Couleurs de Bretagne
Bevor ich starte, besorge ich mir Kaffee und Gebäck. Der Monsieur de la Camping drückt mir das Croissant einfach in die Hand. Auch der Schlachter im Super-U greift voll ins pralle Leben, wenn er mit seinen großen Händen ein halbes Dutzend Bratwürste aus der Wanne greift. Keine Zange, keine Gabel, keine Handschuhe. Sie haben ein entspanntes Verhältnis zum Essen, die Franzosen.
Nachdem ich meine Feststellungen und Theorien über die Franzosen im Allgemeinen und die französische Volkswirtschaft im Besonderen niedergeschrieben habe, starte ich in allerbester Stimmung in einen sonnigen Urlaubstag in der Bretagne.
Zwei Stunden später, so gegen 10:30 Uhr, habe ich: • bereits 8 Fotostopps eingelegt,
• mein erstes halbes Dutzend roher Austern gegessen,
• erst 29 km zurückgelegt,
• meine Begeisterung für die Farben der Bretagne entdeckt.
Aber von Anfang an: Ich habe gerade erst in den sechsten Gang geschaltet, als ich nach wenigen Kilometern eine Wiese voller Mohnblumen erblicke, die leuchtend rot unter einem kornblumenblauen Himmel blühen, im Hintergrund eine alte Windmühle.
"Postkartenalarm!", denke ich, stelle das Motorrad ab und mache die Kamera scharf.
Die Farbenpracht ist ganz ungewöhnlich und doch habe ich so etwas schon einmal gesehen und erlebt: In Schottland! Wie verblüfft war ich, soweit im Norden im rauhen Schottland diese karibischen Farben zu sehen. Anderes Land, selbes Meer.
Auf dem letzten Stück entlang der Küste duftet es in meinem Helm aus heiterem Himmel intensiv nach Bratkartoffeln. Ein köstlicher Duft. Wo kommt der her, ich hab mir doch die Zähne geputzt?
Dann entdecke ich die Ursache: Es sind die Zwiebelfelder links und rechts der Straße. Die Pflanzen reifen in der Sonne und verbreiten einen betörenden Duft von Bratkartoffeln mit Speck, jedenfalls ist es das, woran ich denke.
Ich parke das Motorrad in Cancale am Hafen und gehe auf Besichtigungstour. Es ist Ebbe und das türkise Wasser hat sich zurückgezogen. Ein Segelboot liegt trocken im Sand. Der Tidenhub beträgt hier gigantische 14 Meter und nicht immer liegt das Meer so ruhig in der Sonne wie heute. Hohe Mauern sollen den Ort schützen, wenn im Herbst die tobende See gegen die Küste anrennt.
Neugierig schlendere ich auf der Kaimauer entlang. Es gibt viel zu sehen, das Meer lässt die interessantesten Dinge zurück. Überall liegen die weißen Sepiaschalen herum, der Rückenknochen des zehnarmigen Tintenfischs, die man sonst nur aus Käfigen von Wellensittichen kennt.
Gleich werden es nur noch sieben sein: "Je ne parle pas français", spreche ich die alte Dame am ersten Stand an und zum ersten Mal kommt mein entschuldigender Standardsatz, wonach ich kein Französisch spreche, nicht gut an. Unter buschigen Augenbrauen sieht sie mich unfreundlich an und knurrt merklich angewidert: "Anglais", Engländer. Mit einem nahezu unmerklichen Nicken ihres Kopfes deutet sie auf einen Stand, an dem eine hübsche, junge Frau auf Kundschaft wartet. Sie trägt eine leuchtend pinke Fleecejacke und passt so gar nicht zu den anderen Frauen.
Die junge Frau ist deutlich zugänglicher. Sie spricht tatsächlich Englisch und außerdem mag ich ihre Perlenohrringe.
"I have never eaten oysters before and would like to try."
"Minimum is six."
"That's ok, no problem."
Sie streift einen dünnen Kettenhandschuh über, nimmt ein Messer mit kurzer robuster Klinge und öffnet im Nu alle sechs Austern, ohne dass ich überhaupt erkennen kann, wie es geht. Die Muscheln legt sie auf einen Plastikteller mit 12 Fächern, nimmt eine Zitrone, halbiert sie und legt eine Hälfte in das Fach in der Mitte des Tellers. Dazu überreicht sie mir eine winzige Gabel, kleiner als die vornehmste Kuchenzinke im Café Sacher.
