Jokertag in Gien
Die Turmuhr in Gien schlägt weithin hörbar die Stunde, so laut, dass ich davon wach werde. Ich habe den Anfang verpasst und bekomme nur die letzten fünf Schläge mit. Einen Moment Stille und dann schlägt die Glocke erneut. Laut und klar trägt der Schall über den Fluss: Einmal, zweimal, dreimal... 12 Schläge, Mitternacht.
Die Stunde wird zweimal geschlagen? Vielleicht ist das Schlagwerk kaputt. Während ich noch sinniere, schlafe ich schon wieder ein.Es ist ein trüber Morgen und ich liege noch eine Weile im Bett und hänge meinen Gedanken nach. Es dauert immer ein paar Tage, bis ich Kiel und die Arbeit hinter mir gelassen habe und endlich nur noch Svendura sein kann, doch ich spüre, dass ich allmählich in meinem Urlaub angekommen bin.
Heute nehme ich meinen ersten Jokertag. Drei davon habe ich für die gesamte Reise eingeplant als Puffer- Wasch und Jokertage, die ich nehmen kann, wie ich mag. Heute ist ein Feiertag und ich werde in die Stadt gehen und mich umsehen.
Im Reiseführer stand darüber:
8. Mai, Tag des Sieges – Fête de la Victoire
Nationaler Feiertag in ganz Frankreich.
Mit Gottesdiensten und Paraden wird im ganzen Land des Sieges über Nazideutschland gedacht. Da es ein sehr patriotischer Feiertag ist, werden Sie an diesem Tag überall gehisste Flaggen sehen und Lieder über Frankreich hören.
Nun, das werde ich mir ansehen. Die Wiese ist feucht vom Tau, als ich im Nachthemd zum Waschhaus gehe. Eine ältere Dame steht vor einem der Waschbecken und putzt ihre Zähne. "Bonjour," sage ich freundlich, aber sie kann nicht antworten, weil sie den Mund voller Schaum hat.
Es ist ein seltsames Gefühl, mit fremden Menschen in einem Waschraum zu stehen. Man ignoriert sich, so gut es geht und nimmt in Wahrheit doch jede Bewegung der Anderen wahr. Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen und bin immer froh, wenn ich hier fertig bin.
Heute brauche ich die Motorradsachen nicht, ich werde zu Fuß in die Stadt gehen. Ich ziehe den schwarzen Cargorock an, ein pinkes Shirt, Leggings und Ballerinas. Allein die dünne Windjacke stört den Look, aber es sieht nach Regen aus und es sind nur 8° C heute morgen.
Der Fluss stinkt ein bisschen, ohne dass ich genau sagen kann wonach. Abwasser, Algen, Fisch? Vermutlich eine Mischung von allem. Die Loire führt Hochwasser und wälzt sich schmutzig braun dem Atlantik entgegen. So breit der Fluss auch ist, schiffbar ist er hier oben nicht, allenfalls kleine Boote fahren darauf.
Ich bin noch keine 20 Minuten unterwegs, als am anderen Ufer mein Zelt wieder in Sicht kommt. Camping de Gien ist wirklich genial gelegen für einen Ausflug in den Ort.
Die Bistros und Restaurants an der Uferstraße sind noch geschlossen, dabei würde ich so gerne ein petit dejeuner, ein Frühstück nehmen. Ich werde weitergehen und es in dem großen Supermarkt versuchen, den ich von meinem Zelt aus sehen konnte, denn obwohl ein Feiertag ist, standen dort viele Autos. Vielleicht ist er geöffnet.
Der Platz ist leer bis auf einen Polizeiwagen, in dem gelangweilt ein junger Beamter der Police Municipale in Gardeuniform sitzt. Er trägt weiße Handschuhen und eine weiße Mütze mit einem glänzenden, schwarzen Lackschirm.
Der stattliche Anblick wird allein durch das Auto ein wenig getrübt, ein Renault Kangoo in Behördenausführung. In Schleswig-Holstein könnte er Mercedes fahren und sogar die Flaggen ähneln sich, nur dass SH die Streifen quer und nicht hochkant trägt.
