Sommerreise Baltikum 2016
Litauen
Tag 1: Fähre Kiel - Klaipeda
Tag 2: Am Kurischen Haff
Tag 3: Silute - Jurbarkas
Tag 4: Raudone - Druskininkai
Tag 5: Grutas Park - Trakai - Moletai
Tag 6: Moletai - Kurtuvenai
Tag 7: Berg der Kreuze
Tag 8: Kurtuvenai - Pukarags
Lettland
Tag 9: Liepaja - Ventspils
Tag 10: Kurland
Tag 11: Riga - Gauja Nationalpark
Tag 12: Burg Cesis
Estland
Tag 13: Cesis - Peipussee
Tag 14: Kallaste - Mustvee - Vaikla
Tag 15: Narva - Silamäe - Saka
Tag 16: Kohtla-Nömme - Paunküla
Tag 17: Rapla - Lihula
Tag 18: Lihula - Saaremaa
Tag 19: Burg Kuressaare
Tag 20: Halbinsel Sõrve
Tag 21: Kuressaare - Saue
Tag 22: Tallinn - Helsinki
Tag 23: Heimkehr und Fazit
Platzhalter Motorradreise Baltikum
Platzhalter Motorradtour Litauen
Platzhalter Heiligenbild Kuremäe
Platzhalter Historie Jahreszahlen Kloster Kuremäe
Platzhalter Quittung Statoil Narva
Platzhalter Quittung Maxima Narva
Platzhalter Motorradtour Litauen
Platzhalter <Stairway to the beach in Saka Manor
Platzhalter <Blue Clay
Platzhalter Quittung Saka Manor
Platzhalter Seatower Saka Manor
Platzhalter


Die Stadt, die es nicht gab

Die Nacht war ein wenig unheimlich. Das Restaurant hat irgendwann zuge­macht, sämtliche Mitarbeiter sind verschwunden und der Letzte hat das große Tor hinter sich geschlossen. Nur ein Waldkauz hat Pieps und mir noch Gesellschaft geleistet: "Huh-Huhuhu-Huuuh".

Zelt und Motorrad

Als ich am Morgen bei bestem Wetter den Motor starte und auf das Tor zurolle, ist es noch verschlossen. Mit einem eleganten Schlenker weiche ich auf den Grünstreifen aus und bin kurz darauf wieder On-the-Road.

Es ist erstaunlich, wie hübsch und freundlich Estland im hellen Sonnenschein aussieht. Die Tristesse der vergangenen Tage ist wie weggewischt. Schon nach kurzer Zeit geht den Esten wieder der Asphalt aus und ich heize vergnügt über die Naturpiste. Diese Art des Enduro­wanderns zwischen Wiesen und Wäldern, über Sandwege und Schotter, macht mir am meisten Spaß.

Motorrad auf dem Sandweg

Auf gut Glück folge ich den braunen Tafeln entlang der Route, die auf irgendwelche Sehens­würdig­kei­ten hinweisen, die ich nicht verstehe. Die erste führt zu einer hölzernen Kirche im Wald. Als ich den Motor abstelle und den Helm absetze, sind nur noch die typischen Waldge­räusche zu hören: Das Schwirren der Insekten, der Wind in den Bäumen und das leise Knistern des abkühlenden Enduromotors.

Holzkirche Estland

Ich sehe mich um, mache ein paar Fotos und schon habe ich einen weiteren Mückenstich: Wange rechts. Damit steht es heute schon 3:1 für die Blutsauger, beim Zelt abbauen haben sie mich zweimal auf dem kleinen Finger erwischt. Baltikum ist Mückenland.

Die nächste Sehenswürdigkeit entdecke ich auch ohne Hinweistafel: Das Nonnenkloster von Kuremäe. Schon aus einiger Entfernung sind die fremdartigen Zwiebeltürme zu sehen. Ohne das Kloster wäre Kuremäe mit seiner Handvoll Einwohnern lediglich ein weiteres belangloses Kaff an der Landstraße 32, doch so gibt es einen Großparkplatz mit Aussicht auf Reisebusse. Noch liegt der Platz verlassen.

Kloster Kuremäe Estland

Die Zufahrt zum Kloster ist gesperrt, aber nichts, wodurch sich Svenja, Pieps und eine leichte 250 cc Enduro aufhalten ließen. Langsam tuckere ich an dem Verbotsschild vorbei und parke in respektvollem Abstand vor dem Kloster. 200 m wären geradezu ehrfürchtig weit weg, wenn der wahre Grund nicht die einladenden Tische vor dem Kuremäe Hostel wären: Hier gibt es sicher Frühstück.

