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Mont Saint Michel
Heute Morgen bleibt das Zelt stehen, denn Pieps und ich nehmen einen freien Tag. Wir wollen uns Mont Saint Michel ansehen, den berühmten Klosterberg und sitzen schon früh unter Palmen vor der Rezeption bei Kaffee und Babyccino. Dabei gute Laune zu haben ist nicht schwer. Die kleine Panne von gestern ist längst vergessen.
Der Mont Saint Michel ist neben dem Eifelturm die französische Sehenswürdigkeit, auch wenn ich selbst bis vor kurzem nicht einmal wusste, dass es ihn gibt und Bilder davon nur für eine Kulisse aus Herr der Ringe gehalten hatte.
Ein schmaler Wirtschaftsweg führt vom Campingplatz zwischen Feldern hindurch zu den Großparkplätzen am Mont Saint Michel.
Nach ein paar Minuten überquere ich den Couesnons, den Fluss von dem unser Camp seinen Namen hat. Von der Brücke aus entdecke ich über den schlammigen Fluss hinweg zum ersten Mal die typische Form der weltberühmten Silhouette. Nicht aus Herr der Ringe, nicht Hogwarts oder Westeros. Dies ist das Original, der Mont Saint Michel.
Der Motorradparkplatz P9 ist riesig, hier können hunderte Maschinen parken, aber heute Morgen ergibt eine exakte Zählung genau: 1. Greeny bereits eingerechnet.
Der Parkplatz liegt mitten in der Pampa und auch wenn der heilige Berg von hier ganz nah wirkt, so liegt er doch eine Stunde Fußmarsch entfernt, aber das weiß ich jetzt noch nicht und wundere mich nur über den Shuttleservice. Was ist das denn für ein Weichlappenkram? Denke es und marschiere stramm los in Luftlinie auf das Kloster zu.
So ungefähr auf der Hälfte des Weges, als ich schon eine halbe Stunde über Wiesen und Felder, Gräben und Zäune gestiegen bin, beginne ich diesen kostenfreien und wundervollen Service mit anderen Augen zu sehen.
Eine Brücke verbindet die Klosterinsel mit dem Festland. Die Shuttlebusse fahren beinahe im Minutentakt pausenlos an mir vorbei und bringen Touristen und Schulklassen aus aller Welt auf die Insel. Es sind Spezialbusse, die nicht wenden müssen, sondern wie eine Lokomotive von rotem Rücklicht auf weißen Dreispitz umschalten und in die Gegenrichtung davonfahren. Diese Busse haben kein Vorne und kein Hinten.
Mit jedem Schritt, den ich auf Mont Saint Michel zugehe, wird er gewaltiger. Ich erinnere mich nicht an sämtliche Schlösser und Burgen, Kirchen und Klöster, die ich je gesehen habe, aber eines ist sicher: Keines war beeindruckender, überwältigender, dramatischer, unvergesslicher und enormer als die Klosterinsel Mont Saint Michel. Welch ein Bauwerk! Für einen Moment erfüllt mich tiefer Stolz, dass WIR das gebaut haben, Menschen, Christen, Europäer, auch wenn ich selbst nicht einmal den LEGO Todesstern zu Ende gebaut habe.
Unaufhörlich steigen gut gelaunte Menschen aus den futuristisch anmutenden Bussen und wandern fröhlich schwatzend die letzten Meter hinüber zum Kloster. Jeder knipst jeden und dann noch einmal sich selbst. Die Masse von Kameras, Objektiven, Fototaschen, iPhones und Selfiesticks ist schier unglaublich. Ich knipse fröhlich mit und halte auf alles drauf, was sich bewegt, oder mehr als tausend Jahre alt ist.
Das Sicherheitskonzept am Klosterberg ist unübersehbar. Polizisten schlendern umher und haben ein Auge auf alles, was im Außenbereich vor sich geht und am Eingang selbst muss jeder Besucher durch ein Spalier von Taschenkontrollen.
Mit dem ersten großen Besucherschwall des Morgens strömen Pieps und ich durch das Tor. Das Café am Beginn der Grand Rue, der Hauptstraße, öffnet gerade erst. Ich lasse die Schulklassen, Pärchen und Senioren ziehen und setze mich auf die Terrasse Mere Poulard zum Frühstücken: Kaffee und Croissant für mich, Babyccino und Schokokekse für Pieps.
"Alles voller Touris!", stöhnt mancher, aber heute stört mich das nicht die Bohne. Natürlich bin Ich kein Touri, sondern Globetrotter, Adventure- and Endurogirl, ein freier Geist auf Reisen. Dumm nur, dass alle anderen sich selbst genauso sehen.
Die Grand Rue ist die Straße der Händler, der Souvenirläden und Restaurants, der Eisverkäufer und Bäckereien und wenn es je ein willfähriges Opfer dieser Bande gab, dann bin ich das. Schon am ersten Bäckerstand kann ich nicht vorbeigehen, ohne ein Croque Monsieur zu kaufen, eine Köstlichkeit aus heißem Käse, knusprigem Brot und Kochschinken.
Jedes Geschäft ist auf seine Weise einzigartig und verkauft etwas Besonderes, das man nicht an jeder Ecke wiedersieht. Nicht alles ist billiger Tand, sondern man findet viel Schönes und Überraschendes und selbst die Preise gehen in Ordnung. Offenbar gibt es strenge Regeln für die Händler im Kloster.
