Innsbruck
Innsbruck fühlt sich gar nicht an wie eine Großstadt, stelle ich mit Erstaunen fest, als ich mit dem Motorrad in den Rennweg einbiege. Es wirkt eher wie eine bezaubernde Kleinstadt, die ein wenig aus dem Leim gegangen ist und von dem ganzen Rummel um sie fast peinlich berührt scheint.
Die Pferde stehen ruhig vor den Kutschen, während die Fiaker, so heißen auch die Kutscher selbst, sich um Tiere und Wagen kümmern, hier einen Riemen nachziehen, dort einen Huf kontrollieren und ansonsten mit Gleichmut auf die nächste Fahrt warten.
Es ist Mittwochmorgen und der Andrang am Fiakerstand überschaubar, oder genauer gesagt: Niemand interessiert sich. Ich stülpe den Helm mit den Handschuhen über den Spiegel und gehe sorglos in Richtung Hofgasse davon.
Sorgen um mein Motorrad, das Gepäck und den Helm mache ich mir nicht. Das letzte Eigentumsdelikt dieser Gegend wurde 1996 zur Anzeige gebracht und stellte sich nach Abschluss der Ermittlungen als Irrtum heraus. Der Verdächtige, ein Oberstudienrat aus Wien, wurde noch am selben Abend rehabilitiert: Er besaß tatsächlich selbst einen Schirm von geradezu verblüffender Ähnlichkeit und hatte sich lediglich vergriffen.
Der Blumenhändler am Domplatz hat vor seinem Geschäft aus Vasen und Gefäßen eine dekorative Insel der schönsten Blumen errichtet und wartet bereits auf Kundschaft.
Schräg gegenüber lockt das interessant dekorierte Fenster einer Kerzenhandlung. Tiroler Wachszieher und Lebzelter steht über dem Eingang. Was wohl ein Lebzelter ist?
Ich kann mich kaum sattsehen an den hübschen Geschäften in den mittelalterlichen Gassen. Das völlige Gegenteil zu den modernen Shoppingmalls der Neuzeit. Kein Deichmann, kein H&M verwässern den Eindruck.
Vermutlich soll es die Chinesen davon abschrecken, sich die Hüte lediglich für ein Foto aufzusetzen, ohne einen zu kaufen. Im Gegenzug gibt es drei Stück schon für 19,80 €.
Die Gassen der Altstadt verführen zum Entdecken. Alles ist nah beisammen, nichts ist weit entfernt. Die Enge zwischen den alten Häusern, die hübschen Geschäfte. Blumen, Kerzen, Andenken, ein Wolford Laden, Bäckereien, Restaurants und ... ein Speckladen.
"Guck mal, Pieps. Ein fliegender Elefant!", rufe ich und zeige in entgegengesetzter Richtung nach oben, aber die riesigen Schinken vorm Eingang sind kaum zu übersehen und eine gewisse Maus gerät völlig aus dem Häuschen.
Innsbrucks Wahrzeichen und zentrale Sehenswürdigkeit ist das Goldene Dachl, jedenfalls ist es an jeder Ecke beschildert. Ich könnte den Wegweisern folgen, oder hänge mich einfach an eine der Reisegruppen aus Asien.
Am Ende der Herzog-Friedrich-Straße liegt Das Goldene Dachl. Ein altes Haus mit einem Erker, der in Höhe des vierten Stockwerks golden eingedeckt ist.
Auf den ersten Blick ganz unspektakulär und stünden nicht die vielen Chinesen davor und hielten verzückt ihre Smartphones in die Höhe, ich hätte es wohl übersehen.
Ich drehe mich um und sehe mit dem Rücken zum Goldenen Dachl die Herzog-Friedrich-Straße hinunter. Die Eingänge der Geschäfte und Hotels liegen tief im Schatten der Arkaden verborgen. Der Gegenschuss ist ebenso schön, wie der Blick aufs Dachl selbst.