Hostel Kuremäe

Ein Glöckchen bimmelt einladend über der Tür als ich hineingehe. Es duftet nach Kaffee und auf dem Tresen steht eine Vitrine mit Kuchen und frischen Backwaren.

"Guck ma'! Da sin' so Brötschen mit kleine Wöhrstschän drin", kräht Pieps begeistert und drückt sich die Nase an der Scheibe platt.

Eine junge Frau mit einem sympathisch runden Gesicht kommt von hinten aus der Küche und wischt sich dabei die Hände an ihrer Schürze trocken. Sie begrüßt uns freundlich.

"Coffee, please. And two of these", sage ich und zeige auf die Würstchen im Blätterteig. Ich bezahle und in diesem Moment kommt die Postbotin mit einem Stapel Briefen herein und hält uns die Tür auf, während ich Kaffee und Gebäck hinaus auf die Terrasse balanciere.

Pieps und Kuchen und Kaffee

Der Kaffee schmeckt prima und die Brötchen sind noch ganz warm und buttrig fett. Zufrieden sitzen Pieps und ich unter dem Sonnenschirm und mampfen das Frühstück in uns hinein.

Nachdem der letzte Krümel Blätterteig mit Spuckefinger vom Teller gesammelt ist, mache ich mich auf den Weg zum Kloster. Aus dem Tankrucksack nehme ich das 35 mm Objektiv für meine Fuji und stiefele über den Platz zum Torhaus.

Kloster Kuremäe Estland

Das gewaltige Haupttor ist verschlossen, aber an der Seitenpforte herrscht ein reges Kommen und Gehen. Nonnen in schwarzen Gewändern geben sich die Klinke in die Hand und hasten eiligen Schrittes in verschiedene Richtungen davon. Es scheint zwei Sorten von ihnen zu geben: Die komplett schwarz Gekleideten und welche mit weißer Haube und Kopftuch. Das sind Novizinnen, Nonnen in der Probezeit

Inzwischen eilen auch andere Besucher zielstrebig auf die kleine Seitentür zu. Die Frauen verhüllen noch im Gehen ihre Haare bevor sie hineingehen.

Kloster Kuremäe Estland

Ich folge ihnen und trete zögerlich durch die Pforte in den Innenhof. Es mag auch am Wetter liegen, aber die Schönheit des Klosters ist überwältigend. Jedes Stück Bauwerk, jeder Zaun, jede Mauer und jede Bank sind perfekt unter Farbe und die Beete würden jeder Gärtnerei zur Ehre gereichen. Unfassbar, wie viele dienstbare Geister mit großem Wissen und Fleiß allein mit der Pflege des Gartens beschäftigt sein müssen.

Kuremäe Kiosk

Das Kloster Pühtitsa in Kuremäe ist das einzige russisch-orthodoxe Nonnenkloster in Estland. Etwa 100 Nonnen leben hier und sie haben sogar ihr eigenes Krankenhaus. Die Anlage steht voll unter Dampf und ist keines dieser touristischen Besucherklöster, die im Grunde bloß noch als anregende Dekoration um den Souveniershop herum existieren.

Kuremäe Nonne Kloster

In der großen Hauptkirche findet gerade eine Messe statt. Gesänge und Stimmen sind zu hören, aber durch das dunkle Portal erkenne ich nur Kerzenschein, unzählig viele Lichter, und höre ein gedämpftes Murmeln.

Kloster Kuremäe Torhaus

Ich möchte nicht hineingehen. Dazu müsste ich meine Haare verhüllen und in den Motorrad­sachen wäre das auch unpassend. Außerdem bin ich noch sauer auf Gott wegen der Greuel im dritten Reich und wegen all der Dinge, die er Eltern ihren Kindern antun lässt, ohne den Schwächsten und Schutzbedürftigsten beizustehen. Welche andere Erklärung kann es dafür geben, als dass wir ihm völlig piepenhagen* sind?
*Das ist mir piepenhagen = Das ist mir egal

Kloster Kuremäe Tor

Das Kloster von Kuremäe ist wunderschön und es gäbe noch mehr zusehen, den heiligen Baum, die gesegnete Quelle, aber der Ort fängt an, mir unter die Haut zu gehen. Ich will zurück ins Hier und Jetzt und dazu ist nichts besser geeignet, als sich aufs Motorrad zu setzen, den Motor zu starten und zurück auf die Landstraße zu düsen. Als ich die Straße hinunterfahre, kommt mir der erste Reisebus entgegen.

