Inhaltsverzeichnis Dalarna 2024 Tag 1 Kiel - Oslo Tag 2 Oslo - Schweden Tag 3 Värmland - Dalarna Tag 4 Vansbro und ein Knytkalas Tag 5 Nås - Näs Bruk Tag 6 Avesta Tag 7 Tällberg am Siljansee Tag 8 Outback Dalarna Tag 9 Fäbod Fryksås
Im Outback
Die guten schwedischen Tretorn Gummistiefel hatten bis jetzt nichts zu tun, aber für heute meldet der Wetterdienst „Heavy Rain and Thunder this Afternoon“.
Gute Regensachen sind in Schweden niemals verkehrt, und falls doch, freut man sich doppelt.
Wir wollen nach Mora und könnten dazu auf der glatt asphaltierten Rv70 bleiben, aber es gibt eine andere Strecke, die führt buchstäblich durchs schwedische Outback und das ohne einen Meter Asphalt.
Laut Duden ist Outback ein wenig besiedeltes Landesinneres [von Australien] und im Englischen steht es für draußen, weit außerhalb. Da wollen wir hin!
Kurz hinter Rättvik biege ich auf die 301 ab, so was wie die Nebenstrecke der Nebenstrecke.
In Dalbyn, einem Ort, der im Grunde keiner ist, sondern nur aus zwei Bauernhöfen besteht, verlassen wir den Asphalt und biegen nach links ab in den Wald.
Vor uns liegen fast 50 Kilometer durch eine der verlassensten Gegenden Mittelschwedens. Ungefähr auf der Hälfte gibt es eine Landmarke, eine Sehenswürdigkeit, die ich bei Kurviger erst auf der topographischen Karte entdeckt habe, eine Köhlerei, einen Ort, wo Holzkohle gemacht wird.
Solche Attraktionen aus den Kategorien D bis F, die in keinem Reiseführer auftauchen und selbst auf vielen Landkarten nicht markiert sind, mag ich. Sie geben einem das Gefühl, etwas Neues zu entdecken. Ich glaube, das kommt daher, weil man die ganz für sich hat. Man steht völlig allein, den Kompass in der Linken, die Enduro in der Rechten und kann alles in Ruhe in sich aufnehmen, ohne dass die Parkzeit allmählich abläuft.
Den Ort habe ich, so genau es eben geht im GPS mit seinen Koordinaten markiert, aber je nach Karte war der Platz, an dem der Meiler stehen soll nicht ganz eindeutig. Ist es der Weg da vorne ins Unterholz?
Der Weg endet am Ufer eines Sees vor einem erstklassigen Shelter, komplett mit Bootssteg, Boot, Feuerstelle und Holz. Hier könnte man fein übernachten und ein Feuer machen. Die Stelle merke ich mir, zumal die gesamte Strecke weit ab vom TET ist.
Einige Kilometer weiter taucht in der Ferne erneut etwas auf. Steht da ein Bagger mitten auf dem Weg? Steht er!
Er hat einen Graben quer über den Weg ausgehoben und damit stehen das Motorrad, Pieps und ich eindeutig auf der falschen Seite dieser Geschichte.
Links und rechts liegen Sachen, da komme ich nicht vorbei. Und nun?
Ich halte in respektvollem Abstand vor der Baustelle, schalte den Motor ab und gucke vorwurfsvoll, wie nur Frauen es können. Der Baggerführer sieht mich und schüttet mit großem Geschick den Graben wieder notdürftig zu, so dass ich mit der Enduro auf die andere Seite fahren kann. Meine Güte: „Danke schön, toller Service!“
Ein paar Kilometer weiter stehen Schilder am Waldrand, Orsa Kolkraft, Hättvasselån und Grunubergs Sägen. So viel zu sehen mitten im Nichts? Ich mache ein Foto und biege ab in die gezeigte Richtung.
Ich habe es kaum bis in den dritten Gang geschafft, als wir schon da sind. Vällkomma till Orsa Kolkraft mila i Grunuberg steht auf einem schwarz lackierten Sägeblatt in weißer Schrift feinsäuberlich aufgemalt. Das einzige, was ich im Netz darüber finde, ist deren Facebookseite.
Die Holzkohle wurde wohl erst vor kurzem geerntet, denn der Boden unter der Stelle, wo der Meiler stand, strahlt noch immer Wärme ab, ich spüre sie durch die Sohlen meiner Gummistiefel. Ein Duft von heißer Grillkohle liegt über der Stelle.
