Lemmy, Zünder und die Jungs
Heute beginnt meine Herbstreise in die Alpen. Die letzte große Tour bevor es in die Winterpause geht. Der Autozug nach Wien fährt heute Abend in Hamburg ab, aber das Warten geht mir auf die Nerven. Lieber stundenlang am Bahnhof herumhängen, als noch eine Minute länger durch meine Bude zu tigern und rastlos auf die Uhr zu glotzen. Es reicht, ich fahre los.
Etwas später fahre ich an Springhirsch vorbei. Hier gab es früher einen Suzihändler, wo ich meine DR500 gekauft habe. Bei einem Motorradtreffen habe ich dort den Stuntman Albert Denk erlebt.
Der Event war groß angekündigt: Auf einer Motocross Maschine sollte Albert über ein Dutzend Autos springen. Mitten im Wald, kaum Anlauf, fast kein Auslauf, Bäume und Zuschauer unmittelbar an der Strecke. Absoluter Irrsinn ohne Platz für den kleinsten Fehler.
Albert fuhr eine giftgrüne Kawasaki KX500. Eine 2-Takt Motocross Maschine, die selbst für heutige Begriffe völlig übermotorisiert war: 65 PS bei 100 Kilo. Ein Monster, das in Wettbewerben als nahezu unfahrbar galt, aber nur damit gab es eine Chance, auf den wenigen Metern genug Anlauf zu kriegen, um über die lange Blechkolonne alter Autos zu fliegen.
Ich stand mit meiner kleinen Motorradgang direkt neben der Strecke. Lemmy, Zünder und die Jungs. Alle auf 250er Enduros, ich schon damals auf einer grünen KL250, nur Zünder auf seiner KDX175 Zweitakt, die ihm seinen Spitznamen beschert hat, weil die Karre so oft Fehlzündungen hatte.
Albert gibt Gas und mir bleibt fast das Herz stehen, als sich die groben Stollen in den Waldboden fressen und seine KX500 mit infernalischem Kreischen, in einer Fontäne aus Erde, Dreck und Tannennadeln auf die steile Rampe zuschießt.
Schafft er das? Das kann er nicht schaffen. Der Anlauf ist viel zu kurz. Zum Bremsen keine Chance mehr, der Point of no Return längst überschritten. Albert hebt ab, fliegt, und landet um Haaresbreite hinter der letzten Karre, ein alter Opel Kadett B, und bremst die KX so brutal zusammen, dass er gerade eben noch vor den Zuschauern zum Stehen kommt.
Lemmy, Zünder und ich haben geschrien und gejubelt und später habe ich mir eine Autogrammkarte meines Idols geholt. Eine tolle Show war das, ein wunderbarer Tag. Ich war so jung, so voller Energie und Tatendrang, all das Böse im Leben noch Lichtjahre entfernt.
Inzwischen sind 31 Jahre vergangen. Albert Denk ist heute über 60, aber er gilt noch immer als einer der besten Motorrad Stuntmen Deutschlands und gelegentlich fliegt er noch über geparkte Fahrzeuge und durch Feuerwände.
Und ich? Ich werde in ein paar Tagen 54 und bin noch immer auf einer 1-Zylinder Enduro mit Zelt und Schlafsack in Europa unterwegs. Ein wahres One-Trick Pony.
Ein paar Kilometer weiter führt die B4 durch Quickborn und allmählich in den Hamburger Speckgürtel hinein. Der Verkehr wird dichter und ich muss mich wieder mehr aufs Fahren konzentrieren. Ich freue mich so sehr auf diese Reise, auf die Alpen, auf Österreich und das gute Essen.
Die Anreise unternehmen Pieps und ich standesgemäß mit dem Autozug der Österreichischen Bundesbahn. Die ÖBB fährt zu sehr günstigen Preisen von Hamburg nach Wien. Für Greeny, Pieps und mich habe ich gerade einmal 154 € bezahlt.
Als ich am Terminal der Autoverladung in der Präsident-Krahn-Straße ankomme, bin ich Stunden zu früh, aber das Warten macht mir nichts aus, denn jetzt bin ich unterwegs. Ein Bahnarbeiter in einer orangen Jacke hängt die aktuellen Schilder für die Wartespuren aus: Lörrach Spur 1, Wien 2+3, München 4+5.
Als der Arbeiter meinen suchenden Blick bemerkt, gibt er mir den Rat, mit dem Motorrad schon bis an den Bahnsteig heranzufahren. Einchecken kann ich später zu Fuß und muss nicht ewig in der Spur warten. Danke für den Tipp.
Von Hamburg-Altona fährt die Deutsche Bahn nach Lörrach und München, die ÖBB nach Wien. Ich hoffe so sehr, dass der Autozug in Hamburg erhalten bleibt. Bequemer komme ich mit dem Motorrad nicht in den Süden und gerade von Wien aus liegen die interessantesten Länder und Reiseziele fast vor der Abteiltür.