Der Platz ist mit Parkverbotsschildern abgesperrt und auf dem Asphalt sind frische Markierungen aufgebracht. Offensichtlich soll hier nachher etwas stattfinden und der Flic hat den Auftrag, dafür zu sorgen, dass sich kein Unbefugter dort aufstellt.
Im Eingangsbereich haben sich viele kleine Geschäfte angesiedelt, der übliche Mix aus Schuhgeschäft, Schmuckladen, Reinigung und ein Imbiss. Neugierig sehe ich in den Imbiss hinein, vielleicht kann ich da frühstücken. Ein schmaler Raum mit einem langen Tresen an der einen und fremdartigen Spielautomaten auf der anderen Seite.
Der Laden ist voller junger Männern mit schwarzen Bärten und seltsamen Strickmützen. Nicht eine einzige Frau ist zu sehen. Dichtes Stimmengewirr schallt heraus und dazwischen das Geräusch der Spielautomaten. Ich bleibe einen Moment zu lange in der Tür stehen, denn als die Typen mich entdecken, bricht sogleich lautes Maschallah, Maschalla los.
Die reagieren auf mich. Entweder bin ich hier ganz besonders, oder aber überhaupt nicht willkommen. Jedenfalls sehe ich zu, dass ich verschwinde. Hier ist nicht der Ort, an dem ich frühstücken werde.
Ich flüchte durch das Drehkreuz in den Supermarkt, greife mir einen Korb und schlendere achtlos durch die Non-Food Abteilung zu den Lebensmitteln.
Am Fischstand gibt es Muscheln, Krabben, Meeresschnecken, Langustinen, Krebse und Seespinnen. Das Angebot ist faszinierend. Ich ziehe die kleine orange Lumix aus der Tasche und knipse ein Foto.
Im selben Moment, als ich abdrücke, merke ich, dass es Ärger gibt. Der Fischhändler hat mich entdeckt und er ist nicht in Partylaune. Wütend wie Verleihnix, wenn jemand die Frische seiner Ware anzweifelt, stapft er auf mich zu und bringt zur Verstärkung einen jungen Typen in blauer Schürze mit.
Verleihnix redet energisch auf mich ein, aber außer "No, no, no, Madame" verstehe ich kein Wort. Ich bin nicht sonderlich beeindruckt. Wie ernst kann man einen Typen nehmen, der eine Schürze trägt?
Blödmänner, denke ich und lasse die beiden Schürzentypen einfach stehen, aber die kleine Episode hat ausgereicht, um meinen Appetig auf Fisch zu wecken, doch den kauf ich sicher nicht bei Verleihnix. In der Kühlung entdecke ich zwei sehr appetitlich aussehende Seehecht-Filets. Die werde ich mir später zum Mittag braten.
Die Auswahl an Spezialitäten stimmt mich fast ein wenig melancholisch: Soviele unglaublich leckere und abwechslungsreiche Schweinereien, die es bei uns alle nicht gibt. Hier scheint beim Essen niemand auf den Preis zu sehen, dafür ist der Parktplatz voller Kleinwagen, während vor ALDI in Kiel Audi, BMW und SUV stehen.
Als ich aus dem Laden komme, hat der Regen aufgehört, aber das Frühstücksproblem ist weiter ungeklärt. Durch die Leckereien im Supermarkt habe ich erst recht Hunger bekommen.
Gerade hat sich der Fahnenumzug mit Marschkapelle in Bewegung gesetzt und Offiziere verschiedener Nationen schlendern hinterher. Einige Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg sind dabei, die heute ihren Ehrentag feiern, den Tag des Sieges über uns.
Welch ein ambivalentes Gefühl: Ich weiß, dass es ein Segen ist, dass die Nazis besiegt wurden, denn sonst wäre es eine schreckliche Welt, aber darüber, dass mein Land und meine Leute besiegt wurden, kann ich mich nicht freuen. Andererseits ist beides untrennbar miteinander verbunden.