Auf der E20, der Hauptverbindungsstrecke nach Sankt Petersburg, geht es weiter nach Osten. Mein Ziel heißt Narva, die östlichste Stadt Estlands in der 95% zur russischen Minderheit gehören, nur dass diese in Narva die Mehrheit der Einwohner stellt.

Ich halte die Kawasaki zwischen 90 und 100, aber außer Fahrrädern und Traktoren mit mehr als einem Anhänger überholt mich alles und jeder. Verkehrsregeln haben hier eher empfehlenden Charakter.

Straße nach Sankt Petersburg

In Narva lenke ich das Motorrad auf die große STATOIL-Station an der Tallinna Maantee. Während das Benzin in den Tank läuft, hält an der Säule neben mir ein schwarzer SUV mit RUS Kennzeichen, ein brandneuer Range Rover V8. In der offiziellen Preistabelle ist der Wagen mit einem Grundpreis von € 167.000 gelistet. Das schwarze Privacy Glass lässt nicht erkennen, wer darinnen sitzt.

Die Türen gehenauf und zwei junge Männer steigen aus. Beide etwa Mitte 20, schicke Frisur, modernes Outfit, Flip Flops und Sonnenbrille im Haar. Lässig verschwinden sie im Café, ohne sich darum zu scheren, dass ihre fette Karre zwei Zapfsäulen blockiert.

In der Zwischenzeit ist ein alter Herr aufs Gelände geradelt. Er stellt sein klappriges Fahrrad sorgfältig ab und beginnt damit, die Mülleimer zu durchsuchen. Sorgfältig öffnet er einen Schwingdeckel nach dem anderen und sieht hinein. Manchmal stöbert er mit dem Arm tief in der Tonne.

Seine Routine ist unschwer zu erkennen. Vermutlich kommt er täglich ein, oder zwei Mal hier vorbei. Heute bleibt seine Suche erfolglos. Er setzt sich wieder auf sein Rad und radelt so still davon, wie er gekommen ist.

Wie ist es möglich, dass in einer Gegend, in der bis vor kurzem die absolute kommunistische Gleichmacherei herrschte, es solch ein Gefälle zwischen Arm und Reich gibt? Vermutlich hat der alte Herr in einem Jahr härter gearbeitet, als die beiden FlipFlops in ihrem gesamten bisherigen Leben.

Ich starte den Motor und fahre nach Narva hinein. Aus Höflichkeit und aus Respekt vor dem Gastland gleiche ich meinen Fahrstil den regionalen Gepflogenheiten an und heize im ersten Ampelrot noch über die große Kreuzung vor dem Apollo Kino.

Straße durch Narva

Was haben die Ostblockländer bloß mit Prachtalleen? Keine Stadt im Osten nördlich 50.000 Einwohnern, die nicht mindestens vierspurig zwischen ihre Plattenbauten fahren lässt. Sind die für Militärparaden? Zum Angeben? Für den Straßenverkehr wurden sie jedenfalls nicht gebaut, denn Narva hätte gar nicht genug Autos, um die breiten Straßen zu füllen, aber eines muss man sagen: Man hat immer freie Fahrt.

Herrmannsfeste und Festung Iwanogrod an der Narva

Narva ist Grenzstadt nach Russland. Hier, an der Ostgrenze der EU, stehen sich zwei gewaltige Festungsanlagen gegenüber. Im Westen thront die majestätische Herrmannsfeste, die östlichste Burg des Deutschen Ordens. Wir haben sie 1345 von den Dänen gebraucht gekauft, aber sie scheint gut in Schuss zu sein.

Herrmannsfeste Narva

Auf dem russischen Ufer der Narva steht die Festung Iwangorod. Eine gewaltige Anlage, weitläufiger als die Herrmannsfeste blickt sie finster über den Fluss herüber.

Festung Iwanogrod

Die Brücke über den Fluss endet am russischen Grenzkontrollpunkt. Davor hat sich eine lange Schlange von Autos und Wohnmobilen gebildet. Man braucht Geduld. Für Fußgänger gibt es einen vergitterten Laufgang, aus dem es kein Entrinnen gibt, bevor man den Grenzposten erreicht hat.

