Saaremaa
Die letzten Tage im Baltikum wollen Pieps und ich auf Saaremaa verbringen. Die Insel wurde in einem Reiseführer als 'Das Mallorca des Baltikums' bezeichnet, so eine Art Sylt von Estland nur ohne Shrimps und mit ohne soviel Schickimicki.
Den Zeltplatz habe ich vorgebucht, denn es ist das amtliche Partywochenende des Jahres. Heute am Donnerstag ist Võidupüha, Tag des Sieges, und morgen Jaanipäev, Johannistag. Dann wird im gesamten Baltikum das Mittsommerfest gefeiert und alles flippt völlig aus.Man muss schon eine ziemliche Meise haben, um ausgerechnet an diesem Wochenende nach Saaremaa zu fahren, denn zur selben Zeit findet auch noch ein internationales Jazzfestival statt, aber so ist es eben, wenn man Ich ist.
"Good Morning. A ticket to Saaremaa, please." Wo sollte ich auch sonst hinwollen, aber irgend etwas muss ich ja sagen.
"6,50 Euro, please."
Wie selbstverständlich hält sie mir ein drahtloses Terminal hin. Ich stecke die VISA-Karte in den Schlitz und tippe die PIN ein. Die Datenleitung ist so schnell, dass ich den Finger noch auf dem grünen OK Knopf habe, als im Display schon "PIN ok. Approved. Remove Card" erscheint.
Die VISA-Karte ist hier überall und sogar Kleinstbeträge, einen Kaffee für 1,20€, zahlt man damit. Seit ich mit der Karte bezahle, habe ich es immer passend und dazu dieses wunderbare Gefühl, dass alles kostenlos ist, weil ich nie Geld aus der Hand geben muss.
Ob wir alle schon mit dem nächsten Schiff mitkommen? Ich stehe auf Lane 2 und versuche abzuschätzen, ob Greeny mit an Bord kommt, aber das ist schwierig. Zu unübersichtlich ist das Gewimmel auf 8 Spuren mit Autos, LKW und einem Motorrad, Greeny. Tatsächlich sehe ich kein anderes Motorrad am Anleger.
Das Publikum an der Fähre ist erstaunlich: Lauter junge, hübsche Menschen, modische Outfits, die angesagtesten Smartphones, tolle Autos, das Neueste von Chevrolet, Dodge, BMW und Lexus. Happy shiny Party People.
Während bei uns das Pendel schon wieder zurückschwingt zu einer neuen Bescheidenheit, will man hier zeigen, was man hat. Ein Traumland für die Automobilindustrie. Während Elsen wie ich einen 13 Jahre alten, rostigen Seat fahren, ist das Auto im Baltikum genau das Statussymbol, das es bei uns früher war. Ich kann ihn gut verstehen, diesen Hunger nach Leistung, nach maximaler Kohle und Konsum.
Mit meinem billigen Motorrad, dem staubigen Outfit und der Helmfrisur stinke ich ziemlich ab gegen die jungen, hübschen Menschen.
Endlich wird meine Ampel grün und ich rolle unter Deck. Ein weiteres Motorrad folgt mir an Bord, eine Yamaha Fazer. Der Fahrer ist kaum älter als der Gaskocher, den ich im Gepäck habe. Er würdigt mich keines Blickes und verschwindet sofort an Deck.
Ich mache ein Foto von unseren Maschinen und bin einmal mehr erstaunt, wie sehr sich eine Enduro vom Racer unterscheidet. Während die Fazer wie eine Raubkatze bereit zum Sprung wirkt, sieht die KLX daneben aus wie ein hochbeiniges Insekt.
Eine einfache Textaufgabe:
a) Die Überfahrt mit dem Schiff zu einer Insel dauert 30 Minuten. Es sind 500 Passagiere an Bord. Wieviel Zeit bleibt für jeden Passagier, um sich ein Frühstück zu organisieren, es in sich reinzuschaufeln und rechtzeitig zur Ankunft wieder unter Deck zu sein?
b) Berechnen Sie die Zeit zusätzlich mit einem Toilettengang (Lingling).
Wie ich es gelernt habe, kürze ich alle Variablen weg und formuliere den Satz um: Wie rücksichtslos muss ich drängeln, damit Pieps und mir genügend Zeit zum Essen bleibt?
