Norwegen 2022
Heute starten Pieps und ich zu einer Nordic Adventure Camping Tour nach Norwegen. In zwei Wochen wollen wir vor der Mautschranke am Beginn des Tindevegens stehen. Auf dem Bild der Webcam war der Schneepflug gerade erst durch. Bis wir da sind, ist vermutlich alles wieder grün. Oder ist es?
„Guten Tag, Frau Kühnke“, begrüßt mich eine patente junge Frau am Check-In Schalter. Woher weiß die, wie ich heiße, denke ich bei mir?
„Ich konnte ihr Kennzeichen sehen und hab' die Buchungsdaten schon aufgerufen. Sie sind auf Deck 9 untergebracht, Kabine 9443. Ich muss bitte nur einmal Ihren Personalausweis sehen.“
„Spur 5, bitte. Ganz nach vorne. Sie sind die Erste.“ Mit leicht entrücktem Lächeln starte ich den Motor und tuckere auf Spur 5 bis an die Haltelinie. Ich bin glücklich, dabei bin ich Norwegen noch kein Stück näher als vor fünf Minuten. Das wird eine tolle Reise. Ich habe 16 sagenhafte Gravel Roads aufgepürt, ungefähr eine für jeden Reisetag.
Anschließend geht es oft weiter zum Alten Markt. Gibt es denn dort etwas Besonderes zu sehen? Nein, dort gibt es Bier zu trinken.
Die kulturellen Ansprüche unserer Gäste aus dem Norden sind leicht zu erfüllen. Norweger, Schweden und Dänen sind nette Leute. Wir Kieler mögen sie, schon deshalb, weil wir ihre Bedürfnisse so gut verstehen.
Ich lasse die Kupplung kommen und denke im letzten Moment daran, die GoPro zu starten. Über die große Heckklappe rollen die Motorräder im Pulk aufs Schiff, wir vorne weg. Eine zweite Rampe führt gleich steil nach oben. Erster Gang, Gas, bloß nicht abwürgen. Das Deck ist so niedrig, dass ich den Kopf einziehen muss. Nur die Harley Fahrer pötteln aufrecht sitzend durchs Schiff.
Ich hänge den fast nagelneuen Gurt auf beiden Seiten der Enduro im Deck ein und ziehe ihn mit der Ratsche fest. Die Handbremse fixiere ich mit einem Weckgummi, mein neuestes extra Sicherheitsfeature.
Die Color Magic ist die größte Autofähre der Welt. Wer sich nicht merkt, auf welchem Deck seine Maschine steht und wie er durch das Labyrinth von Gängen, Treppen und Schotts dort hinkommt, hat verloren. Durch Suchen allein findet man sein Motorrad nicht wieder. Ich weiß, wovon ich spreche. Mit Peinlichkeit denke ich an die Fähre nach Litauen, als ich in Klaipeda mit hochrotem Kopf aber das ist eine andere Geschichte.
Der Blick aus unserem Kabinenfenster geht hinunter auf die Shopping Mall. Genau gegenüber liegt Mama Bella, die Pizzeria der Color Magic. Ich ziehe rasch den Vorhang zu, bevor Pieps aufmerksam wird. Kinder kapieren Sätze nicht, wonach es „nachher gleich Buffet gibt“ und wir deshalb jetzt keine Pizza essen.
Es gibt Bier vom Fass im 0,6 l Plastikbecher. Ich liebe das Gefühl des lappigen, kalten Bechers in der Hand. Nichts steht so sehr für Urlaub, wie ein überteuertes Auslaufbier an Deck der Color Magic. Ob es schmeckt? Keine Ahnung, es ist so eiskalt, dass ich kaum hinschmecken kann.
Mit knapp 10 Knoten schieben wir uns an der Stauerei Sartori & Berger vorbei, am Revier der Wasserschutzpolizei, den Schleusen zum Nord-Ostsee-Kanal, weiter an Kiel Leuchtturm hinaus auf die offene See.
Während Kiel allmählich im Rückspiegel verschwindet, wandere ich mit Pieps drei Decks tiefer zum Grand Buffet Restaurant. Ein Langschürzenober begleitet uns an den Tisch. Überall cremefarbene Tischwäsche, viele Gläser, Porzellan und Besteck. Ein Ambiente wie beim Opernball.
Das Angebot erschlägt mich, aber Pieps und ich haben schon vor Wochen einen Plan gemacht: Wir konzentrieren uns heute nur auf Lammfleisch. Am Buffet steht ein Hochmützenkoch in makellosem weißen Anzug und legt vor. Ich bin hingerissen und lasse uns eine Auswahl von Lammkoteletts und Bratenstücken auftun. Auf dem Rückweg zu unserem Tisch gebe ich unauffällig zwei Schweinebäckchen und einen Löffel Couscous dazu. Kombinieren kann ich!
Am Flügel sitzt ein Pianist im dunklen Anzug und spielt sanfte Lounge Musik. Dazu gedämpftes Licht und ein Klangteppich aus leiser Unterhaltung, Gläsern und Porzellan. Als die ersten Töne von Strangers in the Night erklingen, so wunderbar sanft und weich, bin ich endgültig hingerissen und verdrücke eine Träne. Meine Güte, bin ich weich geworden, aber vielleicht ist es auch nur der Rotwein.
Auf dem Weg nach Hause komme ich bei den Geldautomaten vorbei und ziehe 4.000 NOK aus der Wand. Das sind etwa 400 €. Angeblich braucht man in Norwegen kein Bargeld mehr, aber sicher ist sicher. Ich möchte nicht irgendwo stranden nur mit einer Plastikkarte in der Hand. Ob wir das Geld brauchen werden, oder ob man tatsächlich drei Wochen lang allein mit Plastikgeld durch Norwegen reisen kann?
Wie zu jeder Reise, habe ich auch diesmal meine Befürchtungen, Ängste und Erwartungen niedergeschrieben. Ich befürchte, dass:
- es in Norwegen immer nur regnet und shice Wetter ist.
- dass die geplanten Gravel Roads vom Winter noch gesperrt sind.
- dass die Norweger distanziert, unpersönlich und wenig zugewandt sind.
- dass Norwegen inzwischen derart von Wohnmobilen überflutet ist, dass
ich von einem weißen Dach zum nächsten bis Geiranger hüpfen könnte.
Am Ende jeder Reise schreibe ich ein Fazit, was davon sich bewahrheitet hat und was nicht. Ich bin gespannt, was da stehen wird. Eines mache ich auf dieser Reise anders. Zum ersten Mal habe ich keinen Fotoapparat dabei. Stattdessen filme ich. Sämtliche Aufnahmen sind ScreenShots aus dem Video. Ob die Qualität ausreichen wird? Diesmal möchte ich einen Reisebericht und einen YouTube Film machen. Keine Ahnung, ob ich das hinbekomme, oder ob es mich heillos überfordert und den Spaß am Urlaub trübt. In ein paar Wochen wissen wir es.
„Gute Nacht, Welt. Schlaf du auch gut. Bis morgen...“
zum nächsten Tag...
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