Inhaltsverzeichnis Frankreich 2023 Tag 1 Kiel - Bad Pyrmont Tag 2 Bad Pyrmont - Dausenau Tag 3 Dausenau - Wingen-s/Moder Tag 4 Wingen - Camp Hautoreille Tag 5 Jokertag im Camp Hautoreille Tag 6 Parc Morvan, Camp Le Paroy Tage 7/8 Jokertage im Camp Tag 9 In die Auvergne Tage 10/11 Auvergne-Tarnschlucht Tag 12 Zur Quelle des Tarn Tag 13 Gorges du Tarn bis Ambialet Tag 14 Tarn bis Moissac Tag 15 Moissac - Périgord Tag 16 Jumilhac-le-Grand Tag 17 Am Canal de Berry Tag 18 Nevers - Accolay Tag 19 Tonnerre - Froncles Tag 20-23 Heimreise
Das zweite Drittel
Pieps und ich starten früh aus Camp Schellental.
Es ist Montagmorgen, heute liegt das zweite Drittel durch Deutschland vor uns, über 300 km Klein-Klein auf der Landstraße durch Nordrhein-Westfalen und Hessen. Mit dem Autoreisezug würden wir jetzt gerade in Lörrach einlaufen und auf das Entladen warten.
Der Titanauspuff der Honda trompetet erbarmungslos über die Felder. Ich hatte die Africa Single gleich mit dem Arrow bestellt, nicht weil ich scharf auf Lärm war, sondern auf die zweieinhalb Kilo weniger Gewicht. Er hat eine ABE und ist legal zu fahren, aber würde ich den wieder kaufen?
Nein, die Zeiten sind nicht mehr danach.
Auf dem Schild da vorne an der Brücke steht Edersee. Die berühmte Motorradstrecke um die Edertalsperre bin ich mal mit Greeny gefahren. An dem Tag war so ein Betrieb, dass es teilweise nur Stop-and-go voran ging, doch heute ist außer uns nur der weiße Kastenwagen einer örtlichen Klempnerei unterwegs.
Überhaupt ist weit weniger Verkehr auf unserer Strecke, als ich mir vorher ausgemalt hatte. Deutschlands Straßenverkehr ist für mich der Endgegner, dicht, schnell und rücksichtslos, immer einer hinter dir, der dich überholen will, aber so war es bisher gar nicht. Es geht unbehelligt und flüssig voran, bis ich den Fehler mache, in Biedenkopf von der B62 abzufahren, um eine Pause zu machen. Biedenkopf, Biedenkopf? Irgendwas klingelt da im Hinterkopf. Vielleicht fällt es mir wieder ein.
Während ich in einem Labyrinth aus engen Gassen, Einbahnstraßen und Umleitungen durch Biedenkopf irre, ist die Erinnerung schlagartig zurück: Hier habe ich mich 2010 mit Greeny schon einmal verlaufen, aber ein Frühstück haben wir damals trotzdem nicht gefunden.
Auch heute ist das Beste, was ich für uns ergattern kann, ein Notfrühstück vom Vorkassenbäcker bei Kaufland. Wir sitzen neben einer türkischen Großfamilie aus mindestens drei Generationen und essen ein Brötchen, während ich mich insgeheim über den Zeitverlust ärgere. Für ein solches Frühstück vom Vorkassenbäcker hat das zuviel Zeit gekostet.
Mit dem letzten Bissen noch kauend fahre ich zurück auf die Bundestraße und drehe die Gänge unnötig aus, in dem vergeblichen Versuch, die verlorene Zeit wieder reinzuholen.
In Limburg sehe ich zum ersten Mal auf dieser Reise die Lahn. An deren Ufer wollen wir heute zelten. Die Aussicht ist zugebaut von teuren Häusern auf noch teureren Grundstücken. An einer Lücke lenke ich die Enduro über den Bordstein auf den Gehsteig. Hübsch ist es hier.
Gerade tuckert ein Ausflugsdampfer der Lahntalschiffahrt vorbei. Mit uns die Lahn erleben, steht auf der Seite. Von den Balkonen der Häuser am Ufer muss man einen tollen Blick haben. Für einen Moment stelle ich mir vor, Pieps und ich wohnten hier, ganz Upper Class. Ab und zu würde ich hoheitsvoll winken, wenn ein Schiffe vorüberfährt und jedesmal hätte ich dabei ein Glas Champagner in der Hand.
