Entlang der Memel
Graue Wolken fegen übers Meer, als ich am Morgen aus dem Zelt steige. Ein strammer Wind zerrt an den Sturmleinen. Es wird bald regnen. Ich beeile mich, um noch vorher das Lager abzubrechen.
"Ah, Sie sind die Motorradfahrerin aus Kiel." Unverkennbar eine Berlinerin.
"Ja die bin ich. Sagen Sie, haben Sie den Wetterbericht gehört? Da tut sich was, oder?"
"Mein Mann meint..."
Ich verziehe das Gesicht, als hätte ich in eine Zitrone gebissen. Kann die Frau die Meinung ihres Mannes nicht wenigstens als ihre eigene verkaufen? Das wäre ‐ emanzipatorisch gesehen ‐ bereits ein hübscher Schritt nach vorn.
Völlig hingerissen von meinem gerade erst entdeckten Feminismus höre ich nicht weiter zu und bin bei der Rückkehr zum Zelt nicht klüger als zuvor, doch man muss kein Kachelmann sein, um zu sehen, dass es Regen geben wird.
In dem kleinen Hafenbecken des Camps liegt die Fahrradfähre nach Nidda. Über Klaipeda wäre es ein Umweg von 100 km und so ist es nicht verwunderlich, dass bereits ein Dutzend Radfahrer auf die Fähre wartet, die sie rüber auf die Kurische Nehrung bringen soll.
Das Schiff liegt tief im Wasser, als der Kapitän es mit großem Geschick aus dem geschützten Hafenbecken hinaus auf das stürmische Haff steuert.
Auf der Karte sind mehrere Frühstücksvarianten gelistet und doch immer dasselbe: Eier und Fleisch. Im Grunde bin ich bloß hergekommen, um eine Tasse Kaffee zu trinken und den Regen abzuwarten, aber ich möchte nicht unhöflich erscheinen und bestelle wenigstens ein paar Eier mit Speck.
Das Frühstück sieht sehr appetitlich aus. Pieps überlässt mir großzügig das gesamte Brot und ich ihr den kompletten Salat. Angebote, die von beiden Parteien ebenso höflich wie entschieden abgelehnt werden.
Der Regen hat aufgehört und ich starte satt und zufrieden in den Tag. Auf dem ganzen Weg vom Campingplatz bis an die Memel begegnen mir bloß zwei Störche und ein alter Lada Nova. Außer den Bauern, einer Handvoll Anglern und der kleinen Truppe Grenzpolizisten, sieht wohl niemand eine Veranlassung, sich hier aufzuhalten.
Der Sandweg endet an einem Haus. Wer mag hier draußen wohnen in dieser Abgeschiedenheit? Der Chef der Grenzpolizei? Ein Einsiedler?
Am Ufer steht ein weißer Grenzpfahl mit orangen, grünen und roten Streifen, den Farben Litauens. Daneben drei einzelne Gatter aus Holz. Sie sehen aus wie Zaunfelder und sind aufwendig gearbeitet, fast wie von einem Möbeltischler. Ich bin ratlos was sie bedeuten.
Hinweis für Touristen, insbesondere Wanderer: Im Grenzgebiet Litauen-Russland (...) ist die (...) Grenze nicht mit einem durchgehenden Zaun markiert. (...) Wer die Grenze von Litauen aus (auch nur für wenige Meter) illegal überschreitet, muss mit der Festnahme durch die russische Grenzpolizei rechnen. Gemäß russischer Rechtslage steht auf illegalen Grenzübertritt eine Haftstrafe. (Auswärtiges Amt, Reise- und Sicherheitshinweise)
Es herrscht eine wunderbare Ruhe an diesem Ort. Ich höre nur das Singen der Vögel und Schwirren der Insekten. Wenn ich angeln würde, säße ich genau hier, ohne einen Köder am Haken, damit bloß kein Fisch anbeißt und meine Kreise stört.
Plötzlich beginnt das Motorrad zu vibrieren. Ein Gefühl, als säße ich auf einem Presslufthammer. Die Maschine scheint sich in ihre Bestandteile zerlegen zu wollen und selbst meine Zähne fühlen sich locker an.
Wellblechpiste! Ich hatte davon gelesen, von diesen Pisten, die jedes Fahrzeug in Resonanz vibrieren, bis Kofferträger, Auspuffanlagen und Nummernschilder beginnen, sich aufzulösen.
An der Bushaltestelle im Dorf steht ein junger Mann, ein sehnig muskulöser Typ. Er trägt blaue Arbeitshosen, Unterhemd und derbe Stiefel. Sein Gesicht ist vom Wetter gegerbt, die Haare kurz rasiert. Ich lasse die Enduro vor ihm ausrollen und stelle den Motor ab
"Benzinas?", frage ich und tippe mit dem Finger auf den Tank: "Benzinas?"
