The Rock of Cashel
Ein heftiger Platzregen geht aufs Zelt nieder und weckt mich damit. Ich strecke mich ausgiebig und genieße noch einen Moment die Wärme im Schlafsack, bevor ich endgültig die Augen aufschlage und die Welt mich wieder hat.
Der Morgen dämmert gerade erst und im frühen Zwielicht entdecke ich eine Herde Nacktschnecken, die sich während der Nacht zwischen Innen- und Außenzelt nach oben geschleimt haben. Mit dem Wetter zusammen sind sie die gelungene Einstimmung für einen Besuch im Waschhaus.Das Beste, was ich über die Waschräume sagen kann, ist, dass ich sie für mich alleine habe, aber das ist auch kein Wunder, weil ich der einzige Gast auf der Farm bin. Im Rekordtempo erledige ich die Basics: Zähneputzen, Gesicht waschen, Wimpern tuschen, fertig. Eher nehme ich eine Dusche in Bate's Motel, als mich hier auszuziehen und in eine der Kabinen zu stellen.
Es ist noch früh, als der Motor der Kawasaki warmläuft und ich die orange Regenkombi mit der Ente auf dem Rücken anziehe. Heute geht es an die Südwestküste Irlands. Dort warten der Ring of Beara, Ring of Kerry und die Dingle Peninsula auf mich, die bekannten Highlights jeder Motorradreise durch Irland. Zuvor aber werde ich einen Abstecher zum Rock of Cashel machen, einer Festung, die als Wahrzeichen Irlands gilt.
Im Regen stehe ich vor der imposanten Mauer und schaue nach oben, aber hinein komme ich nicht. Es ist zu früh, die Burg öffnet erst um neun und solange möchte ich nicht warten. Viel mehr als die bekannten Sehenwürdigkeiten eines Reiselandes interessieren mich seine Menschen. Ich möchte sehen, wie sie leben, wohnen, arbeiten und ich möchte mit ihnen ins Gespräch kommen. Mein Spezialgebiet sind Butcher...
Viele Tankstellen in Irland bieten überraschend guten Kaffee und eine Auswahl leckerer Pasteten an. Ich kaufe einen Becher Kaffee und entscheide mich für ein Steak & Kidney Pie, ein Blätterteigbrötchen, das mit einem Gulasch aus Rindfleisch und Nieren gefüllt ist. Ich frage mich ernsthaft, wie die Britische Küche zu ihrem zweifelhaften Ruf gekommen ist, wenn es hier sogar Nieren zum Frühstück gibt. Ich liebe Nieren.
Eine Spezialität irischer Straßen sind Gullis, die im Lauf der Jahre mit jeder weiteren Asphaltschicht tiefer in der Versenkung verschwinden und formidable Schlaglöcher abgeben. Dafür hat der 6. Gang heute frei, er wird kaum benötigt.
Seit einer Weile ist es trocken und ich ziehe die Regenkombi aus. Dabei entdecke ich einen langen Riss am Bein, den ich im vergangenen Jahr in Schottland schon einmal geflickt habe. Die gezackte Endurofußraste der KLX hat die Stelle wieder aufgerissen. Heute abend werde ich das noch einmal sorgfältig reparieren.
In Dunmanway stelle ich das Motorrad auf der High Street ab und gehe zum ersten Mal in einen der auffälligen, roten SuperValu Märkte, die man hier sehr häufig sieht. Ich bin überrascht, dort sogar einen Butcher Tresen zu finden.
"How you doin'?", wie gehts, fragt der Butcher schon aus einiger Entfernung, als ich nur einen kurzen und betont unbeteiligten Blick auf die Steaks riskiere. Aber ich bin vorsichtig geworden und antworte nur mit einem knappen: "Fine, thanks."
Der Tankwart in Tipperary hatte mich nämlich dasselbe gefragt, worauf ich höflich von meinem Aufenthalt im Krankenhaus erzählt habe, wie dann der Lehrling die zweite OP versaut hat und wie ich schließlich rausgeflogen bin, weil ich dem Oberarzt nicht hübsch genug war. Aber da hatte dieser unhöfliche Patron sich längst weggedreht. Warum fragt er dann überhaupt? Seitdem antworte ich nur noch knapp.
Inzwischen lässt der SuperValu Butcher einen Schwall Worte auf mich los, von denen ich außer 'Motorbike' und 'You' kein einziges verstehe. Nun ist es nicht so, dass ich überhaupt kein Englisch verstehe, nur eben nicht seines.