Nein, denke ich, besser als wir, mitten in Kiel kann man kaum leben. Bei uns wohnen Schiffe im Hafen, da sind schon die Rettungsboote so groß wie eine Lahnschifffahrt.
Ich trete energisch den Gang ins Getriebe und lasse die Kupplung kommen. Genug besichtigt, wir müssen weiter.
Durch die lange Tagesetappe fühle ich mich seltsam getrieben und halte kaum an, um Fotos zu machen, aber für die malerische Burg mit den gelb abgesetzten Türmen muss ich stoppen. Sie erscheint mir wie ein wahres Märchenschloss. Wikipedia meint dazu trocken: „Kloster Arnstein war eine Prämonstratenserabtei an der Lahn, in der Gemarkung Seelbach."
Ja, so hab ich auch geguckt, als ich das gelesen habe. Es muss ein besonderer Menschenschlag sein, der für Wiki schreibt. Hochintelligent und blitzgescheit, aber ob die sich allein die Schuhe zubinden können? Prämonstratenserabtei, wer denkt sich sowas aus? Leute, die Schuhe mit Klettverschluss tragen, vermutlich.
Dort drüben, die mittelalterlichen Häuser am Fluss, das ist Dausenau. Da wollen wir heute zelten. Camp Dausenau liegt malerisch direkt am Ufer der Lahn und bietet eine Wiese mit allerbestem Grün. Bis auf ein anderes Zelt ist die große Wiese leer.
Ich stelle das Motorrad neben einer Picknickbank ab und fange an, das Lager aufzubauen.
Wie oft habe ich das schon gemacht? Das Motorrad abstellen, den Zeltsack abschnallen und seinen Inhalt ins Gras kippen, das Zelt ausbreiten, die Stangen einziehen, Heringe ins Gras pieken, die Isomatte ausrollen und warten, dass sie sich mit Luft füllt, während ich den Schlafsack zum Lüften ausschüttele und ins Gras lege?
Das ist jetzt unser Zuhause bis ich es wieder abbaue.
Alles ist so vertraut. Ich mag das, wenn Dinge so sind, wie sie schon immer waren. Vermutlich bin ich auch deshalb noch heute auf einer 250er Enduro mit Zelt und Schlafsack unterwegs, so wie auf dem alten Schwarzweißfoto von 1982.
Die Kawasaki KL250 ist Greenys UrUrOma und das Zelt ist von Karstadt. Damit hab ich schon damals auf Mandø gezeltet, auch wenn mein Kumpel Dixon und ich bei der Überfahrt mit der Kawa auf dem Mandø Ebbevej um ein Haar abgesoffen wären. Ablaufendes Wasser, auflaufendes Wasser, wo ist der Unterschied?
Ein Unterschied war das Essen: Standardnahrung auf Motorradtouren waren die dicken Bratwürste von ALDI, auf einen spitzen Stock gespießt und überm Feuer verkohlt. Inzwischen haben wir einen Kocher und eine Bratpfanne. Luxus pur.
Heute gibt es Nackensteaks in dieser schmierigen, grünen Marinade.
Mit der angespannten Konzentration eines Bombenentschärfers bugsiere ich das Fleisch aus der Tüte in die Bratpfanne, um ja nichts einzuschmieren. Kurz darauf brutzeln die Steaks im heißen Fett und Pieps und ich sehen andächtig schweigend zu.
Welch ein schöner Abend an der Lahn das ist.
Der ersten beiden Fahrtage sind geschafft, 650 km auf Autobahnen und Landstraßen. Ich bin völlig erledigt, mehr als ich sollte, aber ich schiebe es auf die Winterpause und die beiden langen Tagesetappen.
Mit dem Autozug wären wir jetzt nach insgesamt nur 330 km Landstraße schon im Camp Hautoreille, dafür aber etwa 1.000 € ärmer. So werden wir dort erst übermorgen ankommen, aber noch ist es zu früh, um ein Resümee zu ziehen, Autozug vs Landstraße.
Das Fleisch ist mittlerweile fertig:
„Ihr müsst nun leider nach Hause gehen. Wir essen jetzt.
Bis morgen, ihr Lieben.“ *
(*Der Almann, wenns Essen gibt und noch Besuch da ist.)