Die Litauische Burgenstraße
Es ist neun Uhr, als ich endlich aufwache und das Halstuch von den Augen ziehe. Ich habe verschlafen. Wie ein Maulwurf blinzele ich ins helle Tageslicht. Der kühle, sonnige Morgen bietet die Aussicht auf einen herrlichen Tag.
Ich steige aufs Motorrad und fahre über den Sandweg zur Straße. Auf halber Strecke begegnet mir der Chef. Er ist damit beschäftigt, einen Zaun zu setzen, der das Camp vom Waldrand trennt. Das untere Ende vergräbt er mühevoll in der Erde.
"That is against the Wolfes. They come from Ukraine."
Ich bin nicht sicher, ob er das ernst meint, doch nach Spaß sieht die Arbeit nicht aus und ich erinnere mich an das Wolfsrudel, das ich nachts in Pommern gehört habe.
Kurz darauf bin ich wieder auf der 141 unterwegs, der Litauischen Burgenstraße, und folge dem Lauf der Memel. Der Fluss funkelt in der Morgensonne.
Ich stelle das Motorrad vor dem Hauptportal ab und gehe um die Schlossmauer herum in den Innenhof. Kein Blatt liegt da, wo es nicht hingehört und auf den Wegen sind sogar noch die Spuren der Harken zu erkennen.
Die dreimonatigen Sommerferien haben gerade erst begonnen, das Gebäude steht leer.
"Halloooo...?!", rufe ich unsicher in die Stille hinein.
Aus einem Seitengang kommen Schritte näher und gleich darauf biegt eine Frau in einem bunten Sommerkleid um die Ecke. Sie trägt eine modische Brille, eine gütige Miene und bequeme Schuhe. Ich erkenne eine Lehrerin, wenn ich eine sehe.
Sie spricht Deutsch und ist tatsächlich Lehrerin an dieser Schule. Sie hat Bücher geholt und ist auf dem Heimweg. Für 1 € darf ich mich umsehen und auf den Turm steigen. Ich gebe ihr eine Münze und sie nimmt eine Rolle perforierter Billets aus ihrer Handtasche.
"Danke. Und lassen Sie die Tür später einfach auf" , sagt sie und wendet sich zum Gehen.
Die Lehrerin hat entweder vergessen aufzuschließen, oder sie hat es versäumt, mir den richtigen Weg zu zeigen. Ich werde es nie erfahren. Es ist ohnehin so warm, dass ich gerne auf den verschwitzten Aufstieg in Motorradsachen verzichte und erleichtert verschwinde.
Ich setze mich auf eine Treppe im Schatten der Burg und schreibe meine Eindrücke nieder. Etwas beschäftigt mich, ein Gefühl, eine Wahrnehmung: Da gibt es eine Sehenswürdigkeit, ein Park, ein Schloss, ein Picknickplatz, was auch immer. Sie ist gepflegt, mit viel Aufwand hergerichtet und geradezu liebevoll mit Blumen bepflanzt. Wie zuhause, wenn man Gäste erwartet. Man putzt die Fenster, saugt ein letztes Mal durch und stellt eine Schale Kekse hin. Und dann? Dann kommt keiner. So erscheint es mir hier.
Sollte Litauen, sollte das Baltikum, einer der letzten Geheimtipps sein, wo freundliche Menschen inständig auf Gäste hoffen und dankbar sind für jede Seele, die sich zu ihnen heraus bemüht? Ich werde das in den nächsten Wochen beobachten.
Ich fahre auf der 141 weiter in Richtung Kaunas. Auf einem Hügel steht eine Kirche, in ihrem Schatten farbige Holzhäuser, die zu Litauen gehören, wie die Störche, die Blumen und das Brennholz in den Gärten. Sie sehen so hübsch und gemütlich aus, wie sie in der Sommersonne stehen, aber wie mag es im Winter sein, wenn die Kälte das Land fest im Griff hat und eisige Winde aus Russland herüberwehen?
