Im Dreiländereck
Die Belgier aus dem Camper gegenüber rumoren an ihrem Fiat Ducato herum. Klappen schlagen, laute Unterhaltung, allgemeine Commotion. Welch ein Krach, dabei habe ich gerade so schön geschlafen. Wütend öffne ich das Zelt und stecke den Kopf hinaus: "Iss' da bald ma' Ruhe da drüben?!"
Den passenden Tonfall hab ich in Eutin gelernt, wenn die 3. Hundertschaft links um, rechts um machen sollte, oder um die Sicherungsgruppe des Wasserwerfers zu dirigieren.Wie damals, vor mehr als 30 Jahren, funktioniert eine klare Ansprache auch heute noch: Es wird schlagartig still. Ich schaue auf mein Telefon: Schon 21 Uhr. Die spinnen, die Belgier.
Auf der Wiese findet Pieps ein nagelneues Schweizer Taschenmesser. In den Griff ist ein Name eingraviert: Elijah. Das gehört sicher einem der Schulkinder aus der Jugendgruppe, die unten am Fluss ihr Lager aufgeschlagen hat.
"Was man findet, da'f man behaltn, näh?!" freut sich Pieps.
Nach einem kurzen Vortrag über die Tücken des Zivilrechts machen wir einen Umweg ins Jugendcamp, wo einer der Pauker bereits wach ist und uns erwartungsvoll entgegensieht.
"Oh, danke. Elijah hat das schon gesucht. Seine Mutter hat ihm das extra für die Klassenfahrt gekauft. Da wird er sich freuen. Danke schön."
Jetzt, da alles erledigt ist, mache ich mich daran, das Zelt abzubauen. Die Außenseite ist nass und innen perlt das Kondenswasser. So gut es geht, rolle ich das nasse Bündel zusammen und stopfe es in den Packsack.
Wie gut, dass ich den original Zeltbeutel in Rente geschickt habe. Stattdessen habe ich diesen viel zu großen Ortlieb Beutel, in den das Zelt mühelos hineinpasst, selbst wenn es lausig zusammengelegt ist und mir dabei der Regen in den Nacken prasselt. Wer das je mit dem original Beutel versucht hat, weiß was ich meine.
Ich starte den Motor der Enduro. Die Maschine läuft ganz leise und das Auspuffgeräusch ist so stark gedämpft, dass sich niemand gestört fühlen dürfte. Das war schon oft sehr hilfreich, wenn ich morgens früh gestartet bin, oder auf Wegen unterwegs war, auf denen ein Motorrad streng genommen nichts zu suchen hatte.
Leise lasse ich das Motorrad den Hang abrollen hinunter zur Rezeption. Gleich daneben steht ein Bäckerwagen. Die Klappe ist bereits offen und darin wartet ein Mann auf die erste Kundschaft des Morgens.
Klasse, denke ich, noch keine 200 Meter gefahren und schon gibts Frühstück.
Ich stelle den Motor ab und parke die Kawasaki davor im Gras. Die Rezeption ist schon besetzt und ich schaue kurz hinein, um mich zu verabschieden. Die Frau, die das Camp leitet, ist sehr sympathisch. Mit ihr habe ich mich gestern prima unterhalten.
Ich schwärme davon, wie gut es mir hier gefallen hat und das ich noch frühstücken werde, bevor ich losfahre.
"Das Mofa kann solange hier stehenbleiben," sagt sie freundlich.
Unsere aufkeimende Freunschaft bekommt jäh einen Knacks. Ich konnte die Else von Anfang an nicht leiden. In dürren Worten verabschiede ich mich und stiefele hinüber zum Bäcker.
"Kaffee hast du nicht, oder?"
"Doch."
"Dann möchte ich eine Tasse Kaffee und ein Mohnbrötchen."
Der Schweizer nimmt ein Kaffeepad aus dem Regal, legt es in einen dieser kleinen Kaffeeautomaten und drückt auf den Startknopf. Unter heiserem Röcheln beginnt die Maschine zu arbeiten und pumpt den fertigen Kaffee in einen winzigen Bechereinsatz aus Plastik.
Ich stehe in der kalten Morgensonne und schlürfe den heißen Kaffee. Das Brötchen ist ganz frisch und schmeckt intensiv nach Mohn.
Wir kommen auf die Preise zu sprechen und ich deute zart an, dass für uns Deutsche der Urlaub in der Schweiz extrem teurer ist. Nicht einmal in Norwegen kostet es so viel.
