Die Stadt, die es nicht gab
Die Nacht war ein wenig unheimlich. Das Restaurant hat irgendwann zugemacht, sämtliche Mitarbeiter sind verschwunden und der Letzte hat das große Tor hinter sich geschlossen. Nur ein Waldkauz hat Pieps und mir noch Gesellschaft geleistet: "Huh-Huhuhu-Huuuh".
Es ist erstaunlich, wie hübsch und freundlich Estland im hellen Sonnenschein aussieht. Die Tristesse der vergangenen Tage ist wie weggewischt. Schon nach kurzer Zeit geht den Esten wieder der Asphalt aus und ich heize vergnügt über die Naturpiste. Diese Art des Endurowanderns zwischen Wiesen und Wäldern, über Sandwege und Schotter, macht mir am meisten Spaß.
Die nächste Sehenswürdigkeit entdecke ich auch ohne Hinweistafel: Das Nonnenkloster von Kuremäe. Schon aus einiger Entfernung sind die fremdartigen Zwiebeltürme zu sehen. Ohne das Kloster wäre Kuremäe mit seiner Handvoll Einwohnern lediglich ein weiteres belangloses Kaff an der Landstraße 32, doch so gibt es einen Großparkplatz mit Aussicht auf Reisebusse. Noch liegt der Platz verlassen.
"Guck ma'! Da sin' so Brötschen mit kleine Wöhrstschän drin", kräht Pieps begeistert und drückt sich die Nase an der Scheibe platt.
Eine junge Frau mit einem sympathisch runden Gesicht kommt von hinten aus der Küche und wischt sich dabei die Hände an ihrer Schürze trocken. Sie begrüßt uns freundlich.
"Coffee, please. And two of these", sage ich und zeige auf die Würstchen im Blätterteig. Ich bezahle und in diesem Moment kommt die Postbotin mit einem Stapel Briefen herein und hält uns die Tür auf, während ich Kaffee und Gebäck hinaus auf die Terrasse balanciere.
Nachdem der letzte Krümel Blätterteig mit Spuckefinger vom Teller gesammelt ist, mache ich mich auf den Weg zum Kloster. Aus dem Tankrucksack nehme ich das 35 mm Objektiv für meine Fuji und stiefele über den Platz zum Torhaus.
Inzwischen eilen auch andere Besucher zielstrebig auf die kleine Seitentür zu. Die Frauen verhüllen noch im Gehen ihre Haare bevor sie hineingehen.
*Das ist mir piepenhagen = Das ist mir egal
Auf der E20, der Hauptverbindungsstrecke nach Sankt Petersburg, geht es weiter nach Osten. Mein Ziel heißt Narva, die östlichste Stadt Estlands in der 95% zur russischen Minderheit gehören, nur dass diese in Narva die Mehrheit der Einwohner stellt.
Ich halte die Kawasaki zwischen 90 und 100, aber außer Fahrrädern und Traktoren mit mehr als einem Anhänger überholt mich alles und jeder. Verkehrsregeln haben hier eher empfehlenden Charakter.
Die Türen gehenauf und zwei junge Männer steigen aus. Beide etwa Mitte 20, schicke Frisur, modernes Outfit, Flip Flops und Sonnenbrille im Haar. Lässig verschwinden sie im Café, ohne sich darum zu scheren, dass ihre fette Karre zwei Zapfsäulen blockiert.
In der Zwischenzeit ist ein alter Herr aufs Gelände geradelt. Er stellt sein klappriges Fahrrad sorgfältig ab und beginnt damit, die Mülleimer zu durchsuchen. Sorgfältig öffnet er einen Schwingdeckel nach dem anderen und sieht hinein. Manchmal stöbert er mit dem Arm tief in der Tonne.
Seine Routine ist unschwer zu erkennen. Vermutlich kommt er täglich ein, oder zwei Mal hier vorbei. Heute bleibt seine Suche erfolglos. Er setzt sich wieder auf sein Rad und radelt so still davon, wie er gekommen ist.
Wie ist es möglich, dass in einer Gegend, in der bis vor kurzem die absolute kommunistische Gleichmacherei herrschte, es solch ein Gefälle zwischen Arm und Reich gibt? Vermutlich hat der alte Herr in einem Jahr härter gearbeitet, als die beiden FlipFlops in ihrem gesamten bisherigen Leben.
Ich starte den Motor und fahre nach Narva hinein. Aus Höflichkeit und aus Respekt vor dem Gastland gleiche ich meinen Fahrstil den regionalen Gepflogenheiten an und heize im ersten Ampelrot noch über die große Kreuzung vor dem Apollo Kino.
