Am Kurischen Haff
Mit dem Tablett in der Hand stehe ich in der Schlange vorm Frühstücksbuffet. Es duftet nach gebratenem Speck und Kaffee. Um mich herum Geschirrklappern und fröhliches Geplapper: "Kiek mol Frauke, wat dat heer toon Fröstück giv."
Tatsächlich gibt es Einiges auf dem Buffet, das man nicht gleich erkennt und so hänge ich mich dankbar an die sympathische Gruppe an. Die Landfrauen stehen für das, was ich an deutscher Küche mag, für herzhafte Gerichte, Braten, Aufläufe, Eintöpfe und überhaupt für das Sattwerden als solches. Kein pflegeleichtes Publikum am Buffet.
Die Schalen gelber Krümel, die man für Rührei halten könnte, werden von ihnen als süßer Haferquark enttarnt und die tief dunklen Würstchen sind nicht verbrannte Nürnberger, wie ich dachte, sondern herzhaft gebratene Debreziner Würstchen.
Am schwierigsten erweist sich die Unterscheidung zwischen süß und herzhaft. Den fremdartigen Teigtaschen in verschiedenen Formen, Farben und Größen sieht man nicht an, ob Marmelade drin ist oder Hackfleisch.
Ich habe noch keinen rechten Hunger und möchte zuerst in Ruhe Kaffee trinken. So nehme ich nur vier Spiegeleier und ein paar Debreziner dazu. Pieps ist ganz begeistert von "die schwaaz'n Wöstschen" und bedient sich großzügig.
Nach dem Frühstück vertrete ich mir die Beine an Deck. Es gibt nur begrenzte Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben, aber dennoch liebe ich es, auf Fährschiffen zu reisen. Das Motorrad sicher unter Deck vertäut, schippern wir fernen Zielen entgegen, essen, schlafen, lesen und starren auf den Horizont.
Die Trucker nehmen an den gebuchten Mahlzeiten nicht teil. Ich vermute, sie bringen sich Proviant mit an Bord und bleiben meistens für sich. Anders als wir Touristen, sind sie nicht auf Vergnügungsreise. Mit stoischer Ruhe warten sie auf die Ankunft.
In der Lobby hängt ein Monitor, der fortlaufend unsere Position auf der Karte zeigt. Kiel und Klaipeda sind durch Flaggen markiert, ein roter Marker symbolisiert das Schiff. Wir haben erst zwei Drittel geschafft. Frühestens um 16.30 Uhr werde ich von Bord kommen.
Bis 1920 war Klaipeda die nördlichste Stadt Deutschlands. Ihr Name war Memel. So fremd kann es dort also gar nicht sein, denn offenbar haben wir gemeinsame Wurzeln. Meine Neugier auf das unbekannte Land steigt mit jeder Seemeile.
Es ist Mittag und die Tische im Bordrestaurant Mare Balticum sind mit weißer Tischwäsche, zum Tafelspitz gefalteten Servietten und drei Sorten Besteck edel eingedeckt. Als ich auf dem roten Sofa am Fenster Platz nehme und mir ein Kellner die Speisekarte reicht, fühle ich mich wie Gräfin Mariza persönlich.
Tatsächlich bin ich der einzige Gast im Mare Balticum. Die Passagiere, die mit dem Tablett in der Hand am Buffet Schlange stehen, werfen mir neugierige Blicke zu.
"Pah!", denke ich, "Ihr werdet vielleicht satt, aber dafür sitz ich hier in nobel." Insgeheim jedoch frage ich mich, ob ich nicht auch besser ans Buffet gegangen wäre.
Der Nachmittag wird allmählich lang. Ich will endlich von Bord, Motorradfahren, entdecken und neue Abenteuer erleben. Stattdessen gehe ich in meine Kabine und lege mich auf die Koje. Ich werde noch etwas schlafen, bevor wir anlegen.
Kaum bin ich eingeschlafen, weckt mich eine Durchsage aus dem Lautsprecher: "Liebe Gäste. Aufgrund der kurzen Hafenliegezeit in Klaipeda werden wir bereits jetzt damit beginnen, die Betten abzuziehen. Vielen Dank für ihr Verständnis."
Aus dem Fenster am Bug kann ich schon die Hafeneinfahrt von Klaipeda sehen. Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis die Car Decks aufgeschlossen werden und ich gehe hinunter zu C3. Das Schott öffnet sich unter vernehmlichem Zischen und als ich zu meiner Maschine komme, sind die Spanngurte bereits verschwunden.