Die junge Frau kann sich ein Grinsen nicht verkneifen: "Gegenüber, genau gegenüber", sagt sie und zeigt aus dem Laden auf die Fassade in 6 m Entfernung.
Der Eingang befindet sich versteckt unter dem Torbogen zur kaiserlichen Hofburg. Neugierig studiere ich die Karte neben der Tür. Es gibt nicht nur Kuchen, sondern auch Schnitzel und das nicht mal teuer.
Der Gedanke durchfährt mich wie ein Blitz: In Österreich, in Innsbruck, im Café Sacher und ich esse dort ein Original Wiener Schnitzel. Mehr geht nicht.
Ich stoße die Glastür auf, in die in feiner Schrift Café Sacher eingeätzt ist. Sofort umfängt mich eine andere Welt. Das Draußen mit seinen Touristenschwärmen, dem Gewimmel und dem Lärm ist hier drinnen nicht zu merken.
Stattdessen rote Teppiche, dunkles Holz und gedämpfte Beleuchtung. Nur zwei Tische in dem weiträumigen Café sind besetzt. An einem sitzt ein Banker mit seinem iPad und an einem anderen eine junge Frau vor einem Stück Sacher Torte.
Nein, hier würde ich mich nicht wohl fühlen. Zu fein, zu vornehm, ein morbider Charme für den ich sonst sehr empfänglich bin, aber nicht heute.
Mein Appetit lässt sich nicht so leicht einschüchtern wie ich und so mache ich mich auf die Suche nach einem anderen Restaurant. Ich frage im Stiftskeller und im Herzog-Friedrich, aber beide Male dieselbe Antwort: Mittagessen erst ab 12 Uhr, bzw. 11.30 Uhr.
Das ist frühestens in einer Stunde, denke ich missmutig und gehe zurück zu dem Platz, wo ich mein Motorrad abgestellt habe. Schon von weitem entdecke ich zwei alte Herren, die um Greeny herumstehen, mal auf dies, mal auf das deuten und sich angeregt unterhalten.
Es sind zwei Fiaker. Beides gestandene Männer jenseits der 70. Mit einem von ihnen komme ich ins Gespräch. Er ist ein stattlicher Mann in Lederhosen mit einem grünen Filzhut. Er hat ganz weiche Augen und eine sehr angenehme Stimme. Augen und Stimme, das sind zwei Dinge, auf die ich achte.
Er ist Mitte 70 und fährt auch Motorrad. Eine Kawasaki ER-5, eine ausgezeichnete Maschine, leicht, wendig und schnell. Wir tauschen unsere Erfahrungen aus er berichtet davon, wie er selbst schon mehrfach über den Großglockner gefahren ist mit seiner Kawa.
Egal, ob man 20, 50 oder 70 ist: Wenn einer wirklich cool ist, kann er das in jedem Alter sein, denke ich voller Bewunderung.
"Das Einzige, was mir nicht gefallen hat, ist das mit dem Essen. Nirgends habe ich was bekommen. Ich war sogar bei Sacher, aber das war mir zu vornehm."
"Socher!", sagt er mit Verachtung in der Stimme. "Zu teier und do kochts jöde Hasfrau bösser. Na, du musst zum Hörtnagl göhn. Da essn wir ach oll. Des is gud und preiswert."
Der Fiaker beschreibt mir den Weg und zeigt in die Richtung. Man kann die Fassade vom Hörtnagl von hier aus sehen. Ich bedanke mich und stiefele los.
Das ist nicht sein Ernst, denke ich, als ich kurz darauf vor einer Fassade stehe, die alles andere als einladend aussieht, sondern eher wie der Hintereingang eines Schlachthofs.
Misstrauisch trete ich ein und stehe kurz darauf vor der blitzblanken Scheibe einer heißen Theke. Darin liegen Unmengen der leckersten Würste, der größten Frikadellen und fettesten Braten, die ich seit Tschechien gesehen habe.