Unterhalb der Brücke verläuft die European Avenue, eine Prachtpromenade für Spaziergänge am Ufer der Narva. An seiner Seite stehen 28 Leuchtstäbe, einer für jedes Land der EU. Immer wieder bemerke ich Leute, die sich vor den Fahnen Estlands und der EU fotografieren lassen. Man ist stolz dazuzugehören. Für die Briten, die in zwei Tagen ihr Referendum über den Austritt aus der EU abhalten, herrscht hier wenig Verständnis, auch wenn wohl niemand ernsthaft glaubt, dass es tatsächlich zu einem Brexit kommen wird.

Der russische Grenzübergang in Narva

Mir fällt auf, dass die Menschen gut angezogen sind. Nicht unbedingt teuer, aber mit einer Sorgfalt, wie ich sie von Fotos aus dem Berlin der 50er Jahre kenne. Viele junge Männer tragen Stoffhosen und gebügelte Oberhemden. Ich mag den lässig eleganten Freizeitlook, der ohne Jeans auskommt. Gerade die Frauen sind sorgfältig gestylt. In meinen derben Motorradsachen ernte ich einige erstaunte Blicke.

Ich schlendere über die European Avenue zurück zum Motorrad, das allein auf einem Brachgelände unterhalb der Herrmannsfeste steht. Dass noch all meine Sachen da sind, erstaunt mich inzwischen nicht mehr. Über die Empfehlung des Auswärtigen Amtes, nur bewachte Parkplätze aufzusuchen, kann ich nur lachen: Es gibt gar keine.

Bevor ich Narva verlasse, halte ich vor einem Supermarkt in der Stadt. Ich steige ab, ziehe den Schlüssel ab und will gerade hineingehen, als mir ein Typ in Fahrrad­klamotten auffällt. Er bewacht zwei Reiseräder mit Gepäck. Er ist Deutscher und ich erfahre, dass seine Frau im Laden zum Einkaufen ist und er solange auf die Fahrräder aufpasst.

Ich bin kurz davor, ihm zu sagen, dass meine schöne Kamera, die Objektive und all meine Habseligkeiten im Tankrucksack bleiben, während ich im Supermarkt nach dem leckersten Stück Fleisch Ausschau halte. Sollte ich eines Tages doch beklaut werden, kann ich sagen: "Es ist aber auch über 30 Jahre lang gut gegangen."

Als ich kurz darauf mit fetter Beute aus dem Laden komme, steht er noch immer bei den Rädern und passt auf. Ich wette, zu Zweit könnten wir ihn locker ablenken und er würde nicht einmal merken, wohin seine Räder verschwinden. Gerade bei den obermisstrauischen Typen funktioniert der Trick mit dem Stadtplan eigentlich immer.

Ich verzichte auf eine Vorführung angewandter Kriminalistik und mache mich wieder auf den Weg. Er ist gestraft genug und bei seinem Glück kommt die Else gleich mit Biotomaten und einer Packung Haferkeksen aus dem Laden.

Auf der vierspurigen Alexander-Puschkin-Straße verlasse ich Narva und nähere mich schon bald dem nächsten Punkt von Interesse auf meiner Route.

Sillamäe

SILLAMÄE - värskete meretuulte linn steht auf der Fassade eines Hauses, Sillamäe - Stadt der frischen Meeresbrise. Ein schöner Slogan, aber bei weitem nicht die ganze Geschichte. Dahinter verbirgt sich eine unglaubliche Story: Sillamäe - Die Stadt, die es nicht gab, lautet ein Spiegel-Artikel, der sich liest, wie ein Roman von Robert Ludlum.

Sillamäe war das Zentrum der sowjetischen Atomindustrie und so geheim, dass es sie offiziell nicht gab. Sie tauchte auf keiner Landkarte auf und Post an die Bewohner wurde über Deck­adressen anonymisiert und weitergeleitet. Bis 1991 wussten nicht einmal die Esten selbst von der Existenz dieser Stadt in ihrem eigenen Land.

Die Russen hatten ein entspanntes Verhältnis zum Umweltschutz und kippten im Lauf von Jahrzehnten etwa 12 Mio. Tonnen Abfall aus der Uranproduktion in einen relativ kleinen künstlichen See, der lediglich durch einen Erdwall von 30 m Breite von der freien Ostsee getrennt war, den Nuclear Pond.

