Lörrach
Das war eine kalte Nacht. Ein Blick aufs Thermometer zeigt 5°C. Es war eine geniale Idee, dieses dünne Thermoinlet zu kaufen, auch wenn es schweineteuer war. Sonst hätte ich in dem leichten Sommerschlafsack gefroren, aber so sollte ich bis an den Gefrierpunkt gut schlafen können. Gotland war mir eine Lehre.
Auf dem Rückweg vom Waschhaus piept mein Handy. Eine SMS, der Bahnstreik ist beendet. Meine Laune geht sofort drei Klicks nach oben. Ich mochte die Bahn schon immer. Auf die ist Verlass und der Weselsky mit seinem Bärtchen sieht doch eigentlich ganz süß aus, denke ich, während ich mein Zelt abbaue.Ich bin noch nie mit dem Autozug gefahren, aber ich stell mir das total cool vor. Wie oft schon hat mir ein langer, eintöniger Heimweg die schöne Urlaubsreise verwässert, aber nicht heute: Ich werde in aller Ruhe nach Lörrach fahren und über Nacht bequem nach Hause schlafen. Svenja schläft, Lokführer wacht.
"Un grand café, un croissant et un pain au chocolat s'il vous plaît", gebe ich unsicher meine Bestellung auf. Ich hasse das Gefühl, in einer Sprache zu sprechen, die ich überhaupt nicht kann. Wie ein Papagei sage ich lediglich auswendig gelernte Lautfolgen auf. Doch dieser Papagei kann immerhin ein Frühstück bestellen und könnte sogar behaupten, sein Motorrad habe einen Platten: "Ma moto a une crevaison."
Noch 100 km bis Lörrach, Bett und Bahn. Je näher ich der deutschen Grenze komme, desto vertrauter klingen die Namen. Auf den Schildern steht Feldbach, Riespach und Rue de Muespach in einem erstaunlichen Mix aus Deutsch und Französisch.
Die Häuser verlieren diesen typisch französischen Charme, der aus ihrer scheinbaren Vernachlässigung rührt. Dieser gewollte Eindruck von Verfall gibt den alten Gebäuden etwas Würdevolles. Selbst der Lack blättert in Frankreich stilvoll von den pastellfarbenen Fensterläden. Stattdessen stehen in Riespach, etwa 50 km vor der Grenze, Fachwerkhäuser, wie man sie auch in der Pfalz finden könnte.
Selbst die Autos werden fetter, SUV-iger und AUDI-ger. Deutschland macht etwas mit den Menschen. Ist es unser Widerwille, in einem billigen und damit zugleich bedeutungslosen Fahrzeug gesehen zu werden? Oder ist es schlicht unser Reichtum? Nein, das glaube ich nicht. Die Franzosen sind nicht ärmer als wir und auch in anderen Ländern ist mir dieser Protz nicht aufgefallen. Nur in der Schweiz, aber das kann ich jetzt noch nicht wissen, weil ich erst im September dorthin aufbrechen werde.
Ganz plötzlich bin ich zurück in Deuschland. Genau 3.710 km nachdem ich in Kiel losgefahren bin, überquere ich den Rhein und damit die Grenze nach Hause. Am Stadtrand von Lörrach steuere ich eine Tankstelle an.
Über allem prangt ein druckfrischer Zettel:
Der Autozug 1498 nach Hamburg entfällt bis auf weiteres. Grund: Streik der GdL.
Der erste, völlig unsinnige Gedanke, der mir in den Sinn kommt ist: Weiteres schreibt man groß. Der Zweite: Shice!
Ich starte den Motor und fahre hinüber zum Bahnhof, der nur 500 m die Straße runter liegt. Was ist es nur, dass Städte um ihren Bahnhof herum so hässlich, bedrückend und mitunter regelrecht gefährlich aussehen lässt? Haben Junkies, Nutten und Nachtjacken eine natürliche Affinität zu Eisenbahnbetriebsanlagen? Ich kenne die Antwort nicht.
Jaruzelski, ich krieg dich, denke ich düster, während ich mich Schritt für Schritt nach vorne warte. Der junge Mann hinterm Tresen macht es mir unmöglich, ihn wegen des ausgefallenen Zuges anzublaffen. Er ist von einer so entwaffnenden Freundlichkeit, das ich beinahe wieder versöhnt bin mit der Deutschen Bahn.
Leider kann auch er nicht herausfinden, ob der Autozug morgen wieder fährt. Das Anfahren eines so komplexen Systems wie der Bahn ist nach einem Streik offenbar nicht so einfach. Bei meiner Fleischmann H0 habe ich nur den großen Knopf auf dem Trafo nach rechts gedreht und alles lief wieder. Bei der echten Bahn ist das komplizierter.
Der Mann vom Service Team gibt mir den Tipp, heute Abend noch einmal zum Terminal zu fahren und jemanden vom Verladepersonal zu fragen. Wenn überhaupt jemand weiß, wann der Autozug wieder fährt, dann die Männer, die den 1498er beladen müssen.
Kurz darauf stehe ich wieder vor dem Check-In. Alles ist unverändert: Container rostet, Gras sprießt, Platz ist verlassen. Ich lasse die Enduro stehen und gehe auf Entdeckungsreise. Verlassene Bahngelände haben ihren eigenen morbiden Charme.