Die Verkokung von Holz zu Kohle gab es schon im 17. Jahrhundert.
Die Hochöfen zum Schmelzen von Eisenerz wurden mit Holzkohle befeuert.
Umso erstaunlicher ist es, hier mitten im Outback von Dalarna eine noch funktionierende Köhlerei zu finden.
Ende der 1990er Jahre haben sich ein paar Leute aus der Gegend zusammengetan, um das uralte Handwerk des Köhlers zu erlernen. Sie haben schließlich hier am Grunubergssågen den ersten Meiler der Neuzeit errichtet. Seitdem entzündet der Verein Orsa Kolkraft jedes Jahr einen Meiler.
Es gibt ein interessantes, kleines Video davon.
Auf der Sortieranlage werden die Kohlestücke nach Größen gesiebt und in Säcke gefüllt.
Am Fuß der Rampe liegen noch Reste von Holzkohle.
Auf einmal höre ich etwas Großes aus dem Wald kommen. Ich drehe mich um und schaue in die Richtung. Was kommt hier mitten im Outback auf einem schmalen Waldweg angerauscht?
Ein Holzlaster, ein SCANIA Truck beladen mit Stämmen, und langsam fährt der nicht gerade.
Wie gut, dass ich die Honda abseits geparkt habe. Ohne links und rechts zu gucken, brummt er vorbei. Weg ist er. Meine Güte, das war eine Begegnung der dritten Art.
Die Köhlerei ist nicht die einzige Sehenswürdigkeit. Gegenüber, auf der anderen Seite des Waldweges steht das historische Sägewerk Grunuberg und das schon seit 1735. Angetrieben wird Grunubergssågen mit einem Wasserrad vom Hättvasselån, dem Bach, der vorhin beschildert war.
(Quelle: Orsaboken Teil III)
Es ist ein schönes Gefühl, die einzige Touristin weit und breit zu sein. Ich fühle mich wie eine Entdeckerin. Wenn jetzt ein Reisebus käme - oder zwölf - und ein Rudel Busreisende in Birkenstocks aufs Gelände kippt, würde dies Gefühl zerplatzen wie eine Seifenblase.
Sehr zufrieden damit, in der Einöde etwas Interessantes entdeckt zu haben, steige ich wieder auf die hochbeinige Enduro, starte den Motor und brause glücklich davon.
Die Strecke verläuft viele Kilometer schnurgeradeaus durch den Wald. Der Weg ist frisch geschoben und auf dem weichen Schotter kommt die Honda kurz ins Schlingern. Mir rutscht das Herz in die Endurohose, aber auf den derben Michelin Anakee Wild und mit einem entschlossenen Gasstoß fängt sich das Motorrad wieder. Sand mag Vollgas.
So wie die Road-Trains durch das Outback Australiens donnern, brummen die schwedischen Holzlaster durchs Outback Dalarnas. Auf diesen Pisten stehen die gewaltigen Trucks ganz oben an der Spitze der Nahrungskette und die Vorfahrtsregeln sind klar.
Erst kurz vor Mora kommen wir am nördlichen Ende des Siljansees zurück in die Zivilisation. In meiner Erinnerung ist Mora eine größere Stadt, aber in Wahrheit hat sie nur 12.600 Einwohner. Vermutlich macht es der Kontrast zur Umgebung, wenn da plötzlich wieder Autos sind, Leute, Geschäfte und sogar eine Ampel.
Tatsächlich gibt es mit ICA-Maxi sogar einen riesigen Supermarkt, der alles bietet, was man braucht, vor allem Steaks und Bier.
Als ich zurück zum Motorrad komme und den Einkauf verstaue, sind am Himmel bereits erste Vorboten von „Heavy Rain and Thunder“ zu erahnen. Jetzt schnell, vielleicht schaffen wir es noch trocken aufzubauen.
Unser Camp für die nächsten zwei Tage ist Våmåbadets Camping am Orsasjön, das beste Camp der Gegend. Pieps und ich waren schon einmal hier und mochten es sehr.
Mit Karacho heize ich ins Camp und stoppe vor der Rezeption. Wenn wir uns beeilen, könnte ich es vielleicht noch schaffen, das Zelt hinzustellen bevor Heavy Rain and Thunder beginnen. Der Campchef steht draußen und sieht mir entgegen.
„Can I please set up tent before the rain starts and come check in later?“, brülle ich ihm über den laufenden Motor der Honda zu.
„Better be quick with it“, sagt er mit einem Nicken und klappt dabei schon die Sonnenschirme an den Außenplätzen zusammen.