Laut der schwedischen Strahlenschutzbehörde lagerten dort 1.000 t Uran , 500 t Thorium und 300 Mrd Becquerel Radium, die aus dem Uranabbau für die Atomwaffen­produktion stammten und von 1948 bis 1989 dort entsorgt wurden.

Im Jahr 1998 wurde damit begonnen, den radioaktiven See zu entschärfen. Das gemeinsame Projekt von EU, Estland und den Nordstaaten verschlang 21,4 Mio. Euro und dauerte volle zehn Jahre. Dann trat Tonis Kaasik, Chef-Tatortreiniger der Firma ÖkoSil, vor die Presse und verkündete: "It is completely safe now."

Feldweg in Estland

Ich setze den Blinker und biege von der E20 in einen unscheinbaren Feldweg ein, an dem ich ansonsten achtlos vorbeigefahren wäre. Es hat etwas gedauert, bis ich die Lage des Gebiets über Google Maps und Street View ermittelt hatte, aber ich glaube, jetzt weiß ich, wo der ehemalige Nuclear Pond zu finden ist.

Es geht eine Weile über Feldwege vorbei an einigen ärmlichen Hütten, bis ich einen hohen Sicherheitszaun erreiche. Die Krone ist mit Bandstacheldraht gesichert, einer besonderen Form des Nato-Drahts.

Ehemalige Atomanlage Sillamäe in Estland

Über einen fiesen Weg, aufgeschüttet aus Bauschutt, fahre ich einen Kilometer am Zaun entlang. Der KLX mit ihren langen Federwegen und den groben Heidenau K60 Reifen macht das nichts aus, aber ich habe ständig Angst vor einem Platten und scanne aufmerksam den Untergrund nach Metallteilen.

Ehemalige Atomanlage Sillamäe in Estland

Auf der anderen Seite des Zauns liegt ein leergepumpter, sauber ausgebaggerter See. Sind dies die Überbleibsel des Nuclear Pond von Sillamäe? Ich weiß es nicht, die Quellen sind widersprüchlich und Tatsachen von Progaganda häufig nicht zu unterscheiden.

Ich beeile mich, ein paar Aufnahmen zu machen und habe ständig dieses mulmige Gefühl im Nacken, als täte ich etwas Verbotenes und dürfte gar nicht hier sein, dabei habe ich bisher kein einziges Verbotsschild gesehen.

Sillamäe

Nach einem Kilometer endet der Zaun an der Steilküste. Hinter einem weiten, hellen Sandstrand liegt die Ostsee. Man könnte hier prima zelten, aber ich vermute, eine Nacht auf diesem Boden ist wie 30 Jahre Marlboro rauchen.

Ehemalige Atomanlage Sillamäe in Estland

Ein Sandweg führt oben auf der Steilküste am Ufer entlang. Große Pfützen stehen auf dem Weg und ich weiche ihnen aus, so gut es geht. Mit der Enduro durch Schlamm und Pfützen zu heizen, wo es nicht nötig ist, sieht nur auf Youtube gut aus. Im richtigen Leben wird man nass und dreckig und saut sich und die Maschine völlig ein.

Die Küste zwischen Narva und Tallin ist voller interessanter Plätze, die es sich anzusehen lohnt. Es gibt eine Vielzahl von Gutshöfen und Schlössern, die auf der Website Gutshöfe Estlands akribisch gelistet sind. Allerdings war ich überrascht, als im Reiseführer auch ein Wasserfall erwähnt wurde.

Steilküste Estland Blick aufs Meer

Ein Wasserfall im flachen Baltikum? Den muss ich sehen. Die Küstenstraße kann sich zwar nicht mit der Grand Corniche messen, aber sie ist klasse zu fahren und bietet einen hübschen Blick über den Finnischen Meerbusen. Eine Empfehlung für sämtliche Biker von der Honda Goldwing bis zum Kalkoff City-Bike mit Tiefeinstieg.

Valaste Juga ist der höchste Wasserfall Estlands, was zuerst nicht sonderlich beeindruckend klingt, aber in einer deutschen Zeitung wurde er als Ein Weltwunder beschrieben.

Nach etwa 20 km erreiche ich einen kleinen Sandparkplatz neben der Küstenstraße. Hier soll der Wasserfall sein. Ich schnappe mir Pieps und die Kamera mit den Objektiven und folge dem Fußweg an den Rand der Steilküste.

