Großglockner Hochalpenstraße
Am Morgen ziehe ich die schweren Gardinen von den Fenstern und schaue hinüber in die Berge. Die Gipfel sind noch immer weiß, aber das muss nichts bedeuten. Vielleicht kann die Wirtin an der Mautstation anrufen und fragen, wie es oben aussieht.
"Aha...ok...jo, danke schee."
Und zu mir gewandt: "Olso, so gögn halb 10 mach'ns worscheinlich auf. Noch is z'vühl Eis und Schnee auf der Stroßn."
Das sind gute Nachrichten. Ich bedanke mich und gehe zufrieden nach hinten durch in den Frühstücksraum. Dort sitzt ein Pärchen aus Italien beim Kaffee. Die Beiden sind auf einer KTM 1050 unterwegs und wollen auf dem Weg in die Heimat ebenfalls über den Glockner.
Für Pieps und mich ist ein kleiner Einzeltisch gedeckt. Das ist es, was ich so liebe, wenn ich mal ein Zimmer nehme: Der Tag beginnt mit einem Frühstück. Sitzen, Kaffee trinken, ein Ei essen und nebenher ins Tagebuch kritzeln. Das mag ich sehr.
Der Frühstücksraum ist sehr klein und außer dem Buffet ist gerade noch Platz für einen weiteren Tisch. Es ist der größte im Raum und er ist eingedeckt für 5 Personen, aber noch ist niemand zu sehen.
Sie tragen Jeans und Kapuzenpullis mit Aufdrucken. USSR, Vmax Owners und Big Bad Machine steht auf den Hoodys und dazu ein merkwürdig gezackter Stern im Kreis. Ob das welche von den Nachtwölfen sind, von Putins Motorradgang?
Der Älteste der Gang kommt zu Pieps und mir an den Tisch. Er sieht ziemlich erledigt aus, sein Gesicht verquollen und die blassblauen Augen scheinen zu schwimmen. In dem harten, gebrochenen Englisch der Russen fragt er mich, wann der Pass wieder auf ist.
"Probably it will open around 10."
Er sieht mich ausdruckslos an, nickt und geht zurück zu seinen Kumpanen, die schweigend beim Kaffee sitzen. Es ist nicht ihr Charme, für den diese Menschen bekannt sind.
Ich betrachte eine der Yamaha Vmax aus der Nähe und weiß plötzlich, worin die blassblauen Augen des Russen schwammen: Eine leere Wodkaflasche liegt quer über der Sitzbank.
Ich gehe in die Information und erkundige mich nach dem Straßenzustand: "Frühestens um 10. Droben sind -4°. Die hobn noch mal gesolzn, aber do is no zu vühl Eis of der Stroßn."
Die Dänen sind auf schweren Harleys unterwegs. Nagelneue Maschinen und das Lederzeug sieht aus, wie frisch aus dem Harley Katalog. Sie wirken eher wie Zahnärzte als wie Rocker, aber dafür sind sie sehr sympathisch.
Zwei der Dänen reden auf den Ältesten der Gruppe ein. Ole ist wohl knapp über 60 und sich nicht sicher, ob er den Pass fahren soll. Er hat eine Harley Davidson Road King, eine der schwersten Maschinen im Programm. Mit 370 Kilo wiegt sie fast das Dreifache meiner Enduro und ich verstehe, dass Ole Manschetten hat.
Ich stelle mich dazu und mische mich ein: "Die geben die Strecke sowieso erst frei, wenn es absolut sicher ist," beruhige ich Ole, aber insgeheim mehr mich selbst. Werde ich überhaupt mithalten können mit all den schnellen Ducatis, den starken Hondas und coolen Harleys?
Plötzlich kommt Unruhe in die Menge: "Der Pass ist frei", heißt es plötzlich. Ohne eine Sekunde zu verzögern schwinge mich ich mich in den Sattel der Enduro, setze den Helm auf und rolle als zweite Maschine an die Mautstation.
"Fahren Sie vorsichtig," ermahnt mich die Frau an der Kasse. "Es sind noch immer -4° und Schnee", doch ich höre gar nicht mehr richtig hin. Jetzt will ich endlich auf diesen Berg, dessen Gipfel schneeweiß in der Morgensonne leuchten.
Die ersten Kilometer steigt die Straße noch verhalten an und ich fahre den Motor vorsichtig warm, während auf jeder Geraden die Hondas und Ducatis brüllend an mir vorbeiziehen.
Der Glockner ist eine Wetterscheide und mit ihm scheine ich zugleich das miese Regenwetter der letzten Tag hinter mir zu lassen. Es ist bitterkalt auf dem Motorrad, aber immer häufiger blitzt die Sonne durch die Wolken und es sind Flecken blauen Himmels zu sehen.
Auf dem Parkplatz Fuschertörl 1 treffe ich die Dänen wieder. Sie stehen bei ihren Harleys und sind ebenso begeistert wie ich von dieser unglaublichen Straße in den Wolken. Ole freut sich, dass er das Risiko eingegangen ist.
Etwas außer Atem fahre ich an die Kante und schaue hinunter auf die Kehren, über die ich gekommen bin. Diese Straße ist jeden Cent Mautgebühr wert.
Musste ich mich überhaupt schon einmal richtig anstrengen? Alles geben? An meine Grenzen gehen? Nein, noch nie. Woher kommen dann diese diffusen Ängste, die mich vor jeder Reise plagen? Am Abend bevor es losgeht, bin ich jedesmal das reinste Nervenbündel.
Der Applecross Pass in Schottland war rauher, der Hardknott Pass steiler und am Trollstigen in Norwegen gab es riesige Wasserfälle, aber die Großglockner Hochalpenstraße durch die schneebedeckten Berge ist gewaltiger, grandioser und beeindruckender.