Er nickt: "Viele der langjährigen Gäste aus Deutschland sind fortgeblieben", stimmt er mit Bedauern zu. Die Schweizer sind selbst nicht glücklich über die Preisentwicklung. Sie schadet dem Tourismus. Wie um mich dafür zu entschuldigen, bestelle ich noch einen Kaffee und ein Brötchen.
Inzwischen ist der Campingplatz erwacht und die ersten Camper kommen in Jogginganzügen an den Wagen. Ich denke unwillkürlich an Karl Lagerfeld, der dieselbe Schule besucht hat wie ich: "Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren."
Hier auf dem Campingplatz mag das nicht gelten, aber ich muss dennoch schmunzeln und trinke den letzten Schluck Kaffee mit einem Lächeln.
"Was bin ich schuldig?"
"Neun Euro."
In der Schweiz braucht man als Gast entweder Geld, oder Humor. Mit stoischer Mine ziehe ich einen 10 EUR Schein aus der Geldklammer, bezahle und sage auf Wiedersehen.
Ein schöner Platz ist das, vielleicht hätte ich noch einen Tag länger bleiben sollen, denke ich, als ich die Kawasaki auf die Straße ins Tal lenke.
Unter der Motorradjacke habe ich alle meine Zwiebelschichten angelegt und auf der Haut trage ich den Pulli aus Merinowolle, den ich für die Reise zum Nordkapp gekauft habe.
Noch weiß ich nicht, dass ich das Icebreaker Shirt in wenigen Stunden verfluchen werde. Wolle kratzt auf der Haut wenn man schwitzt, aber ans Schwitzen ist jetzt noch nicht zu denken. Es sind 4° C.
Welch eine tolle Bergstrecke. Obwohl ich sie gestern erst gefahren bin, erscheint sie mir heute wieder völlig neu. Das kommt durch die umgekehrte Perspektvie, jetzt entdecke ich all die Motive, die ich gestern nur im Rückspiegel gesehen habe.
Endlos zieht sich die Straße dahin. 50 in den Ortschaften, 70 auf den Geraden dazwischen und immer wieder Gewerbegebiete, Autos, Ampeln, Langeweile.
In Turtmann halte ich vor einer Bank und ziehe 80 Franken aus dem Geldautomaten. Ich bin dankbar für die kleine Abwechslung. Noch 60 km bis Martigny, der Hauptort der Gegend. Dort gibt es einen großen Supermarkt, wo ich für den Abend einkaufen will.
Hinter Turtmann geht die Strecke so eintönig weiter wie zuvor. Dort vorne wartet bereits das nächste Ortsschild: Uvrier. Sorgsam achte ich darauf, nicht mit mehr als 50 in den Ort einzufahren. Auf der rechten Seite ein riesiger Supermarkt. COOP steht an der Fassade, allerdings in Orange und nicht in Blau.
Auch wenn der Einkauf heute für Martigny gebucht ist, werde ich einmal von meinem Plan abweichen und hier einkaufen gehen. Ich muss runter von dieser Straße und für einen Moment etwas Anderes sehen.
Kein Stäubchen liegt auf dem Parkplatz, die Wagen in Reih und Glied geparkt, niemand steht über der Linie. Das Gebäude sieht aus, als sei es gestern fertig geworden. Es ist erstaunlich, wie seelenlos und abweisend das heute auf mich wirkt.
Hinter dem Tresen steht ein gut aussehender, junger Mann mit dichten schwarzen Haaren. Seine lässige Frisur macht sicher eine Menge Arbeit, bis sie so beiläufig zerzaust wirkt. Ich bin hingerissen. Er spricht nur französisch, aber es gelingt mir immerhin, 3 Koteletts zu bestellen und mich freundlich zu verabschieden.
Morgen ist Sonntag und ich brauche Vorräte für zwei Tage. In der Käseabteilung kaufe ich einen ansehnlichen Klotz Käse. Den schmelze ich morgen in der Pfanne und veranstalte für Pieps und mich ein Schweizer Käseraclette im Zelt.
Auf dem Weg zur Kasse sammele ich noch Wurst und Brot, eine Flasche Rotwein und zwei Tafeln Lindt Schokolade ein. Bevor ich weiterfahre, möchte ich noch etwas essen, aber das Bistro am Eingang sieht so vornehm aus, dass ich mich dort in Motorradsachen nicht wohl fühlen würde. Stattdessen kaufe ich ein halbes Grillhähnchen aus der heißen Theke und mache mich mit der Beute auf den Rückweg zum Motorrad.