Wasserfall Valaste Juga in Estland

Nach 30 m habe ich freie Sicht auf das Weltwunder: Mit dem Esprit einer Verwaltungsbeamtin kurz vor Feierabend rinnt ein wenig Wasser aus einer lehmigen Wand. Damit könnte man zu Lebzeiten keine Badewanne füllen.

Die Ausgabe der deutschen Zeitung, die über das Weltwunder Valaste Juga berichtete, erschien 1840 und ganz offensichtlich hat sich die Welt seitdem ein gutes Stück weiter gedreht. Trotzdem lohnt sich der kleine Abstecher, denn die wahre Attraktion ist eine halb verfallene Aussichts­plattform, deren Zugang vor langer Zeit in die Tiefe gestürzt ist.

Wasserfall Valaste Juga in Estland

Der Wasserfall als eine der top Sehenswürdigkeiten Estlands ist symptomatisch für das kleine Land. Die Attraktionen sind etwas kleiner als anderswo, eher Hansapark als Disneyworld, aber genau das macht den Charme des Baltikums aus. Man gibt sich Mühe und präsentiert was man hat mit Stolz. Ich mag das und auch diesen kleinen Wasserfall, denke ich, als ich die Kamera im Tankrucksack verstaue und den Motor starte.

Jetzt sind es bloß noch 10 km bis zum Campingplatz. Heute werden Pieps und ich einmal hochherrschaftlich übernachten: Im edlen Saka Cliff Manor & SPA Hotel. Allerdings dürfen wir in den Suiten kein Zelt aufbauen und deshalb habe ich gefragt, ob wir vorm Schloss im Garten zelten dürfen: Wir dürfen.

Als ich zehn Minuten später auf das Anwesen rolle, fällt mir ein, dass ich nach dem Preis hätte fragen sollen. Wenn ich gestern für Plumpsklocamping schon 15 € bezahlt habe, was mag es dann erst hier kosten?

Kühl und abweisend thront das Herrenhaus inmitten einer makellos manikürten Parkanlage auf der Steilküste. Ob ich in diesen Klamotten überhaupt in die Rezeption darf? Selbst der Gärtner auf seinem Elektrokarren ist besser angezogen als ich.

Saka Mois Manor Gutshaus

Ich stelle das Motorrad auf einem Parkplatz zwischen lauter Mittel- und Oberklasse­limousinen ab und schreite, so gut es in Motorradstiefeln möglich ist, würdevoll auf den Eingang zu.

"Denk einfach an Downton Abbey", sage ich mir, als ich die hölzernen Flügeltüren aufstoße. Hinter dem Tresen der Rezeption steht eine junge Frau im dunkelblauen Kostüm. Sie spricht ausgezeichnet Englisch und klingt dabei sehr britisch. Ich lege meinen Personalausweis vor und sehe zu, wie sie die Daten gewissenhaft in ein Meldeformular überträgt.

"Three Euro twenty, please."
"How much?", frage ich, weil ich glaube, mich verhört zu haben.
"Three Euro and twenty Cents, please."

Die verblüffen mich, die Balten. Sie haben eindeutig noch nicht ihren Preis gefunden. Manches ist frech teuer, das dann an der nächsten Ecke in besserer Qualität grotesk günstig ist. Auch das macht den Charme einer Reise ins Baltikum aus, zumal 'teuer' niemals teuer nach Sylter Maßstäben ist.

Selbst die Staatsmänner Suite mit Kaminsaal erscheint mit 320 € pro Nacht durchaus angemessen. Eines Jahres, wenn wir viel, viel älter sind und schrecklich wohlhabend, dann werden Pieps und ich eine Prinzessinnen­tour machen und nur in den edelsten Zimmern übernachten, während vorm Schloss unsere dreckige KLX250 Enduro parkt.

Saka Manor Camping Reception

Langsam tuckere ich über den Fußweg auf die Wiese vorm Cliff und beginne das Lager aufzuschlagen. Der Rasen ist prima, das Zelt steht eben und die Heringe lassen sich einfach in den weichen Untergrund drücken.

Es ist kaum zu glauben, dass außer unserem Zelt nur ein VW-Bus und ein Wohnwagen auf dem Platz stehen, dabei ist heute der 20. Juni und bald Sonnenwende.

