Der Urlaubs-Express
Das Motorrad ist startklar, die Gepäckrolle und das Zelt fest verzurrt. Claudia schnallt bloß noch den 1,5l Kanister ans Heck. Sie tut es auf ihre sorgfältige und bedächtige Weise, die mich zugleich fasziniert und wahnsinnig macht. Bei mir geht sowas husch, husch, selbst wenn der Kanister dann in Quickborn vom Motorrad fällt. Deshalb macht Claudie das.
Diese Unruhe und das Lampenfieber legen sich erst, wenn ich auf dem Motorrad sitze, den Motor starte und die Kupplung kommen lasse. Dann ist alles wie immer und ich bin die Ruhe selbst. Heute geht es endlich wieder los: Greeny, Pieps und ich reisen in die Bretagne.
In Bad Bramstedt biege ich nach links in den Landweg ein zu meiner alten Schule. Neun Jahre lang bin ich auf die Jürgen-Fuhlendorf-Schule gegangen und in dieser Zeit ist es mir gelungen, bloß ein einziges Mal sitzen zu bleiben. In der Quarta. Die 5 in Latein konnte ich ausgleichen, die in Mathe nicht mehr.
Ein paar Kilometer weiter halte ich bei Burger King. Auf einem Bildschirm singt Debbie Harry Heart of Glas. Blondie war Ende der 70er schwer angesagt. Welch eine irre Zeit. Viel mehr als ein Motorrad, eine coole Lederjacke und eine gute Anlage brauchte es nicht: "Ich hab die Neue von Blondie. Hast du Lust vorbeizukommen? Meine Eltern sind nicht da."
Mit einem Lachen zerreiße ich die Spinnweben der Vergangenheit und denke wieder nach vorn: Drei Wochen Frankreich liegen vor mir, die Loire, die Bretagne, nette Menschen, Zelten, Motorradfahren, Abends im Lager Fleisch braten, dazu Bier oder Wein trinken. Ob die Bretagne wirklich so besonders ist, wie sie in den Romanen um Commissaire Dupin beschrieben wird? Bald werde ich es wissen.
Langsam fahre ich die Straße hinunter zum Abfertigungsschalter. Noch vor kurzem schien die Ära der Autoreisezüge endgültig vorbei zu sein, Geschichte und Vergangenheit. Die Deutsche Bahn hatte sämtliche Linien schlicht eingestellt. Dieser Service sei nicht kostendeckend zu betreiben, hieß es, zu aufwendig, zu teuer, veraltet.
Nun aber haben zwei private Anbieter den Autozugdienst übernommen: Urlaubs-Express und Bahn-Touristik-Express. Heute reisen Greeny, Pieps und ich im UEX nach Lörrach und in drei Wochen fahren wir im BTE zurück nach Hamburg.
Auf dem Dach des Abfertigungshäuschens steht noch immer DB AutoZug. Es wird eine Weile dauern, bis sämtliche Spuren des alten "Autoreisezuges" gegen neue Slogans ausgetauscht worden sind, aber das ist uns egal, wir wollen nur bequem über Nacht in den Urlaub schlafen, während sich neben uns der Verkehr über die Autobahn quält.
Greeny steht allein am Check-In, als nach und nach immer mehr Motorräder eintreffen. Es wird voll in der Präsident-Krahn-Straße, denn heute Abend fahren auch die Autozüge nach Innsbruck und Wien von Altona ab.
Ich tuckere langsam nach vorne und stelle mich in die Spur mit der großen Zwei. Jetzt brauche ich nur noch zu warten, bis die Verladung beginnt und ich auf den Zug fahren darf.
"Sie können hier aber nicht stehen!", spricht mich ein DB-Mitarbeiter bestimmt an.
"Watch me!", würde ich an jedem anderen Tag sagen und dabei herausfordernd grinsen, doch stattdessen erkläre ich freundlich, dass ich gleich nach Lörrach eingeschifft werden soll.
