Kirchen und Fisch
Liebevoll lege ich das geschundene Zelt zusammen und lasse es in den Packsack gleiten, gleichsam als Wiedergutmachung für gestern. Die Zeltstangen bleiben trotzdem krumm, aber das macht nichts. Es beginnt zart zu regnen, aber im Verhältnis zu gestern Morgen ist das Babykacke und ich ziehe nicht einmal die Regenkombi an, als ich in Powerlaune von Camp Willipu starte.
Es ist ein trüber, grauer Tag und feiner Niesel liegt wie ein feuchtes Handtuch über der Welt. Das Ufer des Peipussees ist manchmal kaum auszumachen. Ist das noch matschige Wiese mit Schilf, oder schon der große See?
Von Zeit zu Zeit steht ein Wachturm am Ufer und blickt aus dunklen Fenstern ernst nach Osten. Dies ist die Außengrenze der EU, Schengen endet hier.
Ich mag dieses eigenartige Gefühl, das ein wenig bittersüß ist, beängstigend und gleichzeitig so viel Power gibt. Schon zu Zweit ist das völlig anders. Wie Nachts auf dem Friedhof: Mit Kumpeln, ein Bier in der Hand, ab und zu mal hinterm Grabstein hervorspringen und "Buh!" rufen, ist da gar nichts, keine Spannung, keine erhöhte Aufmerksamkeit, nichts. Doch nur auf sich gestellt, allein in dunkler Nacht, sind alle Sinne auf maximale Empfindlichkeit gestellt und man spürt sich selbst.
Auf der E264 geht es am See entlang nach Norden. Der erste Ort ist Mustvee, mit 1637 Einwohnern die größte Stadt am nördlichen Peipussee. Es gibt noch ein paar Fischerdörfer, aber wenn ich einkaufen und tanken will, dann muss ich das hier tun. Durch einen anderen Ort werde ich heute nicht kommen.
Ein genialer Schachzug des norwegischen Ölgiganten, ausgerechnet hier zu bauen. Auf die Einheimischen muss die hochmoderne Station wie ein Raumschiff wirken, gibt es doch im weiten Umkreis nichts Vergleichbares. Es ist Sonntagmorgen, nieseliges Mistwetter und in der Tankstelle brummt es. Sämtliche Zapfsäulen sind besetzt und vor beiden Kassen haben sich lange Schlangen gebildet.
Hauptverdienst ist sicher nicht der Sprit, sondern das riesige Angebot an Getränken und Hotdogs, Hamburger und sämtliche Snacks, die man auch von den bekannten Fastfood Ketten kennt. Dazu die beiden fetten Kaffeeautomaten, die ohne Unterbrechung mahlen, gurgeln, brühen und jeden heißen Drink auf Knopfdruck frisch zubereiten.
Fast eine Stunde sitze ich an dem Tisch im Fenster, sehe den Menschen zu, trinke Kaffee und genieße die Wärme im Verkaufsraum. Im Grunde ist es hier nicht anders, als in der SHELL-Tankstelle in Kiel am Schützenwall, außer dass da mehr Trinker rumhängen. Ich werfe den leeren Kaffeebecher in den Mülleimer und starte zum zweiten Mal in den Tag.
Von der Umgehungsstraße sind es nur ein paar hundert Meter bis in den Ort. Fünf Kirchen soll es in Mustvee geben, alle sind auf unterschiedliche Weise christlich. Nicht einmal wir Christen untereinander sind uns über den wahren Glauben einig, auch wenn ich nichts über die Unterschiede zwischen den verschiedenen Strömungen weiß.
Auf dem Weg von Kirche Nr.2 zu Kirche Nr.3 komme ich an einem Geschäft vorbei. Es ist auch am Sonntag geöffnet. Ich parke Greeny und gehe einkaufen. Neugierig betrete ich den Laden und schnappe mir einen Einkaufskorb. Das Angebot ist eher dürftig, aber wovon es mehr als genug gibt, sind Wodka, Champagner und westliche Süßigkeiten. Sogar hier am Peipussee lieben die Kinder Überraschungseier und Kinderschokolade.
Ein Stück die Staße runter liegt Mustvee Bussijaam, der Schwarzwasser Busbahnhof. Von hier fährt ein Autobus nach Tartu. Das Gebäude ist erst wenige Jahre alt und so wie viele Häuser ganz im Stil der sowjetischen Bauweise errichtet.
Ich wette, die Beiden sind seit Jahrzehnten verheiratet und selbst das Auto begleitet sie bereits eine halbe Ewigkeit. Die wären nie so weit gekommen, wenn sie sich bei der ersten Schwierigkeit getrennt und im Internet sofort den nächsten Partner gesucht hätten. Für ihre Generation zählen andere Werte. Ein schöner Gedanke ist das.
Es muss an dieser Gegend liegen, die fortwährend solche tiefsinnigen Gedanken erzeugt. Ist es das, woher die berühmte russische Seele ihre Schwermut hat? Ich schüttele den Gedanken ab und fahre weiter. Mustvee war jedenfalls einen Besuch wert.