Endlich erreiche ich Martigny. Ich halte an einer SHELL Tankstelle und lasse das gute 100 Oktan V-Power in den Tank laufen. An der Kasse fällt mein Blick auf das neue Charlie Hebdo. Ich kaufe ein Exemplar und bestelle einen großen Becher Eiskaffee dazu.
Auf der Titelseite geht es um Migranten: Bienvenue aux migrants. Vous etes ici chez vous, heißt es dort, aber der Witz dahinter entgeht mir. Ich stecke das Heft ein und beschließe, es zu Hause näher zu studieren.
Camping des Glaciers La Fouly liegt abgeschieden vom Rest der Welt in 1.600 m Höhe am Fuß eines Gletschers. Die Lage ist atemberaubend. Die einzige Unsicherheit bei der Planung war das Wetter. Wie wird es dort oben Mitte September sein? Bald werde ich es wissen.
Die Straße führt durch ein langes Seitental, auf dem GPS-Gerät kann ich den Anstieg mit dem Höhenmesser verfolgen.
Endlich erreiche ich La Fouly am Ende des Val Ferret. Das abgelegene Bergdorf hat nur 81 Einwohner, jedenfalls war das der Stand 2008 und auch in der Zwischenzeit ist der Ort nicht zur Metropole geworden.
Kaum eine Handvoll Blockhäuser, ein Restaurant und eine Pizzeria schmiegen sich eng an die steilen Berghänge des Dolentmassif, das bereits zum Mont Blanc Massiv gehört.
Ich werde einen schönen Platz für mein Zelt suchen und später noch einmal wiederkommen. Camping des Glaciers La Fouly ist viel zu weitläufig, um sämtliche Stellplätze zu Fuß abzuwandern. Ich starte den Motor und fahre langsam alle Wege ab.
Schließlich entdecke ich den perfekten Zeltplatz. Eine kleine Nische, die auf drei Seiten von dichten Hecken umwachsen ist und einen wunderbaren Blick auf den Gletscher bietet, oder was davon noch übrig ist.
Ich nagele das Innenzelt mit 4 Heringen an den Boden und stecke jedes Stück Stoff extra fest, solange, bis ich es loslassen kann. Sowie das Innenzelt steht, werfe ich die schwere Reisetasche, den Tankrucksack und meinen Helm hinein, um es zu beschweren.
Ich kämpfe mit dem Überzelt und es ist anfangs nicht klar wer gewinnt, aber schließlich steht das Zelt und ich mache mich daran, sorgfältig alle Sturmleinen zu spannen. Selbst im Schutz der Hecken wird das Zelt noch vom Wind gebeutelt.
Dieser Platz ist ein kleines Wunder. Einer der schönsten Plätze, auf denen ich je gezeltet habe und dazu habe ich auch noch Glück mit dem Wetter. Es ist stürmisch, aber sonnig und trocken.
Pieps muss mal und wir gehen eiligen Schrittes den Weg hinunter zum Waschhaus. Aus Erfahrung weiß ich, dass es jetzt auf jede Minute ankommt.
Wir sind kaum auf halbem Weg, als es hinter uns mächtig kracht. Ich schnelle herum und scanne die Umgebung. Was war das? Ich kann nichts entdecken, doch etwas ist anders als zuvor: Wo ist der Flaggenmast?
Der hölzerne Mast liegt zerbrochen auf der Erde und die Reste der Schweizer Flagge und einer bereits leicht verblichenen Europafahne liegen an seiner Spitze im Staub.
"Oh, das habe ich noch gar nicht bemerkt."
Ich zahle 14 EUR für den Übernachtungsplatz, nehme mein Ticket und verlasse die winzige Hütte der Rezeption. In der Tür warten bereits zwei junge Engländer, die mit dem Rucksack unterwegs sind. Die Beiden sollten sich besser beeilen, denn wenn ich die dunklen Wolken richtig lese, die der Sturmwind heranweht, dann wird es bald Regen geben.
Tatsächlich haben Pieps und ich gerade unser Abendessen beendet, als es zu regnen beginnt. Anfangs ganz leicht und dann immer stärker. Dafür lässt der Wind nach.
Inzwischen ist das Wetter richtig ungemütlich geworden. Pieps und ich liegen im Schlafsack, ich trinke Rotwein und lese. Es könnte kein schönerer Abend sein hier oben in La Fouly.
zum nächsten Tag...
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