"Pagegai, Pagegai", ruft er und zeigt die Straße hinunter. Dabei entblößt er ein Gebiss aus einem halben Dutzend Zahnstummeln. "Pagegai!"
Ich studiere die Karte im Tankrucksack und tatsächlich gibt es einen Ort in der Nähe, der ungefähr so heißt.
"Spasiba", erwidere ich, danke. Das ist zwar russisch, doch mein Vokabelschatz ist ein wenig begrenzt und 'danke' auf Litauisch kann ich nicht. Tatsächlich umfasst er nur zwei Vokabeln: Benzinas und Kempingas.
Ich mag den Gedanken, dass die EU, hier am äußeren Rand des bekannten Sonnensystems, Geld in Regionen und Projekte steckt, das ankommt und gut angelegt ist. Letztlich ist eine neu ausgebaute Landstraße auch ein Brückenkopf westlicher Zivilisation, besonders in Gegenden, wo es zuvor bloß Schotter, Schlaglöcher und Dickicht gab.
Pagegiai zeigt sich als gepflegte Kreisstadt von 4000 Einwohnern, die Gehsteige gefegt, die Zebrastreifen weiß und an jeder Ecke frischer Blumenschmuck.
Die Tankstelle ist nicht zu übersehen. Ich bin kaum abgestiegen, als ein semmelblonder Junge ans Motorrad tritt. Er trägt eine blitzsaubere Latzhose und ein kariertes Oberhemd: Der Tankwart.
Ich öffne den Tankdeckel und zeige auf Super 95. Die übrigen 5 Säulen sind Diesel. Sorgfältig und mit gewissenhaftem Ernst füllt er das Benzin exakt bis zur oberen Markierung ein, aber ich bedeute mit einer Handbewegung, den Tank bis zum Stehkragen zu füllen. Bei 7,7 l Tankinhalt zählt jeder Tropfen.
Die Eistruhe im Kassenhäuschen ist zur Hälfte mit bekannten Sorten gefüllt, aber gleich daneben liegen völlig fremde Marken. Pieps entscheidet sich für Šokoladiniai ledai ESKIMO.
Ich schiebe das Motorrad in den Schatten und während Pieps sich mit Schokoladeneis einschmiert, sprühe ich die Kette mit Sonax SX90 ein.
Nein, landschaftlich reizvoll ist Litauen nicht und abgesehen von der verlassenen Piste entlang der Grenze ist das Motorradfahren bisher äußerst eintönig. Ich sitze die Fahrt bis nach Jurbarkas bei 96 km/h verbissen ab.
Ich muss noch einkaufen und Jurbarkas bietet für heute die letzte Gelegenheit. Vor einem Supermarkt lenke ich die KLX auf den Gehsteig und stelle sie neben dem Eingang zum Laden ab.
Mir fällt auf, wie billig einheimische Produkte sind. Für 3 Koteletts bezahle ich gerade einmal 1,98 €, während der importierte Fetakäse mit 2,29 € ebenso viel kostet, wie bei uns.
Hinter Jurbarkas wird die Strecke ‐ soweit das überhaupt möglich ist ‐ noch eintöniger, noch gerader und noch mehr nichts zu sehen und ich fühle mich geradezu erlöst, als ich endlich das Gas wegnehme und in die Zufahrt zum Campingplatz einbiege.
Der Sandweg endet vor einer Bude mit der Aufschrift Reception. Eine Frau tritt vor die Tür, als sie den Motor hört und winkt mir fröhlich entgegen. Sie ist sehr zart, trägt ein blaues Kleid und einen hellen Strohhut, so wie ihn auch Imker tragen, bloß ohne das Netz. Ich stelle den Motor ab und nehme den Helm herunter.
"Ein Mädschen, ein Mädschen!", ruft sie überrascht aus und klatscht vor Begeisterung in die Hände. Unter dem Strohhut blitzen mich zwei hübsche Augen vergnügt an.
"Auch Mädchen fahren Motorrad", erwidere ich freudestrahlend und bin ganz angerührt von dem herzlichen Empfang.
Ich erfahre, dass der Chef gelernter Imker ist und in der staatlichen Imkerei von Jurbarkas gearbeitet hat, bevor es ihm gelang, die 110 Imkerfamilien zu vereinen und den Honig zum Nutzen aller privat zu vermarkten.