Ich stelle den Motor ab, nehme den Zeltsack und kippe den Inhalt ins Gras. Der Anfang beim Exped Orion II Extreme ist etwas tricky, weil es zuerst bloß ein unförmiges Bündel aus Innen- und Außenzelt ist und man die Eingänge zu den - gut beschrifteten - Gestängekanälen erst finden muss.
Das Orion ist im Grunde ein Tunnelzelt, hat aber eine lange Firststange, die von Boden zu Boden reicht. Daraus zieht es seine enorme Stabilität. Für das Wetter im hohen Norden ist es ein perfektes Zelt, es hat sogar einem Sturm in Island widerstanden, was mich heute noch verblüfft, wenn ich das Video ansehe.
„Wo ist die Öffnung von Gestängekanal 1, wo die erste Stange rein muss?“
Der Point of no Return ist längst überschritten,
als die ersten schweren Tropfen vom Himmel fallen. Eilig drücke ich die letzten Heringe in den Boden. Das Zelt steht noch schief, aber um Schönheit geht es jetzt nicht. Das fixe ich später.
Mit nur ein bisschen nassen Haaren und einer nur etwas nassen Jacke rette ich mich unter das Dach der Rezeption und schaue hinaus in den Regen. Das Wetter legt jetzt richtig los, Starkregen, Blitz und Donner, aber unser Schlafzimmer steht und wird innen schön trocken sein, wenn ich nachher die Betten mache.
Jetzt kann ich in Ruhe einchecken. Ich zücke meine VISA Card, und die fällt sogleich in einer einzigen fließend eleganten Bewegung zu Boden und verschwindet ohne aufzuschlagen ebenso fließend und elegant zwischen den Dielenbrettern der Terrasse. Weg ist sie.
Die Spalten sind nur Millimeter breit. Ich wette, dreihundert Schimpansen könnten viertausend Jahre lang sechs Millionen Kreditkarten zu Boden schleudern und keiner könnte diesen Stunt jemals wiederholen. Das war ein echter Svendura Special.
Viel schlimmer noch ist die massive Bauweise der Terrasse, das ist kein mit Spucke verklebtes Balsaholz, sondern massiv vernagelte Holzbohlen. Soll ich die Karte einfach liegen lassen und vergessen? Ich habe noch eine zweite dabei, was für Skandinavien ratsam ist, weil man ohne Kreditkarte ziemlich aufgeschmissen ist. EC-Karten sind nutzlos, weil man damit in aller Regel hier nicht bezahlen kann. Ich hole Hilfe.
Als ich dem Campchef das Malheur zeige, verschwindet er ohne Worte und kommt im Nu mit einem Kuhfuß und einem schweren Hammer zurück. Ich zeige ihm die Stelle, wo die Kreditkarte verschwunden ist und er macht sich mit kräftigen Hammerschlägen an die Arbeit.
Die Bohle lässt sich am Ende gerade weit genug hochziehen, dass ich mit meinem dünnen Ärmchen darunterfassen und die Karte greifen kann. Ich bin heilfroh, sie wiederzuhaben und bedanke mich überschwänglich. Wir sprechen Englisch miteinander und jetzt höre ich, dass er und seine Frau aus Holland stammen, wie die Chefs von Falkudden Camping auch.
Das Gewitter ist vorüber und über dem Orsasjön ist wieder blauer Himmel zu sehen. Die Wiese steht noch unter Wasser, aber das macht nichts. Jetzt muss ich erstmal das Zelt vernünftig hinstellen und abspannen.
Eine Stunde später deutet bereits nichts mehr darauf hin, dass eben einmal kurz die Welt untergegangen ist. Zelt und Motorrad stehen in der Sonne, dahinter leuchtet blau der Orsasjön und eine Bachstelze sitzt am Ufer und tut ebenfalls so, als sei nichts gewesen.
Nur Pieps kann um keinen Preis tun, als sei nichts gewesen. Für irgendjemanden wird sie in ferner Zukunft einmal eine gute Partnerin sein, die keine Gelegenheit auslässt, jede Unzulänglichkeit ständig wieder und wieder aufs Tapet zu bringen.
Selbst die hervorragenden Rumpsteaks, die ich in der Campingpfanne für uns atomisiere, bringen den unverdrossenen Redefluss einer gewissen Maus nicht lange zum Schweigen.
Morgen legen wir hier am Orsasjön einen Jokertag ein und machen eine Tagestour durch die Umgebung.