Doch am 5. Tag...
Heute Nacht habe ich mit Gipsverband geschlafen, mit meinem Halstuch über den Augen. Es sitzt so stramm, dass es sich anfühlt, als ob die Augäpfel direkt auf den Stirnlappen gepresst werden, aber dafür nimmt mich das völlig aus der Welt, wie das nicht mal Klosterfrau Melissengeist schafft.
Ich schnappe mir Pieps, die sonst gerne mal verschwindet, wenn es ums Waschen geht, und gehe hinüber ins Waschhaus. Eine Dame, etwa 10 Jahre älter und noch einmal 50 Pfund schwerer als ich, steht in einem lindgrünen Bademantel vor dem Spiegel und richtet ihre Frisur: "Bonjour, madame", geht es hin und her.
Sie strahlt eine erhabene Eleganz aus, so als stünde sie nicht in einem grün gestreiften Bademantel des vergangenen Jahrhunderts vorm Spiegel auf dem Klo vom Campingplatz. Das macht eine wahre Dame aus: Haltung. Nun, ich lerne ja noch.
Nach dem Besuch im Waschhaus packe ich meine Sachen und mache die Enduro reisefertig. Für heute Morgen habe ich Croissants und Kaffee bestellt, die im Gemeinschaftszelt auf mich warten. Es ist so ein Gruppenzelt, wie man es aus dem Jugendlager, oder vom roten Kreuz aus Krisengebieten kennt. Auf einem Tisch stehen Tüten mit Gebäck und auf einer steht mein Name: Kuehnke, 2 croissant.
Später als geplant starten Greeny, Pieps und ich vom Campingplatz. Wir werden noch ein Stück die Loire entlangfahren, aber heute Abend zelten wir schon in der Bretagne, unserem eigentlichen Urlaubsziel.
Zufrieden mit mir und der Welt wandere ich zurück zu meinem Motorrad, setze den Helm auf, streife die Handschuhe über und drehe den Zündschlüssel im Schloss: Nichts.
Ich drehe den Schlüssel zurück auf OFF und wieder auf ON. Nichts, das Display bleibt stumm. Kein Leuchten, kein Blinken, keine Kawasaki-Bordcomputer-Test-Show, keine Warnleuchte, gar nichts.
"So ein Scheiß!", Dupins Lieblingsfluch für ernste Gelegenheiten und nun auch meiner. Kein Strom. Entweder ist eine Sicherung durchgebrannt, oder die Batterie ist leer. Völlig leer, so dass gar nichts mehr geht? Beides ist wenig wahrscheinlich, denn vor ein paar Minuten war noch alles tadellos in Ordnung. Ich werde basteln müssen, auch wenn ich das hasse.
Ich lade das komplette Gepäck ab und krame das Original Kawasaki Bordwerkzeug hervor. Das enthält alles, was man braucht, auch wenn die Qualität des Werkzeugs nur eine Vierminus ist. Dennoch: Mehr als das braucht kein Mensch, denn ohne passende Ersatzteile ist auch die Premium Werkzeugrolle von Touratech nutzlos.
Eine Sicherung nach der anderen ziehe ich heraus und halte sie gegen das Licht. Alle sind völlig in Ordnung. Schade, das wäre so schön einfach gewesen, denn neben jeder steckt passender Ersatz. Nur an die große Hauptsicherung der Starterbatterie kome ich nicht heran. Die sitzt verbaut in den Tiefen des Kabelbaums. Ich bin mit meinem Latein am Ende.
"F R A N K R E I C H", sage ich auf diese gekünstelte, überdeutlich betonte Weise, die man automatisch annimmt, wenn man mit Siri, Alexa und Konsorten spricht.
Ich verbringe mehrere Minuten in der Warteschleife, bis sich eine männliche Stimme meldet: "Thomas Soundso, wie kann ich Ihnen helfen?"
Ich nenne meine Mitgliedsnummer, erkläre, wo das Problem liegt und sage genau, wo ich stehe: Auf der D952 etwa 500 m vor La Bohalle. Es sei viel zu tun heute Morgen, sagt Thomas. Ich solle etwa 45 Minuten warten, aber dann käme Hilfe.