Sobald man aus der Grand Rue in eine der Seitengassen abbiegt, ist man allein unterwegs. Eine steile Treppe mit vielen Stufen führt weg vom Trubel der Hauptstraße. Ich folge ihr ohne zu wissen, wohin sie führt.
Als ich auf dem dritten Treppenabsatz stehenbleibe und nach oben schaue, erlebe ich meinen Hogwarts-Moment. Jeden Augenblick könnten Hagrid, Hermine und Harry die Stufen herabsteigen. Ist heute nicht Quidditchtraining?
All die vielen Türmchen, Fenster und Treppen, Dächer, Erker und Mauern. Na bravo, denke ich, Claudia wird tagelang daran arbeiten, eine Miniatur für die Tagesskizze zu zeichnen und meistens wird sie am Ende kaum wahrgenommen, aber ich liebe ihre kleinen Illustrationen, die wir am Computer von DIN A4 auf Briefmarkengröße eindampfen.
Immer wieder begegnen mir einzelne Polizisten, die bewaffnet in den Gassen patroullieren und mir fällt ein, dass ich in der Waffenkammer noch ein Upgrade für meine Schutzweste abholen muss. Sie bekommt zusätzlich einen Stichschutz. Darum muss ich mich nach dem Urlaub gleich kümmern. Wir leben in verrückten Zeiten, denke ich kopfschüttelnd und gehe mit Pieps im Arm tiefer in das Labyrinth der Gänge hinein.
Von der Balustrade am Fuß der Kathedrale hat man einen erstklassigen Blick ins Watt. Der Meeresboden ist tückisch: Wasserlöcher, Treibsand, Seenebel und der irrsinnige Tidenhub sorgen dafür, dass die Retter nicht arbeitslos werden. Über den Gezeitendamm wird zweimal täglich das gestaute Wasser des Couesnons abgelassen. Millionen Kubikmeter Wasser strömen urplötzlich mit Macht in die Bucht. Wer dann mit Kinderwagen, Oma und Rollator im Watt unterwegs ist, um Würmer und Muscheln zu sammeln, steht am nächsten Tag in der BILD-Zeitung, vielleicht sogar mit Foto.
Allmählich habe ich genug gesehen. Länger als ein bis zwei Stunden halte ich es an keiner Sehenswürdigkeit aus. Ich will nur mal gucken, die Stimmung in mich aufnehmen, ein paar Fotos machen und ein, zwei Malzeiten essen. Dann ziehe ich weiter.
Auf dem Rückweg durch die Grand Rue schwimme ich gegen einen Strom von Menschen an. Der Mann auf dem Campingplatz hatte Recht: Man muss morgens vor 9 am Berg sein, danach wird es schlagartig unglaublich voll.
Ich schlendere durch das Tor in der Klostermauer hinüber zur Bushaltestelle. Die Feuerwehr übt im Watt mit ihren Kettenfahrzeugen. Voller Begeisterung heizen die jungen Pompiers mit den schweren Fahrzeugen durch den Schlick.
Mit dem Shuttlebus fahren Pieps und ich zurück zum Großparkplatz P9. An einem der vielen Parkautomaten löse ich unser Ticket aus und starte die Maschine.
Bevor wir zurück ins Camp fahren, müssen wir einkaufen. Der Supermarkt in Pontorson liegt auf unserem Weg und kurz darauf schlendere ich mit dem Korb in der Hand durch die Gänge. Zuerst kaufe ich eine große Flasche frisch gepressen Orangensaft. Claudia schimpft immer, dass ich zu wenig Vitamine esse, dabei hat Fleisch Unmengen davon, aber keinen Zucker. Außer, das Rind hatte Diabetes.
Im Fleischtresen entdecke ich zwischen Koteletts, Steaks und Bratwürsten ein seltsames Paket, das aussieht, wie Alien in Aspik. Veau Rognons steht auf der Packung. Als ich den Begriff Wochen später in Google Translate eingebe, wird mir klar, was die blutenden Pilze im Restaurant in Angers tatsächlich waren: Kalbsnieren!
Pieps und ich verzichten voller Entsetzen und machen uns auf die Suche nach etwas, das wir kennen und mögen: Bratwürste, die hier Chipolatas genannt werden und sich gerade zu unserem neuen Lieblingsgericht entwickeln. Ich kaufe sechs Würste, zwei Kassler Koteletts und einen kleinen Karottensalat. Karotten sind gesund. Claudia wäre stolz auf mich.
Pieps hat sich ein Picknick gewünscht und zurück auf dem Campingplatz habe ich Spaß daran, unsere Picknickdecke im Gras auszubreiten und alles aufzudecken. Wir sitzen im Schatten einer Platane und genießen unseren Jokertag.
Ich liege auf dem Rücken im Gras und lese auf dem Kindle in Bretonische Flut, einen Krimi um Kommissar Dupin. Darin beschreibt Monsieur Leblanc, der Chef des Meeresinstituts, eine seiner Mitarbeiterinnen, Laetitia Darot:
"Nicht, dass Laetitia unfreundlich zu den anderen gewesen wäre, überhaupt nicht, im Gegenteil, sie besaß ein warmherziges, sympathisches Wesen. Sie hat einfach nur keinen Kontakt gesucht, die Gesellschaft von Menschen war nicht ihre Sache." Quelle: Jean-Luc Bannalec, Bretonische Flut, 2016, Kindle Edition