Ich lege meinen Ausweis auf den Tisch und die Frau im blauen Kleid füllt ein Meldeformular aus. Sie tut es mit großer Sorgfalt und demselben Ernst, der mir in Litauen schon mehrfach begegnet ist, als wäre ihre Arbeit etwas Kostbares, das es sorgfältig zu erledigen gelte.
Ein deutscher Handwerksmeister wäre glücklich über solche Lehrlinge. Kommt zu uns! Hier blieben allein im vergangenen Jahr mehr als 40.000 Lehrstellen unbesetzt.
Ich schlage mein Zelt am Waldrand auf. Die Rasenflächen auf Camping Honigtal sind riesig und top gepflegt. Allein der Rasen ist verbrannt von der Hitze.
"No rain for many weeks", klagt der Chef über die anhaltende Trockenheit.
Eines kann ich dir versprechen, Baby: Das wird sich ändern! Wo Svenja Urlaub macht, ist noch kein Halm vertrocknet.
Das Camp ist liebevoll für die Gäste hergerichtet worden. Es gibt Grills und Feuerstellen mit Holz, die nur darauf warten, dass jemand ein Streichholz daran hält. Und doch stehen nur 3 Wohnmobile auf dem riesigen Gelände.
Der Inhaber versteht es selbst nicht: "This is my life and nobody comes here."
Ich höre den Anflug von Verzweiflung in seiner Stimme und bin selbst ratlos, weshalb der Platz so leer ist. Die Lage ist prima, das Gelände wunderhübsch und das Waschhaus modern und sauber. Ich hatte eher damit gerechnet, dass Camp Honigtal überfüllt sein würde.
Ein Regentropfen! Und noch einer. Während der Honigmann an meinem Zelt steht und wir uns über Camping, Motorräder und MotoCross unterhalten, hat sich der Himmel unmerklich bezogen. Anfangs regnet es nur ganz leicht und dann immer stärker, bis ein kräftiger Schauer runterkommt und der Chef den Rückzug in seine Hütte antritt.
Es gibt diesen Spruch: "Wenn Engel reisen..." und allmählich beginne ich mich zu fragen, was der über mich aussagt.
Der Spuk ist schnell vorrüber und kurz darauf dampft die nasse Wiese in der Sonne. Ich mache mich daran, das Abendessen für Pieps und mich vorzubereiten. Die Koteletts haben Fettränder von der Dicke eines Maurerdaumens und sehen äußerst appetitlich aus.
Ich ritze die Schwarte sorgfältig ein, damit sie knusprig ausbäckt und schnippele großzügig Zwiebeln ins heiße Fett. Das wird ein Festessen, denke ich und öffne eine Dose Bier, während Pieps wie gebannt auf die Pfanne starrt.
Von all den Koteletts, die ich im Leben gegessen habe, und das mögen hunderte, wenn nicht tausende, gewesen sein, sind diese drei aus Jurbarkas möglicherweise die besten von allen und für einen Moment ist die Erinnerung zurück, wie Schwein geschmeckt hat, bevor es aussah wie Pute und viel von seinem intensiven Geschmack eingebüßt hat.
Mit dem letzten Bissen lasse ich mich zurück auf den Schlafsack sinken, die Beine halb draußen im Gras. Hier bin ich zuhause, hier darf ich das.
Das gute Abendessen am Zelt ist oft das Hightlight des Tages und ein Grund, weshalb ich so gerne zelte. Ich gieße mir noch einen Becher Bier ein und nehme das Kindle vor die Nase. Der Analyst ist ein Thriller aus der Welt von Cybercrime, NSA und Weltverschwörung. Amerika befindet sich im Cyberwar mit China und ich stecke mittendrin.
Das Fett in der Pfanne ist längst zu einem schmutzig weißen Block erstarrt, aus dem kleine, verbrannte Zwiebelstücke ragen, als ich endlich in die Realität zurückfinde und abwaschen gehe. Pieps lässt sich entschuldigen: Sie muss eine winzige Raupe dabei beobachten, wie sie einen Grashalm empor kriecht.
Als ich später im Zelt liege und den letzten Schluck Bier trinke, sehe ich mir den Plan für den nächsten Tag an. Morgen geht es nach Kaunas und dann weiter in den südlichsten Zipfel Litauens bis kurz vor die Grenze nach Weißrussland. Dort warten einige interessante Sehenswürdigkeiten darauf, von uns besichtigt zu werden.
Was immer der morgige Tag bringen mag, Greeny, Pieps und ich sind jedenfalls in Topform, um es mit allem aufzunehmen...
zum nächsten Tag...
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Die Fahrt mit der Enduro auf verlassenen Pisten an der Grenze, hat Spaß gemacht. Dafür war die Landstraße umso langweiliger.