In der Gorges de la Sioule
Die Stromschnellen haben meinen Schlaf nicht gestört. Vielleicht hat der Rotwein das Rauschen gedämpft. Es ist Montagmorgen und ein Arbeiter der Gemeinde ist dabei, die Waschräume zu feudeln.
Ich probiere gerade einen besonders dramatischen Lidstrich zu zeichnen, als er hereinkommt und mit stoischer Miene beginnt, um mich herumzufeudeln. Ich ignoriere ihn, obwohl ich es hasse, wenn mir jemand beim Schminken zusieht.Kurz darauf treffen wir uns in der Rezeption wieder. Sorgfältig schreibt er die Personalien von meinem Ausweis ab und trägt sie mit Kugelschreiber in ein Buch. Er rechnet und am Ende zahle ich 3,90 € für die Nacht auf dem Camping Municipal, dem Gemeindecampingplatz.
Christoph ist noch damit beschäftigt, sein Motorrad reisefertig zu machen, als ich mich verabschiede und losfahre. Mein erstes Ziel liegt nur 500 m entfernt, Le pont de Menat, die alte Römerbrücke über die Sioule. Auf ihr will ich den Fluss überqueren.
Alte Brücken faszinieren mich. Wie ist es möglich, dass eine Brücke wie diese 700 Jahre überdauert, während moderne Konstruktionen häufig schon nach 50 Jahren erledigt sind? Hatten die Baumeister des Mittelalters bessere Baustoffe zur Verfügung? Waren die Brücken sorgfältiger konstruiert? Hatten sie bessere Computer, bessere Software?
Auf der anderen Seite folge ich der D109. Die Straße führt durch die Gorges de la Sioule, eine Schlucht, die fast 100 km lang ist. Rechts der Fluss, während zu meiner Linken die Felsen nahezu senkrecht in den Himmel wachsen.
Irgendwo auf dieser Strecke liegt das Viaduc des Fades, ein altes Eisenbahnviadukt, das über die Schlucht führt. Ich will versuchen, mit der Enduro darüberzufahren. Neben den Schienen ist genügend Platz für ein Motorrad.
Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Burg wahr, die hoch über mir auf dem Felsen thront. Ich biege an dem Schild mit dem Hinweis CHÂTEAU ab und folge der Straße, die sich steil nach oben schraubt, bis ich auf dem Besucherparkplatz oberhalb der Burg stehe.
Es ist ein trockener, heißer Tag, als ich langsam durch die engen Gassen rolle. Mitten auf der Straße plötzlich ein gelbes Schild: ROUTE BARRÉE. Die Straße ist gesperrt. Gleich hinter dem Schild Buden und Stände, ein Wochenmarkt. Ich stelle das Motorrad ab und schlendere die Gasse hinunter an den Marktständen entlang.
In einer Seitengasse, etwas abgelegen von den großen Ständen, stehen die kleinen Händler. Hinter einem Autoanhänger, der mit viel Geschick zu einem Kühltresen umgebaut wurde, steht ein hagerer Kerl mit blondem Haar und einem Schnauzbart. Er hat etwas Uriges und als ich bei ihm stehenbleibe und den Käse in der Auslage betrachte, sieht er mich aus blauen Augen freundlich an.
Ich wähle ein Stück Ziegenkäse aus, eine Rolle, die etwas schrundig aussieht, doch ich ahne, wie lecker der Käse sein wird. Als klar wird, dass ich kaum Französisch spreche, wechselt er ins Deutsche. Er stammt aus dem Elsass.
Welches Motorrad ich fahre, möchte er wissen, als er meine Kleidung bemerkt. Eine KLX250, einen leichten Endurocrosser. Ich berichte von meiner Reise mit Zelt und Motorrad durch Frankreich und dass ich mich heute abend auf Käse und Wein freue.
An einem anderen Stand entdecke ich Körbe voller Würste, wie ich sie auch in Florenville gesehen habe. Ich wähle eine Wurst aus dem Korb mit dem Schild CANARD, weil ich mich erinnere, dass Canard Ente bedeutet. Eine Entensalami, damit ist mein Abendessen fast komplett, jetzt fehlt nur noch der Wein.
