dort wendet er und wartet.
Das ist die Gelegenheit, denke ich. Lieber gefahren werden, als den ganzen Berg wieder hochlatschen zu müssen. Wir sind keine Pilger, wir dürfen das, Pieps und ich. Der Bus füllt sich im Nu mit Menschen, die auch keine Pilger sind, und heizt los. Der Weg ist kaum breit genug für das große Fahrzeug, aber der Fahrer hat den Bogen raus. Der Bus hat eine irre Maschine, denn er katapultiert uns mit gewaltigem Schub nach oben. Nur in den Kurven müssen wir kurz zurücksetzen, damit wir rumkommen.
Währenddessen ist es in Spiazzi noch nebliger geworden. Wie ein nasser Lappen liegt der Nebel auf dem Ort. Ich gehe in die nächstgelegene Trattoria. Was ist das eigentlich, eine Trattoria? Gelesen habe ich das Wort schon häufiger, doch eigentlich habe ich keine Ahnung, was das ist.
Eine Trattoria (Betonung auf dem i) ist eine Bezeichnung für eine Gaststättenart. In den kleinen italienischen Speiselokalen werden einfache Speisen zubereitet und angeboten. Die Atmosphäre ist familiär und unterscheidet sich somit von der eines Restaurants.
Quelle: Wikipedia
Ein Kellner hält mich auf halbem Weg zu einem freien Tisch auf. Von zuhause bin ich es gewohnt, mir selbst einen Platz zu suchen, aber hier ist das anders. Mit sauertöpfischer Miene führt er mich an einen Tisch. Den hätte ich auch selber gefunden, aber es ist ok.
Der Kakao ist dickflüssig und extrem süß. Für mich ungenießbar, aber Pieps liebt das Zeug, das eher an heißen Pudding erinnert. Die Lasagne dagegen ist ganz vorzüglich, auch wenn die Portion winzig ist. Genau deshalb gehe ich in Deutschland nie zum Italiener: Da werde ich nicht satt.
Die Erklärung finde ich Monate später auf einer Website über Italien unter dem Titel: Il coperto, oder: Wie man die Speisen verteuern kann, ohne dass der Gast es merkt...
Ganz unvermittelt zeigt der Track auf dem Navi rechts einen steinigen Weg hinunter. Spinnen die bei Garmin, oder habe ich wieder einmal vergessen das Profil auf Reiseenduro zurückzusetzen? Mein handgestricktes Routingprofil Crazy MX-Girl hat mich schon auf der Reise nach Masuren einige Nerven gekostet. Und einen Umfaller.
Manche Straßen sind so schmal, dass ich nach einem Verbotsschild schaue, weil man dort unmöglich legal reinfahren darf, aber im selben Moment fährt ein Auto rein und von vorne kommt ein Bus. Die spinnen, die Italiener.
Ich stelle das Motorrad in der Innenstadt vor einem Supermarkt ab. Vor einem der Eingänge stehen drei Nordafrikaner und betteln. Flüchtlinge. Ich nehme den anderen Eingang. Es fühlt sich nicht gut an, das voll beladene Motorrad allein stehen zu lassen. Ich habe für 2k EUR Fotosachen im Tankrucksack, aber die will ich nicht jedesmal mit reinschleppen. Eiliger als sonst stiefele ich den Gang hinunter zu den Lebensmittel.
Fisch sieht klasse aus, aber das ist mir zu aufwendig. Heute will ich Fleisch braten. Die Auswahl ist trübe. Abgepacktes aus der Großschlachterei. Nicht, was ich erwartet hatte. Ich spreche einen Verkäufer an und frage nach Entrecôte. Er verschwindet und präsentiert mir kurz darauf überschwänglich ein Beefsteak, das schon in der Verpackung zäh wirkt.
Ich bin froh, als ich aus Rovereto raus bin. Städte sind einfach nicht mein Ding. Jetzt möchte ich bald Feierabend machen und mein Zelt aufstellen.
Morgen ist Sonntag und ich lege gleich zu Beginn einen Jokertag ein. Ich muss ausschlafen, mich erholen, lesen und schreiben, vielleicht ein paar Fotos machen, gut essen und Wein trinken. Die letzten Tage im Dienst waren echt beshiccen. Manchmal habe ich das Gefühl, die Welt reißt von der Leine.
Camping Gajole liegt am Lago Corlo, einem Stausee mit hohen Ufern, aber den sehe ich mir morgen in Ruhe an. Jetzt möchte ich unser Lager errichten und für Pieps und mich ein leckeres Abendessen machen.
Jedes Ding hat seinen festen Platz. Das gibt mir Sicherheit und Geborgenheit. Hier drinnen, bei Svenja und Pieps zuhause, ist immer alles in bester Ordnung, egal was draußen ist.
Ich entkorke den Rotwein und schenke den Becher voll: "Auf einen schönen Urlaub." Pieps bewacht die Lammspieße in der Pfanne und ist schon ganz aufgeregt, wie Kinder das im Urlaub immer sind. Erst recht, wenn es noch etwas Besonderes gibt, wie Minischaschliks.
zum nächsten Tag...
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