Reise nach Tschechien
Heute morgen starte ich zu einer Reise in ein unbekanntes Land. Sicher, ich habe schon gehört von Tschechien, weiß aber nicht mehr, als dass es existiert. Mir war kaum bewusst, dass wir eine gemeinsame Grenze haben, die nur 580 km von Kiel entfernt liegt.
Es ist ein warmer Spätsommertag, der vorletzte im August, als ich in Kiel starte. Das Motorrad ist vollgetankt und blitzt in der Sonne, das Gepäck ähnlich wie auf der Norwegenreise, nur dass ich statt der Merinowäsche ein Sommerkleid eingepackt habe.
Doch eine Sache ist völlig neu: Zum ersten Mal habe ich ein Navigationsgerät dabei, ein Garmin Oregon 450, das ich mir für diese Reise gekauft habe, denn viele der Wege, die ich im Internet gefunden habe, sind auf der Landkarte Tschechiens nicht verzeichnet.
Wie wird das Navi meine Art zu reisen beeinflussen? Wird mein Vorurteil bestätigt, wonach man blind alles findet, ohne jemals zu wissen, wo man ist, als führe man einem unsichtbaren Guide mit Warnweste hinterher? Oder ist es ein echter Mehrwert und seine 500 g mit Akkus und Ladegerät wert? Ich bin skeptisch, aber auf dieser Reise will ich es herausfinden.
Kurz vor Mittag erreiche ich Lauenburg, eine Kleinstadt an der Elbe, die noch vor wenigen Wochen vom Elbehochwasser überflutet war. Inzwischen ist davon nichts mehr zu sehen.
Ich stelle die Enduro vor dem großen Famila-Markt ab und gehe einkaufen. Es sind zwar noch gute vier Stunden bis zum Campingplatz, aber ich mag es, wenn ich das Abendessen schon im Tankrucksack habe und mich später nicht mehr darum zu kümmern brauche.
Heute morgen war ich so aufgregt, dass ich ohne Frühstück losgefahren bin, dafür habe ich jetzt regelrechten Heißhunger. Mit geübtem Blick taxiere ich die Entrecotes in der Auslage. Die großen gelben Fettaugen sehen mich verführerisch an.
Die Digitalanzeige der Waage bleibt bei 0,647 kg stehen.
"Sonst noch was?"
"Nein, danke, das ist alles," gebe ich pikiert zurück. Wofür hält die mich?
Auf dem Weg zur Kasse sammele ich noch eine Packung Kräuterbutter, zwei Miniflaschen Wein, drei Duplo und eine Selters ein. Und es ist doch klug, hungrig einkaufen zu gehen, denke ich, während ich den Einkauf im Tankrucksack verstaue.
Neben dem Eingang steht ein Imbisswagen, Björns Brutzelbude. Ein magerer Typ ist mit Begeisterung dabei, Frikadellen zu braten, die er gerade frisch gemacht hat. Ich kann dem Duft der gebratenen Zwiebeln nicht widerstehen und bestelle zwei Frikadellen mit Senf.
"Das dauert aber noch ein bisschen, die sind noch nicht ganz fertig."
"Das macht nichts, ich hab Zeit."
"Willst du 'n Kaffee trinken? Geht aufs Haus."
"Oh ja, gerne. Schwarz bitte."
"I like my coffee like my women, black and hot," lacht er mich an. Ich fühle mich geschmeichelt und schenke ihm ein strahlendes 500 W Lächeln. Ein netter Typ, denke ich.
Auf der B5 fahre ich weiter an der Elbe entlang bis nach Boizenburg, wo ich auf die B195 nach Südosten abbiege. Die Straße verläuft schnurgerade und auf weiten Strecken fahre ich durch einen Tunnel aus Bäumen. Es sind so wenige Autos unterwegs, dass ich mitten auf der Straße anhalten und ungestört ein Foto der Allee machen kann.
Kurz nach Mittag erreiche ich Dömitz, einen kleinen Ort in Mecklenburg. Die Dorfstraße aus Kopfsteinpflaster führt mitten durch den Ort, alte Häuser stehen dicht gepresst, einige schick restauriert, andere in verschiedenen Stadien des Verfalls.
Kinos hießen früher Lichtspielhäuser und später recherchiere ich, dass dieses 1915 eröffnet wurde und 1990, kurz nach der Wende, zugemacht hat. Es rührt mich an, dass es noch immer so da steht und niemand sich die Mühe gemacht hat, etwas mit dem alten Haus anzufangen.
Der feine Sand der märkischen Heide diente zum Ablöschen nasser Tinte auf Papier, aber vor allem war es eine abfällige Bezeichung, weil die sandigen Böden nicht sehr fruchtbar waren.
Auf einem Kilometerstein lese ich, dass es jetzt noch acht Kilometer sind bis nach Havelberg. Dort gibt es einen Campingplatz, der auf einer Insel in der Havel liegt.
Der alte Stein strahlt den Charme vergangener Zeiten aus, als Wegweiser und Schilder noch von Hand gemalt waren und Landstraßen Chausseen genannt wurden.
