Die Tage im Vorderbrand
Berchtesgaden liegt hinter Wolken verborgen tief unter uns im Tal. Ich schaue hinauf zum Kehlsteinhaus, aber auch das ist heute Morgen nicht zu sehen. Dafür sieht es nach Regen aus.
In der Gaststube sitzen die Wirtsleute gerade selbst beim Frühstück. Beide sind stilecht in Trachten gekleidet. Er mit Dreiviertel langer Lederhose, Trachtenhemd und Haferlschuhen, Sie in einem weißgrünen Dirndel.
Ich dagegen trage eine typische Svenja Tracht: Jeansmini, flache Overknee Stiefel und ein pinkes Shirt. Claudia hat aus Kiel eine Tasche mit Klamotten mitgebracht, die ich vorher gepackt habe. Die Motorradsachen haben ein paar Tage Pause.
Privates Realgymnasium am Werkschulheim Berchtesgaden, steht auf Claudies Zeugnis der 1.Klasse. Latein gut, stelle ich missbilligend fest und denke an meine eigene Lateinnote zurück.
"Und was bedeutet Werkschulheim?", frage ich neugierig.
"Vormittags haben wir das Gymnasium besucht und wer wollte, konnte nachmittags in die Werkstatt gehen. Da habe ich meine Lehre und meinen Gesellenbrief als Tischler gemacht. Dieses Schulmodell aus Gymnasium und Handwerkslehre gibt es heute wohl nicht mehr, obwohl das eine tolle Sache war", sinniert Claudia.
Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie beeindruckt ich bin. In meiner Schulzeit habe ich mich mehr mit Motorrädern und Mädchen beschäftigt und meine Noten lagen daher eher im mittleren Bereich.
Inzwischen ist die Christophorusschule Berchtesgaden eine Eliteschule des Sports. In ihrer Hall of Fame stehen viele bekannte Namen aus der Welt des Sports, wie Maria Höfl-Riesch, Georg Hackl und Tobias Angerer.
Lauter junge, sportliche Menschen strömen aus dem Schulgebäude. Ein Mädchen mit einer Sporttasche zeigt uns den Weg ins Büro.
Wir sprechen mit dem jungen Mann im Sekretariat, aber er weiß nichts von der Geschichte seiner Schule. Er ist sehr freundlich, aber auch völlig uninteressiert. Die Zeit vor der Erfindung von Internet und iPhone hat keine Bedeutung für ihn.
Für heute haben wir beide genug von Geschichte. Jetzt geht es zurück ins Hier und Jetzt. Wir setzen uns wieder ins Auto und fahren hinunter nach Berchtesgaden.
Gegen Mittag gehen wir ins Berchtesgadener Hofbrauhaus. Ich bestelle ein Bier und dazu Nürnberger mit Kraut. Pieps ist ganz hingerissen von den kleinen 'Bratwürstschen'.
Wir sehen uns den Laden der Brennerei Grassl an und machen uns schließlich wieder auf den Weg zum Vorderbrand. Der Twingo hat keine Mühe, uns zwei Tanten die steile Vorderbrandstraße hinaufzukutschieren.
Für 17.30 Uhr habe ich einen Tisch bestellt. Das ist nötig, denn die Leute kommen von weit her in den Vorderbrand und gegen Abend füllt sich der Gasthof. Die Speisekarte ist so, wie ich sie liebe: Nicht zu viele Gerichte und alle deftig mit viel Fleisch.
Ich bestelle ein Gericht, das heißt Schäuferln mit Speckknödeln. Speck kenne ich, von Knödeln habe ich gelesen, aber Schäuferln sagen mir gar nichts. Wir trinken Wein, während wir auf das Essen warten.
Die Schäuferln stellen sich heraus als ein Fleischstück aus der Schulter und das Blatt sieht tatsächlich wie eine kleine Schaufel aus. Meine Güte, ist das lecker. Wieviele Spezialitäten es in Bayern gibt, denke ich neidisch. In Schleswig-Holstein haben wir bloß drei Gerichte, die man als landestypisch bezeichnen könnte:
Das Erste ist Labskaus, ein Blubberlutsch aus Kartoffeln, roter Beete und gepökeltem Rindfleisch. Serviert wird Labskaus mit einem Rollmops und Spiegelei. Isst bei uns kein Mensch, aber gibts in der Kantine am Monatsende, wenn das Geld knapp ist.
Das zweite Gericht sind Birnen, Bohnen und Speck. Eine Art Eintopf mit Speck und Birnen. Muss man schon mögen.
Das dritte Gericht ist Schwarzsauer: Gekochtes Schweineblut mit Schwarten und Fleischresten. Schmeckt lecker, riecht aber ein bisschen eklig und sieht auf den ersten Blick nicht verführerisch aus. Auch nicht auf den zweiten oder dritten. Kein Gericht für Anfänger.
Kurzum: Die meisten unserer Schleswig-Holsteinischer Spezialitäten mögen wir nicht einmal selbst. Dagegen sind Bayern und Österreich das Paradies.