In den ADAC bin ich eingetreten, weil ich mit meiner Suzuki DR500 nach Frankreich fahren wollte und Angst vor einer Panne hatte. Die einzigen Unterschiede zu heute waren: Kick- statt E-Starter, 500cc statt 250cc, und zwei Schlafsäcke statt einem, meine 16-jährige Freundin saß hinten drauf. Ich in Lederjacke, Jeans und Turnschuhen, sie im Minikleid mit Pumps. Das war 1982, wir waren so jung. Eine Panne hatten wir damals nicht und hatte ich auch später nie. Heute ist Premiere, komplett mit Liegenbleiben und ADAC.
Eine knappe Stunde später biegt ein Abschleppwagen auf den Parkplatz ein. Ein junger Mann mit kurzen Haaren, Brille und einem sympathisch verlegenen Lächeln steigt aus. Leider stellt sich heraus, dass er noch weniger Englisch spricht, als ich Französisch, nämlich kein Wort.
Ich zeige ihm, wo das Problem liegt, indem ich immer wieder die Zündung drehe und sich nichts tut. Er geht zum Wagen und kommt mit einer großen Autobatterie und Starthilfekabeln zurück. Greenys Batterie liegt bereits offen und er überbrückt den Stromkreislauf der KLX mit den fetten Kabeln und: Nichts!
Tatsächlich testet er nur die Hauptsicherung, die ich nicht herausbekommen habe. Er macht es, wie Männer das eben tun: Mit Gewalt und ohne Angst, dabei etwas kaputt zu machen. Jungs gehen instinktiv davon aus, dass sie den Schaden wieder reparieren könnten.
Doch auch die Hauptsicherung ist ok. Das war es nicht. Der Fehler liegt woanders.
"MOTO EN GARAGE!", wendet Jean-Luc meine Technik gegen mich und es funktioniert, ich verstehe ihn.
"Kawasaki Saumur?"
"No. Kawasaki Angers!" Beinahe eine richtige Unterhaltung.
Er lädt das Motorrad auf den Wagen und verzurrt es mit geübten Griffen, während ich das Gepäck im Auto verstaue. Helm und Tankrucksack kommen in den Fußraum, Zelt und Gepäck auf den mittleren Sitz.
Jean-Luc heizt den alten Diesel durch jeden Kreisverkehr, dass es eine Freude ist. Wenn er Greeny dabei von der Ladefläche kippt, wird unsere Freundschaft ein jähes Ende finden, denke ich, aber er schafft es unfallfrei bis nach Angers.
Jean-Luc bringt den Sprinter neben dem Laden zum Stehen und stiefelt zum Seiteneingang. Mit der Faust hämmert er gegen eine geschlossene Eisentür. Nach einer Wartezeit, die gerade noch angemessen ist, öffnet sich die Tür einen Spalt weit und ein junger Mann schaut misstrauisch heraus. Die Beiden wechseln ein paar Worte und die Tür schließt sich erneut.
Nach einer Weile kommt ein anderer Mann heraus, um Jean-Luc zu helfen. Die Beiden laden das Motorrad ab und stellen es auf dem Hof neben einigen anderen Patienten ab. Mein Gepäck darf ich hinter der Eisentür abstellen.
Der Mechaniker spricht ein paar Brocken Englisch und sein wichtigstes Anliegen ist mir zu erklären, dass jetzt Mittag sei. Ich solle in zwei Stunden wiederkommen. Ich nicke verdutzt und er verschwindet wieder hinter der Eisentür, die mit einem satten Geräusch von innen verriegelt wird.
Dann gehe ich jetzt auch etwas essen. Mit der Endurojacke über dem Arm schlendere ich die Motorradmeile entlang. Nicht nur sämtliche Geschäfte sind geschlossen, sondern ganz Frankreich scheint außer Betrieb. Sollte jemand auf die Idee kommen, in Frankreich einzufallen, dann wäre 12 Uhr der perfekte Zeitpunkt dafür. Die Mittagspause ist den Franzosen heilig. Vor 14 Uhr wird sich einem niemand in den Weg stellen.
Ich mag die französische Haltung. Bei uns im Büro sind 30 Minuten Mittagspause, in der ich ein mitgebrachtes Brötchen, eine Frikadelle, oder irgendein Schnellgericht in mich reinstopfe, mit einem Auge am Computer und mit dem Ohr am Telefon. Ich hasse das, schaffe es aber nicht, diese Routine zu durchbrechen.