Auf dem Platz unterhalb der Kirche steht ein Lieferwagen mit weit offenen Türen. Ein Mann verkauft lebende Hühner. Die Kunden warten geduldig vor seinem Wagen. Immer wenn eines verkauft ist, steckt er es in einen Pappkarton und macht den Deckel zu. Eine Frau trägt nach kurzer Verhandlung einen Karton mit zwei gackernder Hühnern davon.
Beim genauen Hinsehen entdecke ich, dass er einen Untermieter hat. Ein kleiner Vogel, vielleicht ein Sperling, sitzt auf einem Zweig unter dem gewaltigen Storchennest.
Eindrücke wie diese, der Hühnermann, die Dorfbewohner, Störche, Hütten und Sandwege, interessieren mich viel mehr, als die Architektur der Großstadt, als Menschen, die eilig sind mit ihren iPhones, Coffee-to-go und übergroßen Sonnenbrillen.
Das Schnellrestaurant, mit dem sich die Station das Gebäude teilte, ist schon wieder dicht. Vermutlich kamen zu wenig Gäste, wie an anderen Orten Litauens, die nicht Kaunas oder Vilnius heißen. Auch die Landfrauen, die ich auf der Fähre getroffen habe, besuchen nur die großen, bekannten Namen. Litauen bedeutet Vilnius, Trakai und Berg der Kreuze, Lettland ist allein Riga, Estland ist Tallin.
Vor kurzem musste ich selbst noch fragen, welches Land wo auf der Karte liegt. Ist Litauen das untere, oder das in der Mitte? Und welches ist Estland? Pieps und ich haben 3 Wochen Zeit, um auch den letzten Winkel im hintersten Hinterland zu erkunden. Immerhin ist Litauen kleiner als Bayern und Estland nicht einmal so groß wie Niedersachsen.
"Bei Reisen mit Kraftfahrzeugen sollten angesichts zahlreicher Diebstähle vor allem in größeren Städten möglichst nur bewachte Parkplätze genutzt und keine Wertsachen / Papiere / Gepäckstücke im Auto (auch nicht im Kofferraum) bzw. am Motorrad zurückgelassen werden. Campingreisenden wird die Nutzung bewachter Campingplätze empfohlen."
Nichts ist so beunruhigend, wie die Reise- und Sicherheitshinweise des Außenministeriums. Südlich von Dänemark alles Verbrecher!
Auf einer 6-spurigen Straße schwimme ich im Stadtverkehr nach Kaunas hinein. Die Stadt ist etwa so groß wie Kiel. Die Litauer machen rücksichtsvoll Platz, wenn ich mich falsch einordne und meinen Irrtum im letzten Moment durch einen originellen Schlenker ausgleiche.
Mein Ziel ist die Altstadt von Kaunas. Sie liegt auf einer Landzunge am Zusammenfluss von Neris und Memel. Dort, neben der mittelalterlichen Burg, ist ein bewachter Parkplatz.
Größere Probleme als die Sicherheitsfrage wirft der Parkautomat auf: Wie bedient man den? Ich werfe einen Euro ein und drücke auf gut Glück einige Knöpfe. Der Automat summt und spuckt kurz darauf ein Parkticket für den gesamten Tag aus.
Ich halte mich nicht lange auf. Fremde Großstädte machen mir keinen Spaß. Die Menschen, die Autos, die Bauten, von allem zu viel. Ein paar liegen noch auf meiner Strecke. Vielleicht klapp ich an der Ampel mal das Visier hoch und sehe mich um, während ich auf Grün warte.
Die Gegend wird einsamer und die Abschnitte zwischen den Dörfern länger. Am Ortsrand von Alytus halte ich auf einer Tankstelle, um einen Kaffee zu trinken. In einem Pickup neben der Straße sitzen zwei uniformierte Polizisten und warten auf Kundschaft. Sie sehen sich erstaunt an, als ich den Helm abnehme und nicken mir freundlich zu. Ich lächele zurück.
Von Alytus sind es noch 60 km bis zum Campingplatz in Druskininkai. Der Ort liegt abseits der Touristenrouten am südlichen Zipfel Litauens, 8 km vor der Grenze nach Weißrussland. Sein Name stammt von dem Wort Druska, Salz! Vor 200 Jahren wurde unter Zar Nikolaus hier das erste Sanatorium für Beamte des Russischen Reiches errichtet. Druskininkai ist das Baden-Baden Litauens.