Der Widerspruch ist verwirrend und es gelingt mir nicht, diesen Gedanken befriedigend zu Ende zu denken. Für die Franzosen freue ich mich, darüber dass sie gewonnen haben und sich befreien konnten, aber es ist deren Siegesfeier, nicht meine.
Ich fühle mich fehl am Platz und gehe in Gedanken versunken langsam weiter. In der Avenue Maréchal Leclerc finde ich ein Bistro, das geöffnet hat.
Der Backofen im Hintergrund der Verkaufsstube piept und eine Frau in roter Schürze zieht ein Tablett heißer Croissants heraus. Die Spezialität des Ladens aber sind die überbackenen Sandwiches. Ich kann die Schilder nicht lesen und lasse meine Augen das leckerste aussuchen. Dazu bestelle ich Kaffee und eines der frischen Croissants, die eben aus dem Ofen gekommen sind.
Als ich den Kaffee ausgetrunken habe, hole ich mir einen Becher heißen Kakao zu meinem Croissant und schreibe nebenher Postkarten.
Ich sitze viel länger im Bistro, als es nötig wäre, aber ich habe einen Jokertag und kann es mir leisten, die Zeit zu vertrödeln. Von der Avenue Maréchal Leclerc steige ich die Escalier des Degrés empor, eine lange Reihe von Treppen, die hinauf zum Schloss Gien führt.
Dieses intensive Gefühl von Zuhause im Zelt, verblüfft mich immer wieder aufs Neue, dabei wohne ich noch keine 24 Stunden hier, aber es ist eben stets MEINE kleine Wohnung: Der Tankrucksack, der je nach Anlass als Nachttisch, Kommode oder Esstisch dient, meine Sachen, die immer am selben Platz liegen und natürlich mein vertrautes Bett.
Zelten ist klasse! Es passt zu mir und rechnerisch verbringe ich jeden 10. Tag eines Jahres in meiner Ferienwohnung, die schon unglaubliches Wetter überstanden hat und dabei doch bloß 150 € gekostet hat.
Ich gehe zur Rezeption, logge mich mit dem Kindle in das WiFi Netz des Campingplatzes ein und rufe das Ende der Leseprobe auf. Ich klicke auf den schwarzen Button "Jetzt kaufen" und habe 10 Sekunden später den kompletten Roman auf dem Gerät. Der kleine Kindle Reader war eine meiner besten Anschaffungen.
Ich lege die Isomatte nach draußen und mache es mir darauf zum Lesen bequem. Der Roman fängt schon total spannend an, ein Radfahrer wird von einem ausgebrochenen Kampfstier in der Camargue getötet. Mord oder Unfall?
Einen Stierkampf würde ich zu gerne einmal besuchen. Bisher wusste ich nicht, dass es sie auch in Südfrankreich gibt und dabei kommt der Stier nicht zu Tode. Trotzdem weiß ich, dass ich nicht darüber schreiben dürfte, weil es einen Shitstorm auslösen würde. Das ist eine der Aktionen, die ich heimlich machen muss, wie damals in... Nun, heimlich eben.
Ich muss wohl eingeschlafen sein, jedenfalls liegt das Kindle neben mir im Gras und der Himmel hat sich wieder bezogen. Ich trage die Matte zurück ins Zelt und mache das Bett wieder neu. Allmählich wird es Zeit für das erste Abendessen.
Den Kocher stelle ich in das Gras der Apsis und nehme den Tankrucksack als Esstisch zwischen die Knie. Ich schneide eine rote Zwiebel auf und lege die Ringe mit dem Seehecht ins heiße Fett. Beim Wenden muss ich aufpassen, dass er nicht zerfällt, so zart ist sein Fleisch.
Das ist ein perfekter Tag, denke ich, während ich aus dem Zelt auf die Loire glotze und einen Schluck Bordeaux trinke. Wirklich ein perfekter Tag.
zum nächsten Tag...
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