Den Teller mit meiner Beute trage ich zu einer Bank, die etwas abseits steht. Dieses Erlebnis will ich ganz in Ruhe genießen. Behutsam klappe ich die erste Muschel auf. Ihre Schale ist krustig dick mit Spuren von Seepocken. Innen aber ist sie ganz klar und glatt, reines Perlmutt und schön anzusehen. In der Schale liegt ein hellgrauer nur wenige Millimeter dicker Kranz aus Muskelfleisch.
Ich schabe das Fleisch mit der winzigen Gabel vom Perlmutt herunter und stecke den ersten Bissen in den Mund. Meine erste Auster will ich ohne Zitrone probieren, damit ich richtig hinschmecken kann.
Der erste Eindruck ist ... salzig, nass, kalt. Nicht Fisch, nicht Fleisch, weder unangenehm, noch besonders lecker. Wenn ich im Meer geschwommen bin, habe ich denselben Geschmack im Mund. Bevor ich ein zweites Mal hinschmecken kann ist sie schon aufgegessen. Man müsste Dutzende essen, um davon satt zu werden.
Die nächste esse ich mit Zitrone, aber die Säure überdeckt alles, so dass man nur Zitrone und Salz schmeckt, wie ein Tequilla ohne Alkohol. Nach der sechsten Muschel weiß ich immer noch nicht, ob ich Austern nun mag oder nicht mag. Eher nicht, aber ich werde sie an einem anderen Tag noch einmal neu probieren, nur um sicher zu gehen.
Ich schleudere die leeren Austernschalen über die Kaimauer, wo sie klappernd zwischen den Felsen landen. Nur eine, die Schönste, die hebe ich auf, um sie Claudia mitzubringen. Sie hatte sich eine für ihre Vitrine gewünscht.
Ich bin fast froh über die Abwechslung, als ich in Plancoët an einem Hyper-U vorbeikomme und die Gelegenheit zum Einkaufen nutze. Hyper-U sind die größten Märkte der Kette, größer als Super-U und Intermarche, aber kleiner, als Mega-U. Oder war es umgekehrt?
Dieser Supermarkt ist ein wahrer Tempel des Konsums. Hier gibt es alles, was Pieps und ich gerne mögen und auch ein paar Sachen, die wir nicht leiden können. Sicherheitshalber mache ich einen großen Bogen um die Abteilung Innereien, Nieren und blutige Pilze.
In der Fachabteilung für Rotweine erstehe ich eine 0,35 Liter Flasche Bordeaux, die perfekte Reisegröße. Genug, um abends im Zelt einen Genuss davon zu haben, aber nicht genug, um ernsthaft betrunken zu werden.
Gleich um die Ecke gibt es Fische und Meeresfrüchte. In großen Weidenkörben liegen Langusten, gruselige Seespinnen und finster dreinblickende Riesenkrebse.
Vier Dinge kann ich auf Französisch sagen, da bin ich wirklich textsicher: Ich kann einräumen, kein französisch zu sprechen, kann Kaffee und Croissant bestellen, kann behaupten, mein Motorrad habe einen Platten und ich kann Entrecôte bestellen. Das kann ich sogar richtig gut: "Une Entrecôte s'il vous plaît", strahle ich den Metzger an.
Im Grunde kann ich damit sogar fünf Dinge sagen. Nicht viel für einen Simultandolmetscher der UNO, aber ich komme damit gut über den Tag.
Als ich gegen 18 Uhr das Motorrad auf den Campingplatz Roz Ar Mor lenke und vor der Rezeption anhalte, steht dort ein alte Dame auf einen Stock gestützt und sieht mir entgegen, so als hätte sie mich erwartet. Es war ein langer Tag im Sattel und ich seufze tief, als ich den Motor abstelle und den Helm abnehme, wie ich das unbewusst manchmal tue, wenn die Entspannung einsetzt, oder Pieps etwas Tiefsinniges gesagt hat.
"Arivee", lacht die alte Dame verständnisvoll, strahlt mich aus jungen Augen fröhlich an und beginnt aus dem Stand eine angeregte Unterhaltung, ohne sich daran zu stören, dass ich kein Französisch verstehe. Ich feuere auf Deutsch und Englisch zurück und wir unterhalten uns bestens, ohne dass Eine nur ein Wort der Anderen versteht. Der perfekte Smalltalk.
Kommt es mir nur so vor, oder schmeckt im Urlaub alles besser? Wenn ich abends den Rotwein in den kleinen Metallbecher gieße und das saftige Steak vom Teller auf meinem Tankrucksack esse, dann ist es für mich das beste, edelste und leckerste Abendessen, das ich mir wünschen kann. Es geht mir gut und ich bin rundherum glücklich.
zum nächsten Tag...
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