Ebenso wie alle anderen, fahre ich ohne anzuhalten, erhobenen Hauptes am Zoll vorbei, ohne die Beamten eines Blickes zu würdigen. Eine Ausweiskontrolle gibt es nicht mehr, aber an einer Zählstelle wird jedes Kennzeichen säuberlich von der Passagierliste gestrichen.
An der vierspurigen Einfallstraße in die Stadt gibt es einen Maxima XXX Supermarkt. Ich biege auf den Parkplatz ab und parke das Motorrad am Eingang neben den Fahrradstand.
Was mache ich mit meinem Helm und der teuren Fotoausrüstung während ich einkaufen bin? Immerhin bin ich in Litauen, aber mitnehmen will ich sie auf keinen Fall. Das fange ich erst gar nicht an.
Ich stopfe die Handschuhe in den Helm, ziehe den Kinnriemen um die Querstrebe des Endurolenkers und raste den Verschluss ein. Zumindest kann so niemand den Helm im Vorbeigehen einfach wegnehmen, denn es ist etwas fummelig, den Verschluss aus dieser Position zu öffnen. Kamera und Objektive lasse ich im Tankrucksack und gehe in den Laden.
Ich schnappe mir einen Korb und sehe mich neugierig um. Breite Gänge mit einem unendlich erscheinenden Warenangebot, dazwischen Gondeln mit Aktionsware. Bereits die Weinabteilung steht der im Kieler CITTI-Markt nicht nach.
Etwas weiter Fische, Muscheln und Meeresfrüchte dekorativ präsentiert auf einem Bett aus Trockeneis. Gleich daneben große Aquarien voll lebender Fische. Ich bin fasziniert.
Eine junge Frau, bildhübsch, lange schwarze Haare und sicher so groß wie ich, schaufelt frische Muscheln in eine Schale. Ich zeige meine Kamera und frage, ob ich ein Foto machen darf. "No!", zischt sie mich an und wirft mir einen funkelnden Blick zu.
Dann habe ich am Eingang das Schild mit der Kamera im roten Kreis doch richtig gedeutet: Fotografierverbot. Damit bin ich in Frankreich einmal böse angeeckt, weil ich mich sonst überall ‐ außer vielleicht in Nord-Korea ‐ darüber hinwegsetze. Besser um Entschuldigung bitten, als um Erlaubnis.
Gleich daneben ein Stand für Wild und Geflügel. Wunderbar angerichtet liegt dort feinstes Wildbret und andere erlesene Spezialitäten. Ich könnte heute Abend Wild zubereiten, aber zuerst möchte ich mir das restliche Angebot ansehen.
Die gesamte hintere Wand nimmt ein Bedientresen ein, dahinter eine kleine Armada von Verkäuferinnen. Personal gibt es hier in Hülle und Fülle. Nicht wie bei uns, wo man in den Gängen mancher Läden einsam verbluten könnte, bevor jemand aufmerksam wird.
Es gibt überwiegend Schweinefleisch und wie auf dem Kieler Wochenmarkt, ist hier die Schwarte noch am Kotelett. Ein Zeichen für guten Geschmack.
Hinter dem Glas der heißen Theke liegen appetitlich zubereitete Fleischgerichte. Ich betrachte jedes einzelne und versuche zu ergründen, was es ist. Grillhaxen, Hähnchenflügel, Schaschlik, Kotelett und Bratwurst erkenne ich, aber was ist das?
Als die Verkäuferin sich wegdreht, um einen Becher zu nehmen, schieße ich rasch ein Foto. Bevor jemand etwas bemerkt, ist die Kamera wieder in meiner Tasche verschwunden.
Drei Schalen weiter heiße, knusprig gebackene Schweinebraten mit Kruste. So einen will ich. Einen davon lasse ich mir in einen Thermobeutel packen und ziehe glücklich weiter. Am Käsestand hole ich zum Nachtisch ein wenig Tete-de-Moine.
Während ich den Einkauf im Tankrucksack verstaue, wird mir das ungewohnte Zirpen der Autos bewusst: PiepPiep Türen verriegelt, Alarmanlage scharf, Piep, wieder entriegelt.
Auf einem Parkplatz dieser Größe ist das Geräusch im Sekundentakt zu hören. Bei uns sind solche Anlagen mit Signalbestätigung verboten. Jetzt verstehe ich, weshalb.
Ich komme mir blöd vor, weil ich mir vorhin solche Gedanken um mein Eigentum gemacht habe: Das Gefühl hier auf dem Parkplatz ist nicht anders, als in Kiel, Österreich, oder Schweden.