"Une entrecôte, s'il vous plaît", sage ich mit feierlicher Miene und behalte den riesigen Strang Rindfleisch dabei fest im Blick. Der Metzger nimmt das große Stück und säbelt eine dünne Scheibe herunter. Für ein Steak wirkt sie fast zu dünn, aber das täuscht, denn die Waage bleibt erst bei 628 g stehen.
"Merci beaucoup", sage ich, nehme das Fleisch und gehe weiter. Ich lege noch eine Tüte brauner Champignons und eine Salatgurke in den Korb, bevor ich in der Weinabteilung zwei kleine Flaschen Wein aussuche und mit dem Einkauf zur Kasse schlendere.
Draußen verstaue ich das Abendessen und widme mich der Salatgurke. Mit dem Messer schäle ich die grüne Schale herunter und schneide kleine, saftige Stücke ab, die ich genüsslich zerkaue. Gurken sind meine neue Art, Wasser zu trinken. Sonst nehme ich immer zu wenig Flüssigkeit zu mir. Den Tipp habe ich mir bei Eggi abgeschaut.
Ein Mann und eine Frau kommen auf mich zu und sprechen mich auf Deutsch an. Es sind Holländer, die bis vor kurzem in Eckernförde gearbeitet haben, eine Hafenstadt, die eine Förde nördlich von Kiel liegt. Man kann im Eckernförder Hafen toll Fisch essen, sogar besser als in Kiel.
Die Beiden wollen nach Frankreich ziehen und sind auf der Suche nach einem Haus. Wir unterhalten uns über ihre Eindrücke aus Deutschland und es ist interessant zu hören, wie andere Menschen unser Land beurteilen. Es überrascht mich nicht, dass sie Deutschland als effizient, humorlos und überreguliert empfinden. Mir geht es mitunter ebenso.
Wir unterhalten uns sehr nett, bis ich das letzte Stück Gurkenschale auf dem Parkplatz verteilt habe und die Beiden endlich einkaufen wollen. Die sind nett, die Holländer, aber ein wenig wie Ameisen: Überall zu finden und keiner weiß, wozu sie eigentlich gut sind.
Ich fahre weiter nach Süden und damit tiefer in die Auvergne hinein. Route des Fromages A.O.P. d'Auvergne steht auf einem Schild am Straßenrand. Es ist eines dieser braunen Schilder, wie sie auch in Deutschland für Themenstraßen verwendet werden.
Es ist kurz nach Mittag, die Sonne steht hoch am Himmel. Auf einer Anhöhe komme ich an einem Rastplatz vorbei und rolle auf das staubige Areal. Im Schatten einer Platane steht ein Lastwagen. Der Fahrer döst hinter dem Steuer. An einem Picknicktisch sitzt ein älteres Paar. Ich setze mich dazu und packe Brot und Wurst aus.
Von hier oben habe ich einen wunderbaren Blick über die Gorges de Sioule. Tief unter mir windet sich der Fluss träge durch die Schlucht.
Ich nehme das Messer vom Gürtel und schneide eine fingerdicke Scheibe Wurst ab. Mühelos gleitet die scharfe Klinge durch die harte Salami. Sie schmeckt angenehm aromatisch und leicht nach Ente. Ich habe nie eine bessere Wurst gegessen und das französische Weißbrot schmeckt wunderbar dazu. In meiner Vorstellung nickt der blonde Käsehändler mir anerkennend zu. Es ist ein gutes Brot.
Tief in Gedanken versunken fahre ich weiter auf der Route Départementale. Hinter einer Kurve überspannt eine mächtige Brücke die Schlucht. Es ist das Viaduc des Fades, das größte Stahlviadukt Frankreichs. Es ragt 133 m hoch über den Fluss.
Inzwischen ist der Zugang zur Brücke versperrt. Stahlzäune, Stacheldraht und sogar ein Kletterschutz versperren den Weg auf die Schienen, aber ich will trotzdem versuchen, einen Weg für Greeny und mich zu finden. Es wäre völlig harmlos, mit der Enduro über das Viadukt zu fahren. Neben den Schienen ist Platz genug, fast wie ein Radweg, nur spannender.
Es gibt zwei Möglichkeiten, auf das Viadukt zu kommen. Entweder fährt man durch den Tunnel und gelangt nach einer Weile direkt auf die Brücke, oder man versucht am anderen Ende heranzukommen, wo eine alte Villa am Kopf der Brücke steht, an der eine Straße vorbeiführt. Ich entscheide mich