Statt hübscher, junger Menschen, die in schmucken Uniformen von Plakaten lächeln und für die modernste Form des Reisens werben, sehe ich einen verlassenen Güterbahnhof in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Auf einem Abstellgleis stehen zwei rote Autozug Waggons. Sie machen nicht den Eindruck, als würden sie in nächster Zeit irgendwo hinfahren. Oder überhaupt jemals wieder fahren.
Wagen darf nicht in Züge eingestellt werden, steht an der Bordwand.
Sie erinnern mich an Waggons, die ich an der Verladestatiohn der Rjukanbanen in Norwegen gesehen habe. Die werden auch nie wieder irgendwo hinfahren und die Gleise dort waren ebenso dicht von Gras bewachsen.
Ein Typ in der neongelben Sicherheitskleidung der Bahnarbeiter fährt auf einem Kymco Roller auf mich zu und hält direkt neben mir.
"Warten Sie auf den Autozug?"
"Ja, heute Abend nach Hamburg."
"Der fährt nicht. Wir wären ja gefahren, aber die haben uns keinen Zug hingestellt. Der fährt erst heute abend aus Hamburg los und ist morgen hier. Morgen Abend fahren wir wieder."
"Oh, danke schön."
Auch dieser Bahnmitarbeiter war wieder so ausnehmend freundlich und höflich. Eine tolle Truppe. Wenn nur die Bahn nicht wäre.
Dann werde ich jetzt mein Ticket auf morgen umbuchen. Hoffentlich sind noch Plätze frei.
Ich erwische denselben freundlichen Schalterbeamten, der mir erklärt, ich müsse ein neues Ticket kaufen. Das alte wird mir wegen des Streiks erstattet, aber nicht hier am Schalter, sondern später. Zuerst muss ich einen Brief an Fahrgastrechte schreiben und das abgestempelte Ticket einschicken.
"Na gut, dann möchte ich noch einmal genau dasselbe für morgen abend buchen. Meine Daten können Sie vom Ticket abschreiben. Ich hatte für 99 € einen Platz im Liegewagen mit 5er Belegung."
Zwei Minuten später kommt mein neues Ticket aus dem Drucker: "Das macht 279 €."
Mit ausdrucksloser Miene stecke ich die EC-Karte in das Lesegerät und tippe meine Geheimzahl ein. Jede Diskussion über Fahrpreise und die Höhe der zu erwartenden Erstattung verkneife ich mir. Es wäre sinnlos.
Mein GPS-Gerät zeigt ganz in der Nähe einen Campingplatz an. Dort werde ich mein Zelt aufschlagen und morgen direkt zum Autozug fahren. Minuten später parke ich das Motorrad vor einem modernen Rezeptionsgebäude.
Eine stylische junge Frau schiebt mir ein Formular über den Tresen, ein Durchschreibesatz mit unzähligen Feldern und Kästchen. Zweck des Aufenthalts. Wirklich? Etwa so stelle ich mir den Antrag auf ein Visum für Nordkorea vor, nur dass ich hier mit dem Personalausweis reinkomme. Immerhin.
Nachdem ich 14 € bezahlt habe, öffnet sich die Schranke und ich darf einreisen. Ein weitläufiger Platz mit Straßen, Wegen und großzügig angelegten Parzellen. Kein Prunkstück moderner Landschaftsgärtnerei, aber durchaus in Ordnung, Typ Dauercamper's Delight.
Als Zeltcamper ist man fast automatisch Gast zweiter Klasse und wird auf die Zeltwiese im hinteren Teil verbannt. Die von Hecken umsäumten Parzellen sind für "echte" Camper reserviert.
Am Rand der Wiese stehen heruntergekommene Zelte, die in verschiedenen Stadien ins Grundwasser sickern. Nebenan vier junge Typen mit Brikettfrisuren und 4-Streifen ALDIdas Anzügen vor einem Wohnwagen. Sie beledern sich nach allen Regeln der Kunst, während ein Ghettoblaster in voller Lautstärke Bushido über den Platz bläst.
Pieps und ich verziehen uns ins Zelt zu Schinken, Käse und Wein. Wenigstens gut essen wollen wir. Die leckeren Sachen, die ich in Frankreich gekauft habe, will ich morgen für den Autozug lassen. Sicher können wir dort ein prima Abteil-Picknick machen.
Ich sitze im Schneidersitz auf der Isomatte und trinke Rotwein von LIDL. Nicht stilvoll, aber er schmeckt. Plötzlich höre ich Fahrzeuge, die ganz in der Nähe halten. Neugierig stecke ich den Kopf aus dem Zelt. Auf der Zeltwiese stehen fünf Gespanne mit laufenden Motoren. Alles Doppelachser, Zugfahrzeuge Mercedes E, S und V-Klasse.
Zigeuner! Während ich noch überlege, wie derzeit die politisch korrekte Bezeichnung lautet, errichten die Betroffenen bereits mit routinierten Aktionen ihr Lager. Im Grunde sind wir Seelenverwandte: Wir reisen, wir machen Lager, wir ziehen weiter. Und die schwarzen Haare haben wir auch gemeinsam, nur dass ich bald wieder zum Dienst muss, reisende und andere Täter bekämpfen.
Gruseliger war keiner.
zum nächsten Tag...
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