"Nach Lörrach? Wann soll das sein? Heute?" Lautes Gelächter. "Wir haben gar keinen Zug und wissen auch von keinem. Fahren Sie das Motorrad mal an die Seite. Erstmal werden jetzt Wien und Innsbruck abgefertigt."
Chaos und Verzweifelung bei der Abfertigung sind das Normale. Das gilt für Fähren und Autozüge gleichermaßen. Irgendjemand weiß immer nicht Bescheid, Computer funktionieren nicht, oder können nicht bedient werden, Mitarbeiter sind nicht eingewiesen und überhaupt benimmt sich jeder so, als sei heute sein allererstes Mal.
Für den Kunden bedeutet das, Ruhe zu bewahren und stur auszuharren. Solange man einen Ausdruck seines Tickets dabei hat, wird am Ende alles gut. So war es immer und so ist es auch heute: Gegen 22.00 Uhr geht es urplötzlich los: "Aufsitzen!"
In einer fließenden Bewegung schwinge ich mich aufs Motorrad, stelle dabei die Zündung an, streife den Helm über, starte den Motor, Gang rein und los. Greeny ist unschlagbar schnell startklar zu machen, hinter mir ist eine Weile niemand zu sehen.
Die Leute der DB-Sicherheit sperren kurzfristig den Bahnsteig ab, die wenigen Menschen, die jetzt noch auf dem Bahnhof sind, bleiben stehen, und ich rolle im 1.Gang langsam von hinten in den letzten Wagon. Die Einfahrt ist unfassbar niedrig und ich liege mit dem Kopf flach auf dem Tankrucksack, die Beine nach hinten ausgestreckt. So rumpele ich langsam über die Metallplatten von Wagon zu Wagon.
Nachdem ich durch sämtliche Wagen durch bin, steht vorne ein oranger Arbeiter und weist mich ein. Am schwierigsten ist es, von der hochbeinigen Enduro herunter zu kommen, denn es ist einfach kein Platz und so ist es eher ein kontrolliertes aus dem Sattel fallen lassen, als ein Absteigen.
Das Gepäck ist ein großes Thema beim Reisen mit dem Autozug: Was darf draufbleiben und was muss runter? Meiner Gepäckrolle drohen im Prinzip drei Gefahren: Sie kann wegwehen, sie kann geklaut werden, oder Beides. Es gibt jede Menge Geschichten über Banden, die auf freier Strecke aufspringen, während wir auf dem Nebengleis halten, um einen ICE vorbei zu lassen, die fette Beute machen und beim nächsten Halt wieder verschwinden. Heute können sie lange warten, denn wir haben drei Stunden Verspätung.
Ich glaube weder an ICEs, die mit 300 Sachen vorbeirauschen und Gepäck abreißen, noch an marodierende Banden, die Isomatten und Schlafsäcke klauen. Am liebsten lasse ich alles am Motorrad, denn es ist ätzend, die sperrigen Taschen in das ohnehin viel zu enge Abteil zu schleppen und außerdem ist es am nächsten Morgen spannend, ob noch alles da ist.
Dafür hat keiner der beiden Experten Rotwein oder Käsegebäck dabei, was auch einer gewissen Maus nicht verborgen bleibt: "Ammertöhre, näh?!"
Ich ziehe die Stiefel und die Motorradsachen aus und verstaue sie unter meinem Sitz. Dafür gönne ich mir Rotwein, Ballerinas und den Jeansmini und Pieps eine Schachtel von dem richtig guten Käsegebäck, das wir beide so lieben.
Am Boden der Miniflasche Rotwein klappe ich das Bett herunter und mache es fertig für die Nacht. Es ist spät geworden und ich bin müde. Der Waschraum am Ende des Ganges wirkt wie aus der Zeit gefallen. Sogar eine original Seifenraspel mit Drehrad hängt an der Wand. Alles tipptopp gepflegt und sauber, auch wenn der Besucher nach uns nachher etwas anderes behaupten wird.
zum nächsten Tag...
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