Auf schmalen Wirtschaftswegen führt das Garmin mich zwischen Wiesen und Auen hindurch nach Havelberg, aber kurz hinter dem Ortseingang ist die Straße voll gesperrt. Die ganze Fahrbahn ist aufgerissen und Teile der Innenstadt sind eine große Baustelle. Ich wende und versuche, die Baustelle zu umfahren, aber auch die Nebenstraßen sind gesperrt.
Nein, von sowas kann ich mich jetzt nicht aufhalten lassen. Entschlossen fahre ich an dem Durchfahrt Verboten Schild vorbei in die Baustelle hinein. Der Untergrund ist sandig und alle paar Meter ragen Gullis wie Termitenhügel in die Höhe.
Einige Anwohner sitzen vor ihren Häusern in der Sonne und schütteln die Köpfe und auch die Bauarbeiter sehen not amused aus, aber ich darf mich nicht aufhalten lassen, ich bin auf einer Mission, ich habe Urlaub!
Zweihundert Meter weiter endet mein Parforceritt an einer tiefen Baugrube vor einem Bagger. Hier geht es nicht weiter. Jetzt bloß nicht erwischen lassen. Ich wende die leichte Enduro mit einem Slide und fahre in meiner Spur zurück. Etwas reumütig düse ich an den Kopfschüttlern vorbei wieder zurück. Wo ist dieser blöde Campingplatz?
"Hallo, könnt ihr mir vielleicht sagen, wie ich zum Campingplatz Spülinsel komme?"
"Ja, da fahren Sie hier zurück, dann an der Ampel geradeaus und die nächste links über die Brücke. Dann sehen Sie es schon."
"Danke schön, das finde ich. Tschüss."
Der hat mich tatsächlich gesiezt. Ich seh sogar unterm Helm alt aus. Hmpff...
Keine fünf Minuten später rolle ich über eine schmale Brücke hinüber auf die Spülinsel. Ein Weg führt am Ufer entlang bis zur Einfahrt des Camps, wo eine rotweiße Schranke die Zufahrt versperrt. Ich lasse das Motorrad stehen und gehe hinüber in die Rezeption.
Die Rezeption ist Anmeldung, kleiner Laden, Imbiss und Bierkneipe zugleich. Eine sehr hübsche junge Frau zeigt gerade einem älteren Pärchen, wo sie ihr Wohnmobil abstellen dürfen und wo die Stromanschlüsse sind.
Eigenartig, wie ich die Beiden als "älteres Pärchen" wahrnehme, dabei sind sie vermutlich nur zehn Jahre älter als ich. Und dann diese "junge Frau", die ist sicher schon Mitte dreißig. Wie sich die Perspektive verändert, denke ich, und habe manchmal das Gefühl, mir läuft die Zeit davon, aber noch bin ich jung und kann alles machen.
Gedankenverloren sehe ich mir die Postkarten an und merke zuerst gar nicht, dass ich schon dran bin. Ich bezahle elf Euro und bekomme eine Gästekarte, auf die es bei einigen Restaurants in Havelberg Prozente gibt, aber das interessiert mich nicht, denn ich habe die guten Block House Steaks im Gepäck.
Die automatische Schranke geht hoch und ich rolle langsam auf den Platz. Die Grasnarbe ist dünn und an vielen Stellen scheint der staubige Erdboden durch. Diese Zeltwiese ist erledigt, typisch für Ende August, wenn die Hochsaison zu Ende geht.
Ich suche mir die beste Stelle aus und mache mich daran, das Lager aufzustellen. Das Zelt steht mit wenigen Handgriffen, ich bin noch gut in Übung von Norwegen, aber die Hitze macht mir zu schaffen, die Motorradhose klebt an den Beinen und das Funktionsshirt fühlt sich nur wenig besser an. Ich muss endlich diese Klamotten loswerden.
Sowie das Zelt steht, verschwinde ich darin und mache den Reißverschluss hinter mir zu, ich will mich umziehen. Ich hab Mühe, die Motorradhose auszuziehen, ich krieg sie einfach nicht über meine Wanderwaden, das feuchte Innenfutter klebt daran fest, aber schließlich drehe ich die ganze Hose auf links und bin frei.
Gestern abend habe ich in einer plötzlichen Eingebung noch ein dünnes Trägertop eingepackt, kaum mehr als ein Fummel mit Ausschnitt, aber bei dieser Hitze perfekt, Leggings dazu und fertig. Es sind mindestens 30° und hier im Zelt sind es ungefähr hundert.
Ich schlüpfe in meine Ballerinas, nehme etwas Geld, den Fotoapparat und gehe mit Pieps zur Rezeption, die auch eine Kneipe ist. Auf der Terrasse davor stehen Tische und Stühle, an denen die Leute in der Sonne sitzen, Bier oder Cola trinken und Eis essen.
Am Tresen bestelle ich ein Bier vom Fass. Hasseröder steht auf dem Zapfhahn und ich zahle nur 1,60 Euro für das 0,3 l Glas. Mir kommt das extrem günstig vor. Ich trage das Bier nach draußen zu einer Bank im Schatten und setze mich. Jetzt muss ich erstmal richtig ankommen hier in Havelberg.