Saka Manor Camping

Zuerst ist die traditionelle Platzrunde dran. Ich schnappe mir die Kamera, nehme Pieps an die Hand und gehe zum Rand der Steilküste. Das Manor Cliff ist 48 m hoch und von Bäumen und Gebüsch überwuchert. Eine ungewöhnliche Treppe mit einem roten Geländer führt hinunter zum Strand. Der Saka Stairway fügt sich perfekt in die Landschaft ein und hat 2007 damit den estnischen Architekturpreis in der Rubrik Beste Kleinkonstruktion gewonnen.

Saka Manor Stairway

Gut gelaunt tippel, tanze und hüpfe ich leichtfüßig hinunter zum Strand. Es sind 234 Stufen. Auf halben Weg kommt mir ein Pärchen entgegen, beide ziemlich aus der Puste. Schwerfällig setzen sie einen Fuß vor den anderen. "Wie kann man so aus der Form sein?", denke ich kopfschüttelnd und könnte wetten, dass ich schneller unten bin, als die oben sind.

Der Strand ist wild und rauh. Keine Strandkörbe, keine Flip Flops, keine Eisverkäufer, nichts. Dafür umgestürzte Bäume aus dem Wald, Bruchholz und jede Menge Treibgut, das der Sturm auf den Strand geworfen hat.

Strand in Estland

Am Fuß der Klippe quillt blaue Matsche aus der Steilwand hervor. Dasselbe Zeug ist mir schon am Weltwunder Wasserfall aufgefallen. Eine Tafel erklärt es als Blue Clay und wenn man dem Internet glauben darf, dann enthält blauer Ton seltene Minerale wie Radium und man kann tolle Gesichtsmasken daraus machen.

Blue Clay in Estland

Ich widerstehe der Versuchung, mir die radioaktive blaue Matsche ins Gesicht zu reiben und wandere stattdessen mit sauberem Gesicht weiter am Strand entlang. Keine Sekunde zu spät, da Pieps gerade voller Begeisterung auf die blaue Pampe losstürmen will. Ich schnappe mir die protestierende Maus und gehe zurück zur Treppe.

Leichtfüßig tippele ich die ersten 12 Stufen nach oben, bevor ich mich entschließe langsamer zugehen, ich möchte möglichst viel von dem schönen Urwald um mich herum ansehen. Ab und zu bleibe ich stehen, um mir die Gegend anzusehen, bevor ich bedächtig, einen Fuß vor den anderen setzend, weiter die Stufen hinaufaste.

Nach der Hälfte der Stufen fächele ich mir mit der flachen Hand Luft zu und mich überkommt das sichere Gefühl, jeden Moment einen Herzanfall, Hirnschlag, oder Milzriss zu bekommen. Natürlich bin ich nicht aus der Form, aber ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen und fühle mich ein wenig schwach.

Im Kellergewölbe des Herrenhauses Saka Manor gibt es ein Restaurant. Etwas nobel und eher upper class, aber ich bin dafür angezogen: Minirock, Ballerinas und knielange Leggings an zerstochenen Waden. Dieser Look geht immer.

Das Gewölbe liegt verlassen. Kein Kellner ist zu sehen. Haben die überhaupt schon geöffnet? Die Tische sind festlich eingedeckt, Gläser funkeln und Servietten sind elegant zu Bischofsmützen gefaltet.

Saka Manor Restaurant

Ich gehe an den Bartresen und mache mich bemerkbar: "Hello! Hello...?" Sofort kommt eine elegant gekleidete Kellnerin nach vorn. Ich bestelle ein Glas Bier und setze mich in einen Cocktailsessel neben der Bar. Aus unsichtbaren Lautsprechern tönt heiser ein wohl temperiertes Saxophon, die perfekte Barmusik.

Als ich damenhaft die Beine übereinander schlage, entdecke ich einige sehr undamenhafte Löcher in meiner Leggings. Der schwarze Stoff ist weg und nur das dünne Grundgewebe ist noch übrig. Die Stellen sind etwa handtellergroß.

Dann hat der Warnhinweis auf dem Anti-Brumm-Forte also doch seinen Sinn: "Darf nicht mit Textilien in Berührung kommen." Ich hatte es großzügig auf die Leggings gesprüht, weil die Mücken sonst durch den Stoff stechen. Ein Teufelszeug, aber der beste Mückenschutz von allen.

