Episode 4 - Die Tagestour
Eine Eichel plumpst fett auf das Dach des Wohnwagens nebenan. Pieps murmelt unverständlich im Schlaf und im Baum über uns gurrt eine Taube. Sonst ist es völlig still im Camp. Langsam werde ich wach.
Das Frühstücken im Zelt habe ich erst letztes Jahr auf der Schwedenreise für mich entdeckt. Davor bin ich immer zeitig aufgebrochen und habe an der ersten Tankstelle einen Kaffee getrunken, aber seit neuestem essen Pieps und ich lieber zuhause im Zelt und fahren dann erst los.
Unsere erste Station heute Morgen heißt Plau am See, eine Kleinstadt, die verschlafen unter Kopfsteinpflaster liegt. Wir sind hier wegen der Uhr. Ich stelle die Honda auf dem Marktplatz ab und sehe mich um. Wo mag sie sein, die berühmte Uhr?
„Entschuldigen Sie bitte “
„Ja?!“
„Hier soll es eine Turmuhr geben von fünfzehnhundert und huch.“
„Da oben. Auf dem Turm. Andere Seite“
„Danke schön.“
„Du, da kommt jemand. Ich ruf dich später zurück.“
Und zu mir gewand: „Wollen Sie auf den Turm?“
„Ja, bitte.“
„Das macht einen Euro fünfzig.“
„ Und diese berühmte Uhr “
„ die schlägt sogar wieder. Ganz oben. Es sind 46 Stufen. Und Vorsicht mit dem Kopf! Die Menschen waren früher nur einsfünfzig groß.“
Zahnräder, zwei hölzerne Rollen, daumendicke Seile, ein langes Pendel, jede Menge geschmiedetes Metall und ein Felsbrocken als Gewicht für den Antrieb. Ein Ziffernblatt hat die Uhr nicht. Sie schlägt nur die Stunde. Den Leuten damals hat das genügt.
Während ich andächtig davorstehe, tut sich plötzlich etwas. Eine Spindel, so lang wie mein Arm, beginnt sich zu drehen. Es schnarrt und rasselt, das Gewicht senkt sich und dann schlägt die Glocke. Eine gewaltige Show für einen Stundenschlag, der um gute 20 Minuten danebenliegt. Ob zwanzig Minuten in jener Zeit überhaupt eine Bedeutung hatten? Und heute? Bin ich schon pikiert, wenn meine coole Schweizer Armeeuhr um wenige Sekunden daneben liegt.
Er sagt nicht, weshalb gerade Husum, aber an seiner Stimme und dem Blick erkenne ich, wie ernst es ihm ist. Das ist sein Traum. Mich berührt das: Hier stehe ich, Svenja, mitten in einer Reise, die ich bisher nur als zweiter Klasse gesehen habe, und der Mann auf dem Damenrad hat nur einen großen Wunsch, der mir so klein und leicht zu verwirklichen scheint, dass es mich beschämt. Von Röbel nach Husum sind es nur 350 km. Ich komme mir gerade vor wie ein Pieparsch.
Ab jetzt. Ab heute. Ab genau diesem Treffen bei EDEKA, werde ich meine Reise besser schätzen lernen und genauer wahrnehmen. Pieps übrigens ist es völlig piepenhagen, ob wir ans Nordkap fahren, oder bloß an den Plöner See zum Köpper üben. Für die kleine Maus ist jede Freizeit mit Motorrad, Zelt und ihrer Tzwännja gleich viel wert. Mit Ausnahme von Frankreich vielleicht. Da hat es mehr Croissants und Entrecôte.
Noch in Gedanken versunken erledige ich unseren Einkauf. Erst an dem Tresen, wo man selbst Salate in Plastikbecher schaufeln kann, rupfe ich die Maske aus der Tasche und klemme sie hastig hinter die Ohren.