Unterhalb der Brücke verläuft die European Avenue, eine Prachtpromenade für Spaziergänge am Ufer der Narva. An seiner Seite stehen 28 Leuchtstäbe, einer für jedes Land der EU. Immer wieder bemerke ich Leute, die sich vor den Fahnen Estlands und der EU fotografieren lassen. Man ist stolz dazuzugehören. Für die Briten, die in zwei Tagen ihr Referendum über den Austritt aus der EU abhalten, herrscht hier wenig Verständnis, auch wenn wohl niemand ernsthaft glaubt, dass es tatsächlich zu einem Brexit kommen wird.
Ich schlendere über die European Avenue zurück zum Motorrad, das allein auf einem Brachgelände unterhalb der Herrmannsfeste steht. Dass noch all meine Sachen da sind, erstaunt mich inzwischen nicht mehr. Über die Empfehlung des Auswärtigen Amtes, nur bewachte Parkplätze aufzusuchen, kann ich nur lachen: Es gibt gar keine.
Bevor ich Narva verlasse, halte ich vor einem Supermarkt in der Stadt. Ich steige ab, ziehe den Schlüssel ab und will gerade hineingehen, als mir ein Typ in Fahrradklamotten auffällt. Er bewacht zwei Reiseräder mit Gepäck. Er ist Deutscher und ich erfahre, dass seine Frau im Laden zum Einkaufen ist und er solange auf die Fahrräder aufpasst.
Ich bin kurz davor, ihm zu sagen, dass meine schöne Kamera, die Objektive und all meine Habseligkeiten im Tankrucksack bleiben, während ich im Supermarkt nach dem leckersten Stück Fleisch Ausschau halte. Sollte ich eines Tages doch beklaut werden, kann ich sagen: "Es ist aber auch über 30 Jahre lang gut gegangen."
Als ich kurz darauf mit fetter Beute aus dem Laden komme, steht er noch immer bei den Rädern und passt auf. Ich wette, zu Zweit könnten wir ihn locker ablenken und er würde nicht einmal merken, wohin seine Räder verschwinden. Gerade bei den obermisstrauischen Typen funktioniert der Trick mit dem Stadtplan eigentlich immer.
Ich verzichte auf eine Vorführung angewandter Kriminalistik und mache mich wieder auf den Weg. Er ist gestraft genug und bei seinem Glück kommt die Else gleich mit Biotomaten und einer Packung Haferkeksen aus dem Laden.
Auf der vierspurigen Alexander-Puschkin-Straße verlasse ich Narva und nähere mich schon bald dem nächsten Punkt von Interesse auf meiner Route.
Sillamäe war das Zentrum der sowjetischen Atomindustrie und so geheim, dass es sie offiziell nicht gab. Sie tauchte auf keiner Landkarte auf und Post an die Bewohner wurde über Deckadressen anonymisiert und weitergeleitet. Bis 1991 wussten nicht einmal die Esten selbst von der Existenz dieser Stadt in ihrem eigenen Land.
Die Russen hatten ein entspanntes Verhältnis zum Umweltschutz und kippten im Lauf von Jahrzehnten etwa 12 Mio. Tonnen Abfall aus der Uranproduktion in einen relativ kleinen künstlichen See, der lediglich durch einen Erdwall von 30 m Breite von der freien Ostsee getrennt war, den Nuclear Pond.
Laut der schwedischen Strahlenschutzbehörde lagerten dort 1.000 t Uran , 500 t Thorium und 300 Mrd Becquerel Radium, die aus dem Uranabbau für die Atomwaffenproduktion stammten und von 1948 bis 1989 dort entsorgt wurden.
Im Jahr 1998 wurde damit begonnen, den radioaktiven See zu entschärfen. Das gemeinsame Projekt von EU, Estland und den Nordstaaten verschlang 21,4 Mio. Euro und dauerte volle zehn Jahre. Dann trat Tonis Kaasik, Chef-Tatortreiniger der Firma ÖkoSil, vor die Presse und verkündete: "It is completely safe now."
Es geht eine Weile über Feldwege vorbei an einigen ärmlichen Hütten, bis ich einen hohen Sicherheitszaun erreiche. Die Krone ist mit Bandstacheldraht gesichert, einer besonderen Form des Nato-Drahts.
Ich beeile mich, ein paar Aufnahmen zu machen und habe ständig dieses mulmige Gefühl im Nacken, als täte ich etwas Verbotenes und dürfte gar nicht hier sein, dabei habe ich bisher kein einziges Verbotsschild gesehen.