"Tere hommikust. Mida sa tahaksid?", fragt eine Frau mit Kochmütze auf dem Kopf.
Ich verstehe kein Wort und mache stattdessen eine ausladende Handbewegung über alle Bleche heiß und fettig. Sie deutet mit fragendem Blick auf etwas und ich nicke. Am Ende habe ich ein Hacksteak, gebratenen Speck und zwei Spiegeleier. Den Salat gibt es auch ohne zu nicken.
Schlagartig mit dem letzten Schluck Kaffee stehen alle auf, lassen ihre Tabletts zurück und hasten runter zum Car Deck B. Kurz darauf rolle ich inmitten einer Autokolonne von Bord. Selten habe ich auf einem Fährschiff einen so reibungslosen Ablauf erlebt.
Es ist klar, dass die estnischen Kollegen ein solches Wochenende nicht ohne entsprechendes Sicherheitskonzept fahren. Das wird die Verkehrsüberwachung betreffen und ein Konzept gegen Drogen und allgemeine Kriminalität. Und tatsächlich steht kurz darauf ein Streifenwagen mit Blaulicht am Straßenrand. Davor der schwarze BMW. Eine pinke Partyelse steht neben dem Wagen und schaut betont lässig in die Landschaft, während ein Beamter in Uniform ihr ein Ticket verpasst.
Zweimal noch zieht die Streife besonders dreiste Raser raus. Wir bloß leicht zu Schnellen bleiben unbehelligt. Das Wettrennen dauert bis Kuressaare. Am Ortseingang ein großer Kreisverkehr, ein Hondahändler, Supermärkte, eine Olerex Tankstelle.
Ich rolle an eine Säule mit 98 Oktan und lasse 4 l Super einlaufen. Auf dem Parkplatz der Tanke stehen mehrere Motorräder, darunter eine ältere Hayabusa mit Acrapovic Anlage und eine Repsol Honda mit Arrow Auspuff. Ich schiebe meine Maschine zu ihnen hinüber und hole mir einen Kaffee.
Ich fahre weiter zu SELVER, einem Shopping Center, das an den Kieler CITTI-Park erinnert. Vorsichtig fahre ich über den großen Parkplatz. Heute ist die Hölle los. Offene Seitenfenster, wummernde Bässe, tätowierte Arme, verspiegelte Sonnenbrillen, Beifahrer mit Bierdosen in den Händen. Junge Männer schieben Einkaufswagen mit Paletten voller Dosenbier aus dem Laden.
Ich stelle das Motorrad dort ab, wo es niemand umfahren kann und gehe in den Laden. Sämtliche Kassen sind geöffnet, fast alle Einkaufswagen in den Gängen unterwegs und das Piepsen von mehr als einem Dutzend Kassen schwirrt durch die Luft.
Die Auswahl an Frischfleisch und Convenience Food ist überwältigend. Hier gibt es alles, was Pieps und ich mögen, sogar frisches Entrecote. Nein, heute ist Party angesagt, da will ich nicht in der Küche stehen. Ich kaufe ein Pfund gegrillter Rippchen, ein kleines Grillkotelett, einen griechischen Salat und einen Schimmelkäse dazu. So einen Abend will ich nicht hungrig erleben.
Aus der Getränkeabteilung besorge ich zwei billige Flaschen Shiraz und drei Dosen Bier. Pieps bleibt bei "Körschsaft".
Von Kuressaare sind es noch etwa 20 km bis zum Campingplatz. Kurz vorher überspringt der Reisetacho die 3.000 km Marke seit Kiel.
"Will it be noisy tonight?", möchte ich wissen.
"No! There is no party on this place."
Mit dem Schimmelkäse, einer Flasche Wein und dem Kindle verziehe ich mich früh in den Schlafsack. Morgen fahre ich die paar Kilometer zurück nach Kuressaare, das auf Deutsch Arensburg heißt, und sehe mir mit Pieps die Burganlage an.
zum nächsten Tag...
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Saaremaa ist so erstaunlich anders, als alles, was ich bisher von Estland gesehen habe. Ich freu mich darauf, in den nächsten Tagen die Insel zu erkunden.