Mit einem satten Klicken rastet das GPS-Gerät in der RAM-Halterung ein. Ich starte den Motor und folge dem Track im Display. Der Zeltplatz liegt bloß eine Stunde von hier am Ufer des Kurischen Haffs.
Eine mehrspurige Ausfallstraße führt mit erlaubten 70 km/h aus der Stadt hinaus, doch selbst bei 90 werde ich noch von dicken Limousinen überholt. Allein die schweren LKW bleiben hinter mir und auf der perfekten grünen Welle reiten wir aus Klaipeda hinaus.
Am Stadtrand geht es an schier endlosen Plattenbauten vorbei, aber nicht an den sauberen Hochhäusern mit bunten Eingängen, die ich aus Kiel kenne, sondern an Bauten, deren Trostlosigkeit an Französische Banlieues erinnern.
Hinter Klaipeda fahre ich ein Stück auf der dicht befahrenen A1, einer Schnellstraße, die über Kaunas und Vilnius nach Weißrussland führt. Auf ihr brettern die Schwerlaster weiter nach Osten, während andere nach Norden in Richtung Liepaja fahren.
Zum Einchecken wird mein Passport verlangt. Ich zeige den Personalausweis und bezahle 12 € für die Nacht. Das ist ok, ein durch und durch westlicher Preis und im Grunde nicht teuer, doch für hiesige Verhältnisse ein Betrag der Premiumklasse, denn litauische Gehälter betragen nur knapp ein Drittel unserer Einkommen.
Als das Check-in erledigt ist, gibt die Frau mir eine Führung über den Platz. Viele Parzellen sind mit Wohnmobilen und Wohnwagen belegt, nur ein einzelnes Zelt steht auf der Wiese vorm Haus. Ein Radwanderer aus Holland.
Die Blonde ist erstaunt, dass ich allein unterwegs bin und möchte wissen, wie es ist, als Frau allein zu reisen. Wir unterhalten uns eine Weile und ich erzähle, dass ich nie schlechte Erfahrungen gemacht habe. Dennoch würde ich gerne für mich allein stehen und nicht zwischen den Wohnmobilen.
Sie führt mich hinüber in ein Wäldchen am Rande des Campingplatzes, wo verlassen auf einer Anhöhe drei kleine Hütten stehen. Kein Mensch ist zu sehen.
"There!", sagt die Blonde und zeigt hinunter auf die Wiese am Ufer.
"There? And I can take my bike?", frage ich ungläubig, weil es offensichtlich die Liegewiese der Badestelle ist.
"Yes."
Kurz darauf stehe ich mit der Enduro zwischen den Bäumen oberhalb der Badestelle. Ohne Gas zu geben rolle ich hinunter ans Ufer, um mit den groben Stollenreifen nicht das Gras aufzureißen.
Es sind soviele Mücken in der Luft, dass ich fast Angst habe, sie einzuatmen. So heftig habe ich das erst einmal beim Wildcampen in Schweden erlebt. Großzügig sprühe ich Anti Brumm Forte auf die Haut und reibe mir das böse, hochwirksame Zeug sogar ins Gesicht.
Ich setze mich an einen Tisch und warte, bis die Kellnerin kommt, eine junge Frau aus der Umgebung, die sogar ein paar Brocken Englisch spricht. Beinahe schüchtern legt sie die Speisekarte vor mich hin. Man sieht, wie es sie freut, ihre Sprachkenntnisse anbringen zu können, als ich meine Bestellung aufgebe: "A glas of white wine, please"
Es gibt einen Pino Grigio, der kühl und lecker ist. Mehr aus Neugier studiere ich die Speisekarte und erneut fallen mir die westlichen Preise auf. Es ist nicht zu teuer, aber dies ist Litauen und nicht Deutschland. Für einheimische Gäste sind die Preise grotesk und ich bin schon jetzt gespannt, wie das weiter im Land in den Dörfern und Kleinstädten sein wird.
Nach dem dritten Glas Pino bestelle ich doch etwas zu essen. Die Speisekarte listet sämtliche Gerichte in mehreren Sprachen auf und ich entscheide mich für Gegrilltes Schweinefilet in Pilzrahm mit Zucchini und Wedges.
Was hatte ich denn erwartet? Wodka und Kasatschok?
zum nächsten Tag...
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Was habe ich heute über Litauen gelernt? Dass es viele, viele Störche gibt und die Menschen von zurückhaltender, fast schüchterner Freundlichkeit sind.