Vom Fuschertörl fahre ich weiter hinauf in den Berg. Die Straße klebt dicht am Fels und nur ein paar mickrige Begrenzungssteine trennen die Fahrbahn vom Abgrund.
Als ich nach Heiligenblut hineinrolle und an der berühmten Wallfahrtskirche vorbeifahre, liegen über 40 km Abenteuer Großglockner Hochalpenstraße hinter mir.
Der Ort ist voller Touristen und Pilger. Ich halte nur lange genug an, um ein paar Fotos der berühmten Pfarrkirche zu machen. Heute bin ich rastlos und will weiterfahren.
Am Tresen der Fleischabteilung bekomme ich ein überraschend gut aussehendes Entrecote. Damit hatte ich hier gar nicht gerechnet. Dazu kaufe ich eine Handvoll brauner Champignons und ein paar Zwiebeln. Das wird das perfekte Abendessen.
Hochzufrieden trage ich meine Beute zur Kasse und lege sie auf das Laufband, wo die Kassiererin sie über den Scanner zieht.
"Magscht a Sackerl?" Das Heben der Stimme am Ende des Satzes deutet auf eine Frage hin, aber auf welche?
Ich schaue die Frau ausdruckslos an, während mein Sprachzentrum in den Translate Mode geht und aus Millionen von Informationen die passenden Synapsen bildet.
Nach 0,8 Sekunden spuckt es die Übersetzung aus: "Wünschen Sie eine Tragetasche?"
Ein Lächeln geht über mein Gesicht: "Ja, bitte."
Die sind wirklich nett die Österreicher, auch wenn sie in Zungen sprechen, denke ich und ziehe den Reißverschluss für die Erweiterung des Tankrucksacks auf, damit der Einkauf noch obendrauf passt.
Der Aufenthalt an der Fleischabteilung hat meinen Appetit geweckt und schon seit einer Weile scanne ich mit suchendem Blick den Straßenrand nach einem Imbiss ab.
Ein selbstgemaltes Schild mit der Aufschrift Guggs Würstlstandl zeigt auf einen Kiesweg. Ich setze den Blinker und stehe kurz darauf vor einer Imbissbude, die in den fröhlichsten Farben in der Sonne leuchtet. Schon beim Absteigen weiß ich, dass ich es hier mögen werde.
Noch vor der zweiten Bratwurst weiß ich, dass er ein Deutscher ist, der nach Österreich ausgewandert ist. Keine zwei Bissen später wird mir klar, dass er außerdem ein Klookschieter ist. Einer, der nicht nur alles weiß, sondern auch alles besser weiß.
Der erste unsympathische Österreicher, den ich treffe, ist ein Deutscher. Er ist Spezialist für alles und Pieps ist kurz davor, ihn in die nikotingelben Finger zu beißen.
Kauend verabschiede ich mich von Herrn Gugg, der den Rübergemachten jetzt alleine aushalten muss und an seiner Miene kann ich ablesen, dass ihm das auch klar ist.
Tschüss, Herr Gugg, das hat ganz prima geschmeckt bei dir.
Nicht lange danach tauchen die ersten Schilder auf, die zum Felbertauerntunnel weisen. Darauf freue ich mich, denn es macht Spaß, mit dem Motorrad durch lange Tunnel zu fahren.
Vor der Mautstation gibt es einen kurzen Rückstau und immer wenn ein Auto durch ist, paddele ich das Motorrad mit den Füßen ein paar Meter nach vorn. Endlich bin ich dran, aber ich bekomme partout die Kreditkarte nicht aus der engen Tasche der Jacke.
Der Tunnel ist etwas über 5 km lang und verbindet das Bundesland Salzburg mit Tirol. Es ist einer dieser Tunnel mit nur einer Röhre und Gegenverkehr. Der Verkehr in der Röhre brummt und ich mag kaum die Hände vom Lenker nehmen, um ein verwackeltes Foto zu schießen.
Als ich das Motorrad vor der Rezeption des Karwendelcamp Maurach anhalte, stehen 256 km auf dem Tageszähler im Cockpit. Der Motor knistert beim Abkühlen leise in der Bergluft.
Bei der Anmeldung erfahre ich, dass es im Campingrestaurant ein Frühstücksbuffet gibt. Ich buche für den nächsten Morgen zwei Plätze am Buffet und freue mich über den Service.
Die Straße der Dauercamper ist mit Wohnwagen und Vorzelten eng belegt, aber die Plätze der Reisecamper sind noch frei. Ich möchte möglichst früh Sonne haben, um das Frühstück nicht zu verschlafen, und stelle mein Zelt mit freiem Blick nach Osten auf.
Pieps und ich gehen eine Platzrunde durchs Karwendelcamp und setzen uns schließlich auf die Terrasse des Restaurants. Ich bestelle einen kleinen Krug Wein und eine Williamsbirne. Die habe ich im Vorderbrand für mich entdeckt, ein Teufelszeug.
Es ist kalt geworden und allmählich ist es Zeit fürs Abendessen. Das Entrecote passt kaum in die Pfanne und ich muss die Pilze in einem zweiten Durchgang braten. Das Steak schmeckt vorzüglich und ich schaufele großzügig gebratene Zwiebeln darauf.
Das Thermometer im Zelt zeigt nur noch 7° C und sowie der Abwasch erledigt ist, verziehen wir uns in den Schlafsack. Ich lese noch ein wenig, aber bevor das Kapitel zu Ende ist, kann ich die Augen nicht mehr aufhalten und knipse die Stirnleuchte aus.
zum nächsten Tag...
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