Ich bin noch immer satt von den Frikadellen aus Björns Brutzelstube und um den Appetit anzuregen, hole ich mir ein zweites Bier. Diesmal setze ich mich damit zu den anderen Menschen vor die Rezeption. Während ich die Sonne und das kalte Bier genieße, lausche ich mit halb geschlossenen Augen den Gesprächen um mich herum. Es geht um Musikkapellen und um Blasmusik, viele der Umsitzenden spielen in einer der Kapellen.
An diesem Wochenende findet das 20. Havelberger Blasmusikfest statt und jetzt wird mir klar, weshalb der Campingplatz ausgebucht ist und ich ohne Anmeldung beinahe keinen Platz mehr bekommen hätte.
Am Boden des zweiten Biers bringe ich das Glas zurück an den Tresen. Mal sehen, ob ich hier morgen einen Kaffee bekomme, oder sogar ein Frühstück.
"Frühstück gibts hier morgens nicht, oder?", frage ich die Bedienung.
"Doch. Was wollnse'n haben?", gibt sie freundlich zurück.
"Kaffee, zwei Brötchen, ein gekochtes Ei und eine Wurstplatte, das wäre schön."
"Machen wir. Halb neun ist fertig, ok?"
"Ja, prima. Danke schön. Bis morgen."
Na prima, das wäre geregelt. Bevor ich zurück zum Zelt gehe, möchte ich mir noch die Insel näher ansehen, auf der der Campingplatz liegt. Ich spaziere durch die Zufahrt hinunter zum Uferweg und wandere am Wasser entlang. Eine Fußgängerbrücke führt von der Spülinsel hinüber in die Altstadt.
Jetzt werde ich mich ums Abendessen kümmern. Ich ziehe die Isomatte nach draußen und setze mich mit meiner Küche vors Zelt. Das Fleisch sieht erstklassig aus. Für die achtzehn Euro, die ich bei Famila bezahlt habe, hätte ich auch ins Steakhaus gehen können, aber da wird ein Mädchen nicht satt, das kenne ich schon.
Morgen fahre ich bis an die Grenze und übermorgen bin ich dann in Tschechien, dem unbekannten Land. Ich bin gespannt, was es da zu essen gibt. Gute Nacht, Welt.
Pieps und ich schlummern selig in unserem Schlafsack und träumen von neuen Abenteuern, als ich plötzlich aus dem Schlaf hochschrecke: Die Russen kommen!
Laute Technomusik und die gröhligen Stimmen einer Gruppe Halbstarker haben mich geweckt, beides ganz dicht am Zelt.
Oh no! Das ist die Gruppe Radfahrer nebenan, fünf oder sechs Typen in drei Zelten, die deutlich angesoffen sind und ungefähr zwanzig Meter neben uns campen. Ich sehe auf die Uhr, kurz nach zehn. Bestimmt kommt gleich der Platzwart, oder einige von den Männern, die mit ihren Familien hier campen, gehen rüber und sagen was.
Unruhig drehe ich mich hin und her und versuche den Krach zu ignorieren. Die Kirchturmuhr in Havelberg schlägt zwölf Mal, Mitternacht. Noch immer dröhnen die irren Läufe lauter Technomusik über den Platz. Ich hasse Techno. Wieso sagt keiner was?
Im Dunkeln sitzt eine Gruppe Jugendlicher auf dem Boden zwischen ihren Zelten, trinken, hören Musik und sind zu laut. Im Schein der einzelnen Straßenlaterne sind sie nur schemenhaft zu erkennen.
"Hallo?! Könnt ihr jetzt mal 'n bisschen leiser sein? Ich will schlafen."
"Mach doch!", kommt eine Stimme aus dem Dunkel und die Musik wird lauter gestellt.
"Jetzt gebt mal allmählich Ruhe, die Leute wollen schlafen."
"Wir machen gleich Schluss", lenkt eine andere Stimme ein.
Ich wende mich ab und gehe die paar Schritte zurück in mein Zelt. Der Schlafsack ist noch warm und Pieps schlummert weiter selig vor sich hin. Die Musik ist jetzt ganz leise und kurz darauf verstummt sie ganz.
Das muss ein Bild gewesen sein, denke ich amüsiert, Svenja in ihrem kurzen fliederfarbenen Nachthemd mit Ballerinas und wirren Haaren gibt die Concierge.
"Der hau ich eins in die Fresse", höre ich plötzlich eine erboste Stimme.
"Mach doch. Da drüben liegt die Schlampe", stachelt ihn ein Anderer an.
Hey, die meinen ja mich! Havelberg, ein Uhr morgens, ungeschminkt, aber das Passing hält! Ich bin noch ein paar Minuten etwas angespannt, aber ich kann keine weiteren Geräusche hören und kurz darauf bzzzZZzzzz chrrRRrrrrrr...
zum nächsten Tag...
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Das war der erste Reisetag und auch wenn mir der Osten noch sehr fremd ist, so ist es doch wunderschön hier. Mal sehen, was mich morgen erwartet.