Schon vorher waren mir die vielen Fischbuden entlang der E264 aufgefallen. Jeder Zweite scheint hier Fische zu fangen, zu räuchern und sich ein kleines Zubrot durch den Verkauf zu verdienen. Alle naselang steht eine selbst gezimmerten Holzbude am Wegrand, Suitus Kala, geräucherter Fisch.
Der flache Peipussee, der im Durchschnitt nur 8 m tief ist, gilt als sehr fischreich und obwohl die Umweltbelastung grotesk hoch ist, ist Fisch ein Hauptnahrungsmittel dieser Gegend. Im Winter friert der See regelmäßig zu und man fährt mit dem Auto zum Eisangeln.
Ich liebe Fisch, aber ich stehe überhaupt nicht auf Süßwasserfische. Richtige Fische kommen aus dem Meer, oder wenigstens von IGLO, aber einen will ich doch mal probieren. Dafür suche ich mir eine besonders hübsche Bude und lasse das Motorrad davor ausrollen. Darin sitzt ein hübscher weiblicher Teenager und tippt gelangweilt auf einem weißen Smartphone. Als sie mich bemerkt, legt sie sofort das Telefon weg.
Nach jedem Bissen zieht man endlos dicke und dünne Gräten zwischen den Lippen hervor, bevor man sich einmal traut ein Stück herunterzuschlucken. Ich hasse das und auch Pieps ist alles andere als begeistert: "Bäh!"
Wir begraben den Fisch in der Mülltonne und haken es ab unter Erfahrungen.
Viel gibt es am Peipussee nicht zu sehen und aus reiner Not, noch etwas fotografieren zu wollen, folge ich den braunen Hinweisschildern, die in ganz Europa für die Sehenswürdigkeiten zuständig sind. Leider weiß ich vorher nie, worum es geht, weil ich die Sprache nicht verstehe. Ob den Esten bewusst ist, dass es auf diesem Planeten nur 1,1 Mio. Menschen gibt, die ihre Sprache sprechen? Angeblich sprechen mehr Menschen klingonisch. Wäre das nicht ein schöner Anlass, über eine zweite Sprache auf den Schildern nachzudenken? Und ich meine damit nicht Russisch.
Jetzt ist es nicht mehr weit bis zum Campingplatz. Kurz vorher fahre ich durch Alajõe, ein Dorf mit gerade einmal 147 Einwohnern. Ein schmaler Fluss mäandriert träge durch den Ort und fließt ein Stück weiter in den Peipussee. An seinem Ufer sitzen Jugendliche und angeln. Familien mit Kindern spazieren sonntäglich gekleidet durchs Dorf. Ein Halbstarker in einem schwarzen 3er BMW spricht durch das offene Fenster mit zwei Mädchen, die an einer Bushaltestelle sitzen und die Aufmerksamkeit sichtlich genießen.
In dieser Gegend einen Campingplatz zu finden, war gar nicht so einfach, aber einen habe ich doch gefunden, das Vaikla Holiday Resort. Durch ein hölzernes Tor geht es in einen Park der aussieht, wie ich mir einen Golfplatz vorstelle. Ich bin überrascht, damit hatte ich nicht gerechnet.
"Passport."
Ich lege meinen Ausweis auf den Tisch und sie trägt die Daten sorgfältig in ein Formular ein. Ihre ganze Art ist an der Grenze zur Unfreundlichkeit, aber ich ahne zugleich, dass ich zum ersten Mal einen authentischen Eindruck vom Umgang mit Gästen zu Sowjetzeiten bekomme und genieße das feindselige Ambiente.
"Fifteen Euro."
Der Preis ist eine Frechheit, jedenfalls für hiesige Verhältnisse, aber ich bezahle ohne Murren und Knurren. Erst zuhause auf der Website werde ich lesen, dass der reguläre Preis lediglich 5 EUR beträgt.
Heute Abend werden Pieps und ich einmal ganz feudal im Restaurant essen. Die rustikalen Holztische und das Kaminfeuer sehen äußerst einladend aus. Leider sind wir die einzigen Gäste und sitzen etwas verloren in dem großen Raum.
"Yes", verkündet sie feierlich, nimmt eine Flasche Weißwein aus dem Regal und dreht den Metallverschluss auf. Der Wein ist süß und handwarm, aber ich mag die Idee dahinter, hier zu sitzen, Urlaub zu haben und Wein zu trinken. Das Essen ist zwar eher Fastfood, aber Pieps mag die Pommes und ich den Brotkorb mit den fetten Saucen dazu.
Das war ein kurzer Fahrtag. Wir sind nur hundert Kilometer gefahren und haben doch ein paar interessante Dinge gesehen und wenn man nur genau genug hinsieht, spielt sich direkt vor der eigenen Nase manche interessante Geschichte ab.
zum nächsten Tag...
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Vom Peipussee hatte ich etwas ganz Anderes erwartet, schöne Landschaften, hübsche Strände und liebliche Dörfer. Die Realität war nüchterner und eher trist, aber gerade deshalb so sehenswert.
Morgen fahren wir in den äußersten Nordosten Estlands. Dort liegt Narva, die große Grenzstadt nach Russland. Wie es da wohl sein wird?