Ich lasse mir eine Scheibe Krustenbraten von der zweifachen Dicke eines Maurerdaumens abschneiden und eine Portion Speckpüree dazu geben. Das ganze Essen kostet 4,70 €.
Glücklich setze ich mich mit Pieps an einen Tisch und wir wolfen mit Heisshunger das leckere Essen in uns hinein. Die Fiaker wissen wirklich, wo es gutes Essen gibt.
Nach einer halben Stunde bin ich zurück am Fiaker Stand. Mein Fahrer steht noch immer neben seinem Pferd und wartet auf eine Fahrt. "In der Woch'n is scho' aans z'fuii", fällt mir sein Spruch von vorhin wieder ein.
Er möchte wissen, wie es mir beim Hörtnagl gefallen hat. "Klasse!", sage ich und schwärme von dem außergewöhnlich fetten Fleisch mit der dicken Kruste. "Danke für den guten Tipp."
Ich knöpfe meine Jacke zu und mache das Motorrad startbereit.
"Bass schee auf!", ermahnt mich der Fiaker.
"Das mach ich. Immer."
"Bist a feine Frau", sagt er und nimmt meine Hand. "Oder Mad'l bösser g'sagt", fügt er verschmitzt hinzu. Ich schmelze dahin.
Baby, du hast es drauf, denke ich voller Wärme, aber ich weiß auch, wie Reiter sind. Die können immer gut mit Frauen.
Ich starte den Motor und rolle über den Platz zur Straße. Ein letztes Winken und ich biege auf den Rennweg ein, während der Fiaker langsam aus dem Rückspiegel verschwindet. An diese Begegnung werde ich mich lange erinnern.
Die nächsten 30 km fahre ich auf der B171 am Inn entlang. Wenn ich solange an einem Ort war, wie heute morgen in Innsbruck, dann habe ich das Gefühl, ich liege hinter der Zeit.
In einem kleinen Tiroler Ort mit dem Namen Telfs fahre ich an einem Bäckerei Café vorbei. Davor Tische und Stühle. Einige alte Damen sitzen im Schatten der Arkaden bei Kaffee und Kuchen und unterhalten sich angeregt.
Ich werde das Motorrad los und stelle mich neugierig am Kuchentresen an. Frischer Topfenstrudel 2,60 € steht mit Kreide auf einer Tafel. Ich habe keine Ahnung, was Topfen ist, aber ich bin neugierig und bestelle ein Stück. Dazu einen Kaffee, der Verlängerter heißt.
Verlängerter, der: Ein viel zu starker Kaffee, der in Österreich zusammen mit einem Glas Wasser serviert wird, schreibe ich in mein Tagebuch, als ich kurz darauf mit Pieps an einem Tisch sitze.
Selbst die Wespen, die in bedrohlicher Zahl um uns herumschwirren, zeigen wenig Interesse an dem Kuchen, der auch nicht sonderlich süß ist. Ich lasse den Rest Kuchen für die Wespen stehen und wandere die Straße hinunter. Telfs hat eine wunderhübsche Kirche, deren zwei Türme sich malerisch von den Bergen abheben.
Jetzt hänge ich hinter einem orangen Tieflader fest. Erst kurz vor dem Lermooser Tunnel löst sich der Stau auf und es geht auf einer gut ausgebauten Straße dreispurig weiter. Vor mir taucht die Zugspitze auf und ich knipse in voller Fahrt hastig ein paar Schnappschüsse.
Als die Sonne hinter den Bergen verschwindet, wird es rasch kälter und ich verziehe mich in meinen Schlafsack. Pieps schlummert bereits selig auf unserem Kissen, ihr kleines Bäuchlein kugelrund.
Morgen fahren wir weiter ins Montafon und zur Silvretta Hochalpenstraße. Das wird sicher wieder ein aufregender Tag, freue ich mich, schließe die Augen und lasse mich auf das dicke Kissen zurücksinken.
zum nächsten Tag...
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