Die Küste zwischen Narva und Tallin ist voller interessanter Plätze, die es sich anzusehen lohnt. Es gibt eine Vielzahl von Gutshöfen und Schlössern, die auf der Website Gutshöfe Estlands akribisch gelistet sind. Allerdings war ich überrascht, als im Reiseführer auch ein Wasserfall erwähnt wurde.
Valaste Juga ist der höchste Wasserfall Estlands, was zuerst nicht sonderlich beeindruckend klingt, aber in einer deutschen Zeitung wurde er als Ein Weltwunder beschrieben.
Nach etwa 20 km erreiche ich einen kleinen Sandparkplatz neben der Küstenstraße. Hier soll der Wasserfall sein. Ich schnappe mir Pieps und die Kamera mit den Objektiven und folge dem Fußweg an den Rand der Steilküste.
Die Ausgabe der deutschen Zeitung, die über das Weltwunder Valaste Juga berichtete, erschien 1840 und ganz offensichtlich hat sich die Welt seitdem ein gutes Stück weiter gedreht. Trotzdem lohnt sich der kleine Abstecher, denn die wahre Attraktion ist eine halb verfallene Aussichtsplattform, deren Zugang vor langer Zeit in die Tiefe gestürzt ist.
Jetzt sind es bloß noch 10 km bis zum Campingplatz. Heute werden Pieps und ich einmal hochherrschaftlich übernachten: Im edlen Saka Cliff Manor & SPA Hotel. Allerdings dürfen wir in den Suiten kein Zelt aufbauen und deshalb habe ich gefragt, ob wir vorm Schloss im Garten zelten dürfen: Wir dürfen.
Als ich zehn Minuten später auf das Anwesen rolle, fällt mir ein, dass ich nach dem Preis hätte fragen sollen. Wenn ich gestern für Plumpsklocamping schon 15 € bezahlt habe, was mag es dann erst hier kosten?
Kühl und abweisend thront das Herrenhaus inmitten einer makellos manikürten Parkanlage auf der Steilküste. Ob ich in diesen Klamotten überhaupt in die Rezeption darf? Selbst der Gärtner auf seinem Elektrokarren ist besser angezogen als ich.
"Denk einfach an Downton Abbey", sage ich mir, als ich die hölzernen Flügeltüren aufstoße. Hinter dem Tresen der Rezeption steht eine junge Frau im dunkelblauen Kostüm. Sie spricht ausgezeichnet Englisch und klingt dabei sehr britisch. Ich lege meinen Personalausweis vor und sehe zu, wie sie die Daten gewissenhaft in ein Meldeformular überträgt.
"Three Euro twenty, please."
"How much?", frage ich, weil ich glaube, mich verhört zu haben.
"Three Euro and twenty Cents, please."
Die verblüffen mich, die Balten. Sie haben eindeutig noch nicht ihren Preis gefunden. Manches ist frech teuer, das dann an der nächsten Ecke in besserer Qualität grotesk günstig ist. Auch das macht den Charme einer Reise ins Baltikum aus, zumal 'teuer' niemals teuer nach Sylter Maßstäben ist.
Selbst die Staatsmänner Suite mit Kaminsaal erscheint mit 320 € pro Nacht durchaus angemessen. Eines Jahres, wenn wir viel, viel älter sind und schrecklich wohlhabend, dann werden Pieps und ich eine Prinzessinnentour machen und nur in den edelsten Zimmern übernachten, während vorm Schloss unsere dreckige KLX250 Enduro parkt.
Es ist kaum zu glauben, dass außer unserem Zelt nur ein VW-Bus und ein Wohnwagen auf dem Platz stehen, dabei ist heute der 20. Juni und bald Sonnenwende.
Der Strand ist wild und rauh. Keine Strandkörbe, keine Flip Flops, keine Eisverkäufer, nichts. Dafür umgestürzte Bäume aus dem Wald, Bruchholz und jede Menge Treibgut, das der Sturm auf den Strand geworfen hat.
Leichtfüßig tippele ich die ersten 12 Stufen nach oben, bevor ich mich entschließe langsamer zugehen, ich möchte möglichst viel von dem schönen Urwald um mich herum ansehen. Ab und zu bleibe ich stehen, um mir die Gegend anzusehen, bevor ich bedächtig, einen Fuß vor den anderen setzend, weiter die Stufen hinaufaste.