Bevor wir weiterfahren nach Waren an der Müritz, dem Highlight unserer Rundtour, habe ich noch etwas Sehenswertes in der Nähe von Röbel ausgegegraben: Die Oktagonkirche von Ludorf. Oktagon, weil der Grundriss achteckig ist.
Die Kirche wurde von Wipert von Morin errichtet, einem heimgekehrten Kreuzritter. Die Idee dazu brachte er von einem Einsatz im Heiligen Land mit. So hat die Oktagonkirche in Ludorf den gleichen Grundriss wie die Grabeskirche in Jerusalem. Für eine kleine Dorfkirche in Mecklenburg ist das eine ziemlich coole Hintergrundgeschichte.
Langsam schleiche ich um das Gemäuer herum, bis ich den besten Winkel für mein Foto finde. Außer mir hat noch ein Ehepaar aus Sonstwo den Weg hierher gefunden. Wir grüßen uns, wie man das macht, wenn es nur eine Handvoll Touristen sind und nicht 2000 wie am Mont Saint Michel. Na, die hätten vielleicht geguckt, wenn ich jeden einzeln gegrüßt hätte, der da mit dem Fotoapparat in der Hand durch die Gassen schleicht.
Der kurze Abstecher nach Ludorf hat sich gelohnt, zumal das Dorf einen malerischen alten Ortskern mit uraltem Kopfsteinpflaster hat. Zufrieden fahre ich weiter nach Waren.
Der Verkehr wird dichter und kommt schließlich zum Erliegen. Stop & Go quäle ich mich von Ampel zu Ampel. Links und rechts die Viskolüfter heißer Motoren. Hier wohnen nur 21.000 Menschen, aber es sind endlos viele Touristen in der Stadt. Alles voll, dicht an dicht und selbst mit dem Motorrad finde ich nur schwer einen Parkplatz.
Ein Stück weiter die Ticketschalter der weißen Flotte für Rundfahrten auf der Müritz, daneben Waffelbuden, Losverkäufer und jede Menge nix zu sehen. Ich bin fassungslos. Das also ist das berühmte Waren a.d. Müritz. Wenn es irgendwo im Universum einen Gegenpol zu authentisch und ursprünglich gibt, dann liegt er genau hier.
„Wanderer, kommst du nach Waren an der Müritz, verkünde dorten, du habest es liegen gesehn, doch es lohne sich nicht.“
Oder so ähnlich
Tatsächlich mache ich nur ein einziges Foto und fahre rasch weiter. Der Motor der Honda ist noch warm.
Zurück im Camp hole ich mir an der Rezeption eine Flasche Müritz Gold und für Pieps ein Langnese Happy Rainbow. Das Bier schmeckt köstlich und innerhalb weniger Schlucke bin ich mit Waren versöhnt.
Zum Abendessen gibt es Nackenkoteletts. Da ist eine Sache, die muss über Nackenkoteletts wissen: Es ist häufig das typische Billigfleisch aus dem Supermarkt. Dabei liebe ich Nacken, fett, saftig, keine Knochen, aber meistens taugen sie nichts.
Welch ein leckeres Abendessen.
Trotz der kleinen Enttäuschung am Schluss war es ein schöner Reisetag. Mecklenburg hat keinen Geysir zu bieten, keinen Mont-Saint-Michel und kein Schloss Fontainebleau. Man muss genauer hinsehen und mit der Hungerharke über die Reiseroute gehen, damit einem nichts entgeht. Das macht aber auch den Reiz aus, weil man von manchem noch nie gehört hat. Wer kennt schon das Agrarmuseum in Dorf Mecklenburg, oder die Turmuhr in Plau?
So entdeckt man mitunter im Kleinen etwas Einzigartiges, das nicht bereits tausendfach fotografiert und geliked wurde. Vielleicht fahre ich nächstes Jahr einmal nach Husum. Da war ich lange nicht mehr.
Morgen geht es weiter auf dem TET.
Bis nächsten Sonntag
zum nächsten Tag...
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