Ein wenig hilflos schlendere ich durch das Gewerbegebiet, bis ich in einer Seitenstraße ein Restaurant finde. Das L'Ange Vin ist gut besucht, die meisten Tische sind besetzt. Wie aus dem Nichts erscheint ein Kellner und begleitet mich an einen freien Tisch. Der Laden ist etwas vornehmer, als ich es sonst gewohnt bin, gedämpftes Licht, gedämpfte Unterhaltung, alles still und angenehm klimatisiert.
Eine Kellnerin schiebt unter einigem Aufwand eine fast mannshohe Tafel auf Rädern herbei. Darauf steht in Kreide das Tagesgericht, Plat Du Jour, ein ellenlanger Text. Ich verstehe kein Wort und winke höflich ab. Sie schiebt die Tafel zurück in die Versenkung und ich schlage die dicke, ledergebundene Speisekarte auf.
Natürlich kenne ich die Empfehlung, wonach man in Frankreich stets das Plat Du Jour bestellen sollte, weil es ein komplettes Menü ist, dazu frisch und besonders preiswert, aber ich bin eigensinnig und manchmal etwas starrköpfig.
Seitenlang blättere ich durch die Karte, aber außer Worten wie Pommes Frites, Mayonnaise und Coca Cola kommt mir nichts vertraut vor. Doch: Cassoulet, das kenne ich. Das ist so ein leckerer französischer Bohneneintopf mit Speck und Wurst, den bestelle ich in Kiel manchmal im Ble Noir. Dort kostet die Miniportion 6,80 € und hier steht es in der Karte mit 13,50 und wird eine Riesenportion sein.
Zufrieden winke ich die Kellnerin herbei und zeige auf den Eintrag in der Speisekarte. Sie schaut mich mit erhobenen Augenbrauen zweifelnd an, aber ich bin eine Frau von Welt und weiß genau, was ich will. Entschlossen deute ich auf Cassolette de rognons und nicke dazu energisch mit dem Kopf. Mit einem Achselzucken verschwindet sie in Richtung Küche.
Während ich auf das Essen warte, hänge ich meinen Gedanken nach. Wo werde ich heute schlafen? Besorgt der ADAC mir ein Hotel? Fahre ich da mit dem Taxi hin? Und was ist, wenn die Reparatur Tage dauert? Fahre ich dann nach Hause? Mit der Bahn, oder nehme ich einen Mietwagen? Und wie bekomme ich mein Motorrad zurück? In 35 Jahren Motorradreisen ist das meine erste echte Panne. Ich bin etwas durcheinander.
Während ich noch in Endzeitstimmung schwelge, erscheint die Kellnerin mit dem Essen und im Nu bin ich der zweifelnde Blick mit fragend erhobenen Augenbrauen: Auf dem Teller liegen eine Handvoll Pommes Frites, ein Salatblatt und ein winziges Schälchen Champignons in Sauce. Keine Bohnen, keine Wurst.
Mit einem "Bon appetit madame" und einem Blick, den ich nur als freundlich schadenfroh lächelnd beschreiben kann, verschwindet sie nach hinten durch die Schwingtür zur Küche.
Ich stecke das Stück in den Mund und beginne zu kauen. Puh, das ist nicht lecker. Die Sauce schmeckt säuerlich, wie Rotwein mit Essig und der Pilz ist halbroh und ungewöhnlich fest. Es schmeckt mir nicht und ich lasse sogar einen kleinen Rest übrig, was ich sonst nie tue.
Zum Nachtisch bestelle ich Pfefferminzeis, um den Geschmack von Champignons in Essig wieder loszuwerden. Inzwischen dürfte auch die Kawacrew mit dem Essen fertig sein. Ich bezahle und mache mich auf den Weg.
Bei Kawasaki herrscht inzwischen reges Treiben. Von solch einem Betrieb können viele deutsche Motorradhändler nur träumen. Motos haben in Frankreich einen viel höheren Stellenwert, als bei uns.
Ich stelle mich an den Tresen und ein Meister nimmt den Werkstattauftrag an. Er ist sehr höflich und spricht ausgezeichnet Englisch. Ich beschreibe den Schaden und erkläre ihm, dass ich auf einer Urlaubsreise bin, ganz allein, völlig hilflos und am liebsten heute noch weiterfahren möchte. Die Karte weiblicher Hilflosigkeit spiele ich nur in der größten Not.