Nach der Hälfte der Stufen fächele ich mir mit der flachen Hand Luft zu und mich überkommt das sichere Gefühl, jeden Moment einen Herzanfall, Hirnschlag, oder Milzriss zu bekommen. Natürlich bin ich nicht aus der Form, aber ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen und fühle mich ein wenig schwach.
Im Kellergewölbe des Herrenhauses Saka Manor gibt es ein Restaurant. Etwas nobel und eher upper class, aber ich bin dafür angezogen: Minirock, Ballerinas und knielange Leggings an zerstochenen Waden. Dieser Look geht immer.
Das Gewölbe liegt verlassen. Kein Kellner ist zu sehen. Haben die überhaupt schon geöffnet? Die Tische sind festlich eingedeckt, Gläser funkeln und Servietten sind elegant zu Bischofsmützen gefaltet.
Als ich damenhaft die Beine übereinander schlage, entdecke ich einige sehr undamenhafte Löcher in meiner Leggings. Der schwarze Stoff ist weg und nur das dünne Grundgewebe ist noch übrig. Die Stellen sind etwa handtellergroß.
Dann hat der Warnhinweis auf dem Anti-Brumm-Forte also doch seinen Sinn: "Darf nicht mit Textilien in Berührung kommen." Ich hatte es großzügig auf die Leggings gesprüht, weil die Mücken sonst durch den Stoff stechen. Ein Teufelszeug, aber der beste Mückenschutz von allen.
Am Boden des Biers bestelle ich ein Glas Chardonnay. So kann ich länger hier sitzen, die noble Atmosphäre genießen und in mein Reisetagebuch schreiben.
Plötzlich geht die Tür auf und ein breitschultriger Typ kommt herein. Schwarzer Anzug, kantiges Gesicht, Schädel rasiert, vermutlich Ex-Militär. Er sieht sich prüfend um und erst jetzt treten zwei elegant gekleidete Herren ein. Teure Anzüge, lederne Aktenkoffer, sehr junge Frauen auf grotesk hohen Schuhen.
"Your granddaughters look very nice in their short dresses", könnte ich launig sagen und dabei Ivan dem Großen auf die Schulter klopfen, um die Stimmung ein wenig auflockern, denn sowas kann ich, aber inzwischen werden die ersten Flaschen entkorkt und ich denke, die amüsieren sich auch so genug.
Ich bezahle die Barrechnung, 2,50 € fürs Bier und 4 € für den Chardonnay, packe meine Sachen zusammen und gehe. Auf dem Parkplatz vorm Restaurant stehen zwei schwarze SUV. Wieder sind es Range Rover. Manchmal frage ich mich, wer eigentlich wen beeinflusst: Gucken sich diese Ostblocktypen ihre Outfits und das Verhalten aus Filmen ab, oder hat Hollywood tatsächlich im Milieu recherchiert und dabei genau hingesehen?
Pieps und ich ziehen uns zum Abendessen zurück in unser eigenes Gewölbe. Großmütig leiht sie mir ihr super scharfes Schweizer Messer, damit ich die roten Zwiebeln schneiden kann. Die eingelegten Koteletts brutzeln im heißen Olivenöl und nehmen allmählich die korrekte Farbe an, irgendwo zwischen dunkelrot, mittelbraun und hellschwarz.
Direkt an der Klippe steht ein ehemaliger Wachturm der Sowjets, der Seatower. Bis 1992 stand dort ein mächtiger Leuchtprojektor, dessen Licht angeblich 10 km weit aufs Meer leuchtete, um bei Nacht Boote aufzuspüren, die nicht gesehen werden wollten. Heute sind darin Seminarräume untergebracht und oben gibt es eine Aussichtsplattform.
Von dort oben möchte ich heute um Mitternacht ein Foto der berühmten Weißen Nächte machen. Als Pieps und ich schlafen gehen, stelle ich den Wecker auf 23:50 Uhr.
Ich wandere über die dunkle Wiese hinüber zum Turm und steige die außen liegende Wendeltreppe hinauf. Es sind 64 Stufen bis auf die Plattform, die mit ihren hölzernen Planken und der Reling an ein Schiffsdeck erinnert.
Vorsichtig steige ich die Gitterstufen hinunter und verkrieche mich wieder in meinen Schlafsack. Ich bin so aufgekratzt von der kleinen Klettertour, dass ich nicht gleich einschlafen kann, doch nach einigen Minuten ... bzzZzzz brrrRrr...
zum nächsten Tag...
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Erst hinterher habe ich erfahren, dass Saka Manor als eines der besten Restaurants Estlands gilt. Nun, wenigstens hab ich ein Glas Chardonnay dort getrunken...