Am Boden des Biers bestelle ich ein Glas Chardonnay. So kann ich länger hier sitzen, die noble Atmosphäre genießen und in mein Reisetagebuch schreiben.

Plötzlich geht die Tür auf und ein breitschultriger Typ kommt herein. Schwarzer Anzug, kantiges Gesicht, Schädel rasiert, vermutlich Ex-Militär. Er sieht sich prüfend um und erst jetzt treten zwei elegant gekleidete Herren ein. Teure Anzüge, lederne Aktenkoffer, sehr junge Frauen auf grotesk hohen Schuhen.

Saka Manor Bar

Wie von Geisterhand ist weiteres Personal aus der Versenkung gekommen. Der älteste Kellner geleitet die kleine Gesellschaft in das Nebengewölbe an den eingedeckten runden Tisch. Die Nervosität der Angestellten ist nicht zu übersehen.

"Your granddaughters look very nice in their short dresses", könnte ich launig sagen und dabei Ivan dem Großen auf die Schulter klopfen, um die Stimmung ein wenig auflockern, denn sowas kann ich, aber inzwischen werden die ersten Flaschen entkorkt und ich denke, die amüsieren sich auch so genug.

Ich bezahle die Barrechnung, 2,50 € fürs Bier und 4 € für den Chardonnay, packe meine Sachen zusammen und gehe. Auf dem Parkplatz vorm Restaurant stehen zwei schwarze SUV. Wieder sind es Range Rover. Manchmal frage ich mich, wer eigentlich wen beeinflusst: Gucken sich diese Ostblocktypen ihre Outfits und das Verhalten aus Filmen ab, oder hat Hollywood tatsächlich im Milieu recherchiert und dabei genau hingesehen?

Pieps und ich ziehen uns zum Abendessen zurück in unser eigenes Gewölbe. Großmütig leiht sie mir ihr super scharfes Schweizer Messer, damit ich die roten Zwiebeln schneiden kann. Die eingelegten Koteletts brutzeln im heißen Olivenöl und nehmen allmählich die korrekte Farbe an, irgendwo zwischen dunkelrot, mittelbraun und hellschwarz.

Bratpfanne im Zelt vorm Gras

Im Baltikum wissen sie wirklich, wie man Fleisch einlegt. Die Koteletts sind mürbe, leicht fett und schmecken intensiv nach Knoblauch. Bis auf die Zwiebelschalen und eine verkrustete Pfanne bleibt nichts übrig.

Direkt an der Klippe steht ein ehemaliger Wachturm der Sowjets, der Seatower. Bis 1992 stand dort ein mächtiger Leuchtprojektor, dessen Licht angeblich 10 km weit aufs Meer leuchtete, um bei Nacht Boote aufzuspüren, die nicht gesehen werden wollten. Heute sind darin Seminarräume untergebracht und oben gibt es eine Aussichtsplattform.

Von dort oben möchte ich heute um Mitternacht ein Foto der berühmten Weißen Nächte machen. Als Pieps und ich schlafen gehen, stelle ich den Wecker auf 23:50 Uhr.

Saka Manor Camping

Als das Handy in der Nacht zu piepen beginnt, bin ich für einen Moment verwirrt und weiß nicht, was das soll, bis ich aus dem Schlafsack steige und in die Ballerinas schlüpfe.

Ich wandere über die dunkle Wiese hinüber zum Turm und steige die außen liegende Wendeltreppe hinauf. Es sind 64 Stufen bis auf die Plattform, die mit ihren hölzernen Planken und der Reling an ein Schiffsdeck erinnert.

Sommerwende Mitternacht Blick aufs Meer

Der Himmel über dem Meer ist nicht weiß, aber sehr hell und in ein romantisches Orangerot getaucht. Schon um 03:45 Uhr wird die Sonne aufgehen.

Vorsichtig steige ich die Gitterstufen hinunter und verkrieche mich wieder in meinen Schlafsack. Ich bin so aufgekratzt von der kleinen Klettertour, dass ich nicht gleich einschlafen kann, doch nach einigen Minuten ... bzzZzzz brrrRrr...

zum nächsten Tag...

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Erst hinterher habe ich erfahren, dass Saka Manor als eines der besten Restaurants Estlands gilt. Nun, wenigstens hab ich ein Glas Chardonnay dort getrunken...

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Svenja Svendura EndurowandernMade by Svenja Svendura on Apple iMac with Panic Coda and Photoshop Elements.