Pointiert und mit regungslosem Gesichtsausdruck spreche ich betont deutlich: "Excuse me, please, but I cannot understand you. I don't speak english, but I would like to have one rib eye steak, please."
Zur Strafe kaufe ich bei ihm nur ein einziges Steak und erneuere meinen Schwur, den ich letztes Jahr in Schottland geleistet habe: Solltet ihr jemals nach Deutschland kommen und mich etwas fragen, dann werde ich im breitesten Holsteiner Platt antworten "Nee, mien Deern. Töv mo. Dat kann i di oug ni seng". Da könnt ihr soviel Deutsch können wie ihr wollt.
Mit diesem Gedanken der Genugtuung und um von dem einzelnen Entrecote nicht zu ver- hungern, lege ich zusätzlich eine Steakpfanne mit Zwiebeln, einen Cadbury Flake und eine Dose Bier in meinen Einkaufskorb. Fleisch, Bier und Schokolade. Diese Kombination ist unschlagbar.
Ich werde mich in ein Café setzen. Vielleicht komme ich ins Gespräch und erfahre ein wenig aus der Gegend. Es gibt sogar mehr als eines und ich suche mir das kleinste und gemütlichste aus. Es heißt An Chistin, was The Kitchen bedeutet, wie ich gleich erfahren werde.
Ich öffne die Tür und zögere. Die wenigen Tischen sind mit Porzellan und feiner Tischwäsche sorgfältig eingedeckt. Vielleicht eine geschlossene Gesellschaft? Noch ist das Café fast leer. Nur eine Frau in meinem Alter sitzt alleine an einem Tisch und liest die Zeitung.
"What would you have?", nimmt sie die Bestellung auf. Ich ordere meinen üblichen Toast and Coffee und setze mich an den Tisch, auf dem noch ihre Zeitung liegt.
Nach wenigen Minuten ist der Toast fertig und sie setzt sich zu mir. "Where do you come from?", eröffnet sie das Gespräch und schon bald sind wir in eine angeregte Unterhaltung vertieft.
Ich erfahre, dass Mary, oder Maria, wie sie wirklich heißt, vor Jahrzehnten aus Deutschland hier eingewandert ist. Wir sprechen über die Wahlen, die heute abgehalten werden. Anders als bei uns, wird an einem Wochentag gewählt und die Kinder freuen sich, weil die Schulen als Wahllokale gebraucht werden und sie frei haben.
Mary berichtet, dass Irland in einer Rezession stecke, die sogar schlimmer sei, als die der 80er Jahre. Die Jugendlichen fänden keine Arbeit und über die aktuell wieder sinkenden Arbeitslosenzahlen kann sie nur lachen: Das läge allein daran, dass Tausende junger Iren auswandern und in Australien, Kanada und Neuseeland ihr Glück suchten.
Auch die Verbrechensrate sei in den vergangenen 10 Jahren stetig gestiegen. Noch vor 13 Jahren, als Mary nach Dunmanway gezogen ist, sei es üblich gewesen, sein Haus unverschlossen zu lassen. Das sei heute sogar auf dem Lande undenkbar und ich bemerke einen Anflug von Traurigkeit in ihrer Stimme.
Tatsächlich kann man nicht durch Irland fahren, ohne die Anzeichen einer neuen Armut zu bemerken. Leerstehende Geschäfte, abgewohnte Fassaden und Läden, die mehr vom Enthusiasmus ihrer Besitzer, als von ihren Umsätzen am Leben gehalten werden. Menschen, denen man ansieht, dass sie ihr Geld genau einteilen müssen. Irland erinnert mich an ein Apartment in bester Lage, an dem lange nichts mehr gemacht wurde. Es wirkt abgewohnt und vieles ist renovierungsbedürfig.
Marys warmherzige Art macht es zu einem Vergnügen, sich mit ihr zu unterhalten und ich fühle mich wohl in ihrem Café. Wenn ich hier wohnen würde, wäre ich ganz sicher Stammgast im The Kitchen. Ich verabschiede mich herzlich und mache mich auf nach Skibbereen, meinem Tagesziel für heute.
In Skibbereen sehe ich zum ersten Mal seit zwei Tagen einen anderen Motorradfahrer. Er steht mit seiner Triumph Scrambler auf einer Verkehrsinsel mitten auf der High Street. Bei dem dichten Verkehr erscheint auch mir das als sinnvoller Parkplatz und ich fahre die KLX auf den Bordstein.