Morgen will Claudia mit mir auf den Brandkopf wandern: "Von dort haben wir einen schönen Blick auf den Königssee", schwärmt sie mir vor. "Der Weg ist steil, aber nicht sehr lang."
Ich kann meine Begeisterung nur mit Mühe verbergen...
Zweiter Tag
Der Frühstückstisch ist üppig für uns gedeckt. Ich liebe Bayern. Aus unsichtbaren Lautsprechern tönt leise bayrische Musik mit Zitter und Mundharmonika. Es fügt sich alles wunderbar ineinander, allein ich will nicht so recht in diese Alpenidylle passen.
Während ich den ersten Becher Kaffee trinke, sehe ich mir das Gästeblatt für Berchtesgaden an. Darin werden jeden Tag die Veranstaltungs-Highlights der Stadt genannt: Eine Naturwanderung durchs Wimbachtal. Nein, danke. Ist nicht mein Aufgabenbereich. Ich bin zuständig fürs Endurowandern.
Aber das hier, das könnte was für uns sein: Großer Standlmarkt mit vielen kulinarischen Schmankerln. Das ist genau mein Fachgebiet. Jetzt muss ich bloß noch Claudia davon überzeugen.
Sie ist auf Anhieb begeistert und nach dem Frühstück steigen wir in den Twingo und fahren hinunter nach Berchtesgaden. Wir stellen den Wagen in der Parkgarage unterm Schlosspark ab und gehen zum Weihnachtsschützenplatz. Dort soll der große Wochenmarkt mit den vielen Schmankerln stattfinden.
Ich stehe auf dem Platz und sehe mich suchend um. Eine Fleischerei, ein Bäcker und ein Käsehöker haben ihre Stände aufgebaut. Daneben einer dieser schamanischen Windradanpuster, der auf einem Tapetentisch Wundersalben für Veganer und Jogatänzer feilbietet.
"Entschuldigen Sie..."
"Jo?"
"Ist das alles? Der ganze Markt, meine ich?"
"Jo."
"Und wo sind die allerlei kulinarischen Schmankerl?", frage ich fassungslos.
"Na, des is immer so", antwortet der Schamane ungerührt.
Na warte. Das Fremdenverkehrsamt Berchtesgaden bekommt einen gepfefferten Brief von mir. Den können sie sich an die Pinwand heften. Schmankerl. Von wegen.
Claudia bestellt Apfelstrudel und Kaffee, ich halte mich an Würstl und Bier. Schließlich muss ich nicht mehr fahren, jedenfalls heute nicht.
Inzwischen füllt sich die Gaststube der Scharitzkehlalm und als Claudia die letzten Krümel von ihrem Kuchenteller gepickt hat, machen wir uns wieder auf den Weg. Wir haben ja noch eine kleine Wanderung vor uns.
Den Twingo stellen wir unter dem Balkon unseres Zimmers ab und machen uns zu Fuß auf zum Brandkopf. Der Wanderweg ist anfangs noch nicht sehr steil, aber schon bald wird er steiler, bis wir nur noch ganz bedächtig einen Fuß vor den anderen setzen. Mit der KLX würde ich den Weg in zwei Minuten raufheizen und hätte sogar noch Spaß daran.
Nach einer Stunde stehen wir oben auf dem Brandkopf. Im Talkessel zwischen den Bergen liegt der Königssee. In der Ferne ist winzig klein St. Bartholomä zu erkennen.
Der Rückweg geht deutlich schneller, nicht nur, weil es bergab geht, sondern weil ich weiß, dass sie im Vorderbrand heute frischen Marmorkuchen gebacken haben, mein absoluter Lieblingskuchen seit frühester Kindheit.
Keine halbe Stunde später sitzen wir draußen im Biergarten am Vorderbrand. Vor uns ein beeindruckendes Stück Marmorkuchen mit Sahne. Pieps liebt das. Dazu gibt es ein kaltes Bier. Svenja liebt das.
Als ich es lese und dabei an diesem Ort sitze, wird mir bewusst, dass all das nicht lange her ist. Kurz darauf hat Claudia bereits hier gesessen und nach der Schule ihre Limonade getrunken. Vergangen ja, aber nicht Vergangenheit. Auch deshalb bin ich nicht gerade ein Fan der neuen Brandstifter AfD und Pegida. Die machen mir Angst.
Nach dem Essen legt Claudia sich einen Moment hin und ich kümmere mich um Greeny. Die Kette ist durch die Regenfahrt fast trocken gelaufen und ich versprühe großzügig das dünnflüssige SX90 darauf.
Das Spray ist im Grunde nicht als Kettenspray gedacht, aber ich habe gute Erfahrungen damit gemacht. SX90 wäscht bei Regen schneller ab als Kettenfett, aber dafür sieht alles blitzsauber aus und auch die Felgen werden nicht mehr so eingesaut. Das Öl der automatischen Kettenöler arbeitet nicht anders.