Einen wichtigen Unterschied zwischen den Autozügen der DB und ÖBB gibt es: Während die Deutsche Bahn das Liegewagenabteil mit maximal 5 Leuten bucht, können bei der ÖBB bis zu 6 Reisende im Abteil liegen. Das wären 6 Menschen auf 4 qm.
Inzwischen steht ein knappes Dutzend Motorräder hinter Greeny. Jeder hat einen blauen Zettel bekommen, den er vorne ankleben soll, damit die Bahnarbeiter sie auf den richtigen Autozug setzen. Mehr als die Hälfte will nach München, die Anderen verteilen sich auf Lörrach und Wien.
Ich staune einmal mehr, wie einige Maschinen beladen sind. Eine Gold Wing mit Koffersystem und vier(!) Gepäckrollen. Das ist keine Reise, das ist ein Umzug. Das kann nur Unsicherheit sein, was braucht man und was nicht? Dabei hat er, im Gegensatz zu mir, vielleicht nicht mal ein Abendkleid an Bord.
Von einer Sekunde auf die nächste kommt Bewegung in die Kolonne. Die Verladung beginnt. Ich habe Glück, Wien wird zuerst abgefertigt.
Ein Bahnarbeiter hält die Passanten mit einer Handbewegung auf und ich fahre mit dem Motorrad quer durch den Bahnhof Altona. Vorbei an Presse+Buch, weiter zu Western Union und biege schließlich in Höhe der Bäckereikette Le Crobag rechts auf Bahnsteig 10 ab.
Im Liegen, die Beine waagerecht nach hinten gestreckt, den Bauch auf dem Tank, fahre ich langsam durch das Unterdeck des Autozugs, bis ich hinter einem Alfa Romeo mit Nummernschild aus Österreich zum Stehen komme. Ein Ladearbeiter macht sich sogleich daran, die Enduro zu verzurren.
Ich habe keine Lust, das ganze Gepäck abzuräumen und ins Abteil zu schleppen und frage den Festmacher, ob ich es nicht einfach drauflassen kann. Er prüft die Rock Straps, mit denen die Gepäckrolle verzurrt ist und hat keine Einwände: "Das hält. Außer, der Lademeister sagt was anderes", sichert er sich ab.
Wir sind alle erstaunlich ruhig und abgeklärt, niemand ist aufgeregt, nicht einmal ich. Früher war das völlig anders: Ich war völlig aufgekratzt, albern und bin rumgehüpft wie ein Flummi.
Ist das ein Zeichen für Routine, oder für etwas Anderes? Mache ich das alles nur noch, weil es die einzige Reiseform ist, die ich gut kann? Weil ich nichts anderes gelernt habe, als mit Motorrad und Zelt unterwegs zu sein?
Endlich dürfen wir an Bord. Ich steige in den Waggon mit der Nummer 273 und suche mein Abteil. Da! Das ist es, unten links, die 064, das ist mein Bett. Ich schiebe den Tankrucksack unters Bett, verstaue den Helm auf der Ablage und ziehe mich in Windeseile um.
Ich decke auf der Fensterkonsole Käse & Wein. Der Finnlapi, ein Ziegenkäse nach finnischen Rezept, schmeckt wunderbar mild zu dem Cabernet Syrah. In dieser Hinsicht hat sich mein Geschmack zu damals sehr verändert: Früher wäre es Dosenbier gewesen, oder eine Flasche Pennerglück, 2l zu 1,99 DM. Nun, wer sagt, dass ich nicht entwicklungsfähig bin?
Die Studentinnen haben sich in die oberen Betten unters Dach verzogen, aber der Radwanderer sitzt mir gegenüber und ich lade ihn ein zu Käse und Wein. Er ist mir sehr sympathisch und erzählt bereitwillig von einer Fahrradtour durchs Baltikum, die er im vergangenen Jahr gemacht hat.
Inzwischen ist es spät geworden. Der Wein ist längst alle, wir liegen in den Betten und schlafen. Plötzlich geht die Tür auf und der Schaffner steht in der Tür. Ein Österreicher.
"Sie müssns die miedleren Bättn wieder runterklappen. Da steigns heit Nocht no 2 dazu."
"Sie wollen uns veräppeln, oder?!", frage ich mit zickigem Unterton.
"No." Sprachs und verschwand.
Ich bin gerade wieder eingeschlafen, als die Abteiltür erneut aufgeht. Zwei Jungs stehen etwas verlegen draußen im Gang und wünschen Guten Abend. Beide Anfang 20, noch so jung und süß. Sie sind mit ihren Fahrrädern auf Europareise und jeder hat 4(!) Ortlieb Taschen, die im Abteil verstaut werden müssen.
Es dauert eine Weile, bis alles Gepäck verstaut ist und jeder seinen Platz gefunden hat. Ich liege flach auf meinem Bett, das mittlere Bett nur Zentimeter vor meiner Nasenspitze. Jetzt sind wir zu sechst, mit Pieps sechseinhalb. Ich hoffe, das war die letzte Unterbrechung heute Nacht, denn in wenigen Stunden landen wir in Wien...
zum nächsten Tag...
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