Wir begrüßen uns und sprechen ein paar Sätze, bevor ich ihn neugierig frage, ob ich mich einmal auf seine Maschine setzen darf. Scrambler sind die Vorläufer der heutigen Enduros und die Triumph sieht total cool aus. Ich liebe dieses Motorrad schon seit Jahren.
Erwartungsvoll setze ich mich auf die schwere Maschine und versuche ein Gefühl für sie zu bekommen. Sie erscheint mir zu tief und ist mit über 230 Kilo auch viel zu schwer und unhandlich. Dieses Gewicht bringt meine KLX auf die Waage, wenn ich mit Urlaubsgepäck, Campingausrüstung und Pieps oben drauf sitze. Trotzdem freue ich mich über das Probesitzen, denn jetzt kann ich dieses Modell von meiner Wunschliste streichen.
Der Fahrer ist ein älterer Herr von vielleicht Mitte 50, aber ich finde es ja toll, wenn Leute in dem Alter noch Motorrad fahren. Er möchte wissen, wie ich die irischen Straßen finde. Ich zögere kurz, aber dann sage ich ganz ehrlich, wie grässlich ich viele Straßen in Irland finde. Ich berichte von üblen Potholes, schimpfe über fehlende Signposts und kann spüren, wie unsere aufkeimende Freundschaft jäh verdorrt.
Inwischen kommen zwei weitere Motorradfahrer auf uns zu. Einer zeigt auf mich und ruft schon von weitem: "You were on the ferry", und ich erkenne ihn wieder. Er war mit seiner CBF600 erst in letzter Minute aufs Schiff gerollt und bei der Ankunft in Rosslare habe ich ihm geholfen, seine Maschine loszumachen, diesmal allerdings ohne mein Messer. Er wusste nur nicht, wie man die Gurte öffnet.
Wir sprechen ein paar Sätze und ich erzähle, dass ich den Campingplatz in Skibbereen suche. "Brrrr", sagt er mit einem Blick zum Himmel und schüttelt sich, kann mir aber den Weg genau beschreiben.
In einem sehr schönen Laden kaufe ich mir eine Ausgabe von The Hunger Games, das in Deutschland gerade als Die Tribute von Panem Furore macht. Ich bin sehr gespannt auf das Buch. In vielen Blogs wurde es postitiv besprochen und inzwischen gibt es auch den Kinofilm dazu.
Jetzt habe ich alles an Bord: Fleisch, Bier, Schokolade und ein frisches Buch. Der Campingplatz in Skibbereen liegt leider nur 400 m vom Ortskern direkt an einer Durchfahrtstraße. Ich halte nicht einmal an, sondern fahre daran vorbei weiter auf die Küste zu, wo ich auf der Karte einen zweiten Platz eingezeichnet habe. Leider finde ich ihn nicht, oder es gibt ihn nicht mehr, so dass ich nach 30 km doch nach Skibbereen zu The Hideaway Camping zurückkehre.
Für Irland ist es wirklich sinnvoll, seine Campingplätze zumindest grob vorzuplanen, denn es gibt kaum mehr als 100 Plätze im ganzen Land, von denen einige keine Zeltcamper aufnehmen. B&B hingegen findet man selbst in der Pampa an jeder zweiten Milchkanne.
The Hideaway sieht auf den ersten Blick ziemlich ätzend aus, weil vorne nur Schotterplätze sind, auf denen die weiße Ware, Wohnwagen und Wohnmobile, steht, aber die Zeltplätze liegen im hinteren Bereich und sind sehr liebevoll angelegt, toller Rasen und Hecken als Sicht- und Windschutz. Die Waschhäuser sind sogar ganz ausgezeichnet und das nicht nur im Vergleich zu Powers-the-Pot. Auf den zweiten Blick gefällt mir The Hideaway richtig gut.
"I will be back soon. Helen", steht auf einem Zettel an der Tür zur Rezeption. Ich warte einen Moment, entscheide mich dann aber, schon einmal das Zelt aufzustellen und später noch einmal nach Helen zu sehen.
Sogar das Abwaschen hinterher macht mir Freude, wenn ich mit meiner kleinen Laborflasche voll Geschirrspülmittel in die Camper Kitchen gehe und die wenigen Teile sorgfältig reinige, abtrockne und wieder im Tankrucksack verstaue.
- Motorrad gefahren? Check.
- Schöne Landschaft gesehen? Check.
- Mich nett unterhalten? Check.
- Einen guten Campingplatz gefunden? Check.
- Gutes Essen gebraten? Check.
- Ein gutes Buch und einen warmen Schlafsack? Double Check!
Gute Nacht, Welt...
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