In der Fußgängerzone werden in kleinen Pavillons Schnitzereien, Bernstein, Keramik, Kitsch und Tand angeboten, darunter auch hübsche Sachen, doch außer mir und einem älteren Ehepaar sind keine Touristen zu sehen.
Freude für alle Bekümmerten steht im Mittelpunkt eines kleinen Parks. Die Anlage ist mustergültig gepflegt. Es gibt saubere Bänke und eine Vielzahl von Lampen und Papierkörben. Selbst die beiden Trinker auf der Parkbank sitzen aufrecht und still.
Die Kirche ist frisch unter Farbe und wirkt so fremdartig mit ihren Zwiebeltürmen. Außerdem bin ich überrascht, wie winzig sie ist. Tatsächlich bin ich in diesen entlegenen Winkel gefahren, um ein Foto der blauen Kirche zu machen und nun stehe ich hier mit meiner Kamera und suche den besten Standpunkt für eine Aufnahme.
Kempingas Druskininkai liegt in der Stadt auf dem Gelände eines ehemaligen Bahnhofs. In die alte Wartehalle ist ein Restaurant eingezogen und die hintere Terrasse erinnert verdächtig an einen Bahnsteig. Dort, wo früher die Gleise lagen, stehen nun Wohnwagen und Zelte.
Die Blicke verunsichern mich, weil ich sofort denke, meine Wimperntusche ist verlaufen, aber schon im nächsten Moment bin ich stolz und fühle mich gut, weil ich es soweit geschafft habe. Sowie ich das Zelt aufgeschlagen habe, möchte ich auch unter einem dieser pinken Schirme sitzen und ein kühles Glas Wein trinken.
Die junge Frau in der Rezeption spricht ein ausgezeichnetes Oxford Englisch. Mit ihrem gekonnten Auftreten und dem gepflegten Outfit könnte sie geradewegs von der London Business School kommen. Die jungen Leuten hier beeindrucken mich.
Ich checke ein, bezahle 8 € fürs Campen und suche mir Pitch 23 aus, eine Parzelle, die auf drei Seiten von Hecken umgeben ist. Als ich den ersten Hering ins Gras stecke, knirscht es, denn unter der dünnen Rasennarbe liegt noch Gleisschotter.
Neben den Tischen steht ein betagter Grill, in dem ein kleines Holzfeuer brennt. Ein Junge grillt Schaschliks, die auf langen Stäben über der Glut liegen. Ein verführerischer Duft nach Lagerfeuer und Grillfleisch zieht zu mir herüber.
Ich bin überrascht, wie leer das Restaurant ist. Ein herrlicher Sommerabend, die zentrale Lage, der offene Grill und doch sind nur zwei Gäste da. In Kiel sind vergleichbare Plätze regelmäßig überfüllt.
Zum wiederholten Mal rast eine alte Ducati auf der Hauptstraße vorbei. Mit infernalischem Lärm brennt der Fahrer die Straße runter, wendet und kreischt kurz darauf in der Gegenrichtung durchs Bild. Kein Wunder: An der Bushaltestelle gegenüber sitzen Mädchen, die ihn und seine Show auf geradezu provokante Weise ignorieren.
Das musst du ganz anders anstellen, denke ich. Du musst ... aber das soll er selbst herausfinden. Ein zweiter Helm ist dabei hilfreich, erinnere ich mich wehmütig.
Der kalte Braten schmeckt klasse. Während ich in meinem Kindle lese, wacht Pieps eifersüchtig über die gerechte Aufteilung der Bratenkruste. Wie kann eine so kleine und so süße Maus derart verfressen sein?
Nun, solange uns auf dieser Reise keine größeren Probleme als dieses erwarten, soll es mir recht sein, denke ich seufzend und säbele eine weitere Scheibe Braten ab.
zum nächsten Tag...
zurück nach oben
Druskininkai hat sich als Geheimtipp erwiesen und ist ein 'Must-travel' in Litauen, zumal in der Nähe ein weiteres Highlight wartet, aber das können wir jetzt noch gar nicht wissen...