Er verspricht sein Möglichstes und übergibt den Auftrag an einen Mechaniker. Auf dem Namensschild steht Yvon.
In einer Ecke dürfen sich Kunden mit Kaffee, Wasser und Zeitschriften bedienen. Der Laden ist ein wahrer Kawasaki Tempel. Sie haben sogar eine nagelneue HR2 da. Ob ich eine Probefahrt buchen soll? Nein, lieber nicht. Ich habe das Video gesehen: Die HR2 ist ist zwar die erste Serienmaschine, die die 400 km/h Marke knackt, aber die Beschleunigung ist ein Witz. Die 250 erreicht sie in einem Wimpernschlag, 320 nur Augenblicke später, aber ab 340 km/h zieht sie keine tote Henne aus dem Nest.
Ich stell mir nur vor, ich will gerade einen Tie-Fighter überholen: Der zieht rechts rüber, ich komme aus dem Windschatten, reiße den Hahn auf und dann ... Nichts.
Nein, auf sowas kann ich verzichten, ich mach mich doch hier nicht zum Löffel. Dann interessiert mich schon eher die neue Versys-X 300, die mir mein Kawasaki Händler als Nachfolgerin für Greeny empfohlen hat.
Plötzlich höre ich Greeny rufen: Sie läuft! Der vertraute Einzylinder bollert in der Werkstatt und klingt ganz munter. Kurz darauf heizt Yvon zu einer Probefahrt vom Hof und man sieht, dass er weiß, was er tut.
Ich bin so glücklich und dankbar, dass ich Yvon am liebsten im Kreis herumschwenken würde. Die Rechnung beträgt bloß 87,50 €. Ich gebe einen Hunderter und bin zufrieden. Das war super Service, die Jungs haben Greeny sofort rangenommen, obwohl die Werkstatt regelrecht brummt am Saisonbeginn.
Es ist 16 Uhr, als ich endlich aus Angers losfahre. Normalerweise wäre ich jetzt schon auf dem Zeltplatz, aber nun habe ich noch fast die gesamte Tagesetappe vor mir. Vom Plan abweichen? No Way! Heute wird nicht mehr besichtigt, keine Fotostops und kein Kaffee. Ich ziehe die Strecke durch mit +10 im Ort und +20 km/h auf der Landstraße.
Heute will ich am Mont Saint Michel zelten, Frankreichs zweitgrößter Sehenswürdigkeit nach dem Eifelturm. Der Campingplatz dort erschien mir wenig einladend, weil er vermutlich völlig überlaufen ist. Die komplette Halbinsel, auf der auch das Camp liegt, ist abgesperrt und man muss vorher dort anrufen, dann wird einem der Code für die Schranke übermittelt.
Eine Stunde vor Saint Michel rufe ich auf dem Campingplatz an: "Please hold the line", klingt es in mehreren Sprachen vom Band, im Hintergrund Musik. Nach kurzer Wartezeit nimmt ein Dispatcher den Anruf an und erklärt in stakkatohaftem Englisch, wie es jetzt weitergeht und was es kosten wird. "Merci madame", lege ich auf und weiß genau: Da werde ich in hundert Jahren nicht zelten.
Stattdessen habe ich als Plan B ein kleines Familiencamp ganz in der Nähe ausgesucht. Von dort sind es nur 8 km zum Kloster. Morgen werde ich einen Jokertag einlegen und mir alles in Ruhe anschauen.
Pieps ist stiller als sonst und kuscheliger. Das kleine Malheur mit Greeny hat sie erschreckt. Während ich die Würste brate, beschäftigt sie sich mit dem kleinen, bösartigen Ziegenkäse, der von gestern übrig geblieben ist.
Welch ein Glück, dass ich diese ADAC Plus-Mitgliedschaft habe. Heute habe ich sie zum ersten Mal gebraucht. Obwohl ich für 35 Jahre Mitgliedsbeitrag auch mit dem Taxi hätte nach Hause fahren können.
Ich habe mich schon erkundigt: Die Pannenhilfe gilt sogar auf Island.
zum nächsten Tag...
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