Einmal pro Tag sprühe ich die Kette dünn ein. Dafür brauche ich 10 g Sprühöl pro Fahrtag. Ich habe drei der kleinen 100 ml Dosen mit, die ich nach und nach wegwerfe und auf diese Weise den Platz im Tankrucksack zurückgewinne.
Ich überprüfe den Ölstand, klopfe die Speichen ab und kontrolliere die Reifen. Alles in Ordnung, die Reise kann bald weitergehen. Nur die Kette werde ich in ein oder zwei Tagen spannen müssen. Das mache ich irgendwo auf der Wiese neben meinem Zelt.
Gegen Abend geben die Wolken den Blick aufs Kehlsteinhaus frei. Eagle's Nest, wie die Amerikaner es nennen. In Hitlers ehemaliger Alpenfestung brennt Licht. Von hier unten ein bedrohlicher Anblick, auch wenn von dort keine Gefahr mehr ausgeht. Heute geben sich da Touristen aus aller Welt die Klinke in die Hand und sitzen bei Kaffee und Kuchen.
Dritter Tag
Beim Frühstück nehmen zwei Bayern am Nebentisch Platz. Beide um die 40, laut, raumgreifend, echte Mannsbilder in Lederhosen und Seppelschuhen. Bayrische Männer sind häufig etwas lauter und selbstbewusster als andere, nehmen jeden Platz in Besitz. Manche der Älteren sind wie Büffel.
Schleswig-Holsteiner sind ganz anders, eher zurückhaltend und schweigsam, auch wenn ich selbst nicht das beste Beispiel bin, doch die anderen sind tatsächlich so. Man braucht sich bloß die Flens Reklame anzusehen. In SH genießen die Spots Kultcharakter.
Nach dem Frühstück wollen wir hinunter zum Königssee fahren. Es regnet wie aus Eimern. Wir ziehen die kniehohen Lederstiefel an, nehmen unsere Regenschirme und setzen uns in den kleinen Renault. Die Fenster sind im Nu von innen beschlagen.
Schon gestern, als ich auf dem Brandkopf gestanden habe, sind mir die Großparkplätze rund um den kleinen Ort aufgefallen. Gewaltige Parkflächen für mehrere tausend PKW.
Ein Reisebus mit der Aufschrift STURMVOGEL lässt einen Schwall Berliner Touristen von Bord und die Berliner tun das, was Berliner gerne tun, sie meckern:
"Is keen Dampfer da, wah?!"
"Ach kiek ma, is ja doch eener."
Das Wetter ist so mies, dass sogar die Chinesen schlechte Laune haben. Die Mädchen in ihren Miniröcken mit den bleistiftdünnen, nackten Beinen frieren und halten ihre iPhones deutlich seltener als sonst in die Luft. Sogar Claudia ist heute ein wenig muffig.
Wir fahren zurück zum Vorderbrand. Claudia legt sich schlafen und ich gehe in die Gaststube. In dem großen grünen Kachelofen prasselt ein gemütliches Feuer. Ich setze mich an einen Tisch dicht am Ofen und lasse für Pieps und mich heißen Kakao und Marmorkuchen bringen.
Es ist kaum zu glauben, dass ich noch vor wenigen Tagen unter der Hitze gelitten habe und ich jetzt bei 12° C am Feuer sitze.
Heute Abend sitzen Claudia, Pieps und ich an einem anderen Tisch als sonst. Unser Tisch wird für eine Gruppe von Leuten gebraucht, klärt uns die Wirtin auf, die machen etwas, das nennt sich 'a Musi'.
Nach und nach treffen 24 Männer und Frauen ein und schon beim Hereinkommen, merkt man ihnen die Fröhlickeit an. Genau wie wir, kümmern sie sich zuerst ums Essen. Das, was sie hier machen wollen, 'a Musi', kommt wohl erst danach.
Das Essen im Alpengasthof Vorderbrand ist wirklich klasse. So deftig, wie ich es mag, auch wenn ich eine etwas größere Portion gut vertragen könnte, aber vielleicht bin ich ein Spezialfall.
Es ist nicht zu glauben, aber neben uns sitzt ein Chor, der Seemannslieder und die norddeutschen Klassiker singt, wie Hamborger Veermaster. Ich frage mich, ob irgendwer hier den Text versteht.
Ick heff mol en Hamborger Veermaster sehn, to my hooday!
De Masten so scheev as den Schipper sien Been,
To my hoo day, hoo day, ho – ho – ho – ho!
Die Wirtin kommt und bringt mir noch einen Enzian: "Mei, die san schon sehr speziell," sagt sie kopfschüttelnd, dabei sind das die ersten normalen Leute, die ich hier treffe.
Wir sitzen noch lange zusammen bei Shantis, Bier und Enzian, bis es uns nach oben in die Betten treibt. Morgen heißt es Abschied nehmen. Claudie wird in ihren Twingo steigen und 1.100 km zurück nach Kiel düsen und ich werde auf der KLX weiterfahren und mein Zelt jeden Abend woanders aufschlagen.
zum nächsten Tag...
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