Riegersburg
Um 6 Uhr schleiche ich mich aus dem Abteil. Die Anderen schlafen noch. Ich bin auf der Suche nach einer Morgentoilette. Es gibt nur zwei in jedem Waggon und der Zug ist bis auf den letzten Platz besetzt.
Eine junge Frau kommt mir entgegen, ich drücke mich an die Wand, um sie vorbeizulassen: "Hinten in dem Waggon mit den Fahrrädern ist eine Behindertentoilette, die ist noch ok." Sie wusste sofort, was ich will und tatsächlich finde ich einen großen, blitzsauberen Waschraum mit einem Anflug von Komfort.
Die Anderen liegen unverändert in ihren Betten, als ich zurückkomme. Ich bleibe im Gang stehen und schaue aus dem Fenster, bis sie allmählich wach werden und sich ebenfalls auf die Suche nach der Morgentoilette machen.
Als der Schaffner um 8 mit dem Kaffee kommt, wird er bereits sehnsüchtig erwartet. Die Fahrt war ruhiger, als mit dem Zug von Lörrach, aber trotzdem war es nur ein leichter Schlaf, der immer wieder unterbrochen wurde.
"Wie mag das Wetter in Wien sein?" "Das sollen heute bis 36° werden", antwortet der Radwanderer und scheint selbst erstaunt, als er von seinem iPhone aufblickt.
Oh nein, denke ich. Mit Hitze komme ich nicht gut zurecht. Ich mag Kälte, dagegen kann man sich leicht schützen. Seufzend denke ich an den Mumienschlafsack in meinem Gepäck, den Claudia mir geliehen hat: "Ab -20° solltest du einen Pyjama anziehen", hatte sie mir geraten.
Der Zug läuft in einen Bahnhof ein: Wien Hauptbahnhof steht auf einer Tafel vor unserem Fenster. Die Autozuganlage ist nur noch eine Station entfernt. Ich nehme meine neue Motorradjacke über den Arm und stelle mich mit dem Tankrucksack an die Ausgangstür.
Wien Autozuganlage ist Endstation. Alle steigen aus, die Autofahrer mit leichtem Gepäck, während die Biker Tankrucksäcke, Helme und Taschen auf dem Bahnsteig ablegen. Erwartungsvoll sehe ich den Waggons mit den Fahrzeugen entgegen. Sie werden auf einem Extragleis für uns bereitgestellt. Wird mein Gepäck noch da sein, oder ist der Urlaub hier zuende?
Wir verabschieden uns herzlich und jeder geht zu seinem Fahrzeug. Plötzlich muss alles sehr schnell gehen. Das Entladen beginnt. Es ist eine merkwürdige Sache mit Reisebekanntschaften. Man hat nur ein kleines, begrenztes Zeitfenster miteinander und spricht in dem Wissen, sich niemals wieder zu begegnen. Vielleicht sind die Gespräche deshalb so gut.
Die Autozuganlage ist neu und die Zufahrt noch eine einzige Baustelle. Ich folge meiner Route in Richtung Wiener Neustadt. Wobei das nicht die Neustadt von Wien ist, wie ich anfangs gedacht habe, sondern eine ganz andere Stadt.
Ich esse nicht gern Eis. Es ist kalt, süß und ein völlig überflüssiges Nahrungsmittel, aber heute ist mir danach. Die Hitze macht mir zu schaffen. Ich lenke die Kawasaki auf eine Tankstelle und kaufe im Shop zwei Eisbecher für Pieps und mich, Erdbeer und Schokolade.
Als ich weiterfahre, lasse ich die Motorradjacke offen und schließe nur einen der Druckknöpfe in der Mitte. So pustet der Fahrtwind frei durch die Jacke und solange ich in Fahrt bleibe, ist die Hitze gut auszuhalten.
Mein Tagesziel für heute ist Riegersburg, ein Ort von knapp 5000 Einwohnern in der Steiermark. Dort habe ich eine Nacht in einer Pension gebucht, einen Campingplatz gibt es in der Nähe nicht.
Über der Stadt thront die gewaltige Riegersburg. Sie galt einst als die »stärkste Feste der Christenheit« und diente dem Schutz der Steiermark gegen die Türken.
Die gewaltigen Vorwerke, sechs Toranlagen und elf Basteien mit einer 3 km langen Wehrmauer, hinter der bei einem Angriff die gesamte Bevölkerung der Umgebung samt Vieh Zuflucht fand, ist seit 1420 nie wieder erobert worden. Von einem 200 m hohen Basaltfelsen aus blickt sie weit hinaus in die Steiermark.
Jetzt sind es nur noch 6 km bis zur Pension. Ich werde es vermissen, nicht im Zelt zu schlafen und mir ein Essen zu braten, aber ich habe gesehen, dass es in der Nähe mehrere Gasthäuser gibt.
Die Pension Kahr entpuppt sich als schmuckes Haus auf halber Höhe am Fuß eines Weinbergs. Ich stelle die Enduro auf dem Hof ab und gehe die Stufen zur Eingangstür hinauf. Bevor ich oben angekommen bin, öffnet sich die Tür und eine Frau, ungefähr in meinem Alter, sieht mir abwartend entgegen. Es ist die Pennsionswirtin, Frau Kahr.
Mein Zimmer ist groß, hübsch eingerichtet und makellos sauber. Als erstes nehme ich eine lange, kühle Dusche. Es tut so gut, endlich die dicken Motorradklamotten los zu sein und in frische, leichte Sachen zu schlüpfen.
Frau Kahr nennt mir einen Buschenschank in der Nähe. Ich habe keine Ahnung, was ein Buschenschank ist und so bekomme ich gleich meine erste Stunde in österreichischer Heimatkunde: Ein Buschenschank ist eine Wirtschaft, wo ein Landwirt eigene Erzeugnisse, wie Getränke und kalte Speisen, ausschenken und servieren darf. Bier und Cola gibt es nicht, aber Wein, selbst gemachte Obstsäfte und kalte Gerichte.
Ich erfahre, dass es in der Nähe gleich drei Buschenschänken gibt und Frau Kahr zählt sie mit allen Vor- und Nachteilen auf. Mich interessiert nur Eines: "Welche liegt am nächsten?"
Kurz darauf bin ich zu Fuß unterwegs zum Buschenschank Maurer. Er liegt oben auf dem Weinberg. Obwohl die Sonne schon tief steht, sind es noch immer 34° C. Während ich langsam die steile Straße durch den Weinberg wandere, spüre ich die Wärme der Straße durch die Sohle der Ballerinas.
Gerade, als ich auf die Terrasse komme, wird ein Tisch frei und Pieps und ich haben einen der besten Plätze überhaupt, direkt an der Einflugschneise zur Küche. Die Karte ist so klein und übersichtlich, wie ich es mag. Nichts ist schlimmer, als sich für ein Gericht und damit gegen alle anderen Leckereien entscheiden zu müssen.
Die Bedienung ist eine stämmige junge Frau, energisch und voller Energie. Sie hat rote Wangen, trägt ein Dirndl und scheint sämtliche Gäste zugleich zu bedienen.
Ich gebe meine Bestellung auf und keine zehn Minuten später ist sie wieder da und stellt zwei Krüge und Gläser vor mich hin: "Jausen kimmt glei, göll", ruft sie noch, während sie schon auf dem Weg zum nächsten Tisch ist.
Ich schenke ein Glas Wein voll bis zum Rand und probiere den ersten Schluck. Er schmeckt jung und spritzig, ganz leicht, ähnlich wie mein geliebter Blanchet. Das Wasser hätte ich mir sparen können, das hier löscht den Durst auch.
Das erste Glas ist kaum ausgetrunken, als mein Essen kommt. Ein Holzbrett mit zwei dicken Scheiben Schweinebraten, schön fett, und dazu Meerrettich. Ich muss über Pieps lachen, die voreilig von dem scharfen Rettich nimmt und sich ihr ganzes Gesicht zusammenzieht. Empört sieht die kleine Maus mich an, bevor sie schnell hintereinander dreimal niesen muss.
Ich genieße die Stimmung im Buschenschank, den Spätsommer, den kühlen Wein, das gute Essen. Um mich herum ausgelassene Menschen, die sich laut unterhalten. Ich höre jede Silbe und verstehe doch kein Wort. Die Sprache scheint auf dem Deutschen zu basieren, denn manchmal höre ich ein vertrautes Wort, aber ich verstehe den Zusammenhang nicht. Trotzdem fühle ich mich rundherum wohl.
Nachdem ich bezahlt habe, mache ich mich auf den Rückweg in die Pension. Die Sonne ist untergegangen und ich brauche nur etwa 700 m die Straße runter zu schlappen, bis ich endlich in meinem Zimmer bin und mich müde, satt und zufrieden auf mein Bett fallen lasse. Welch ein schöner erster Abend in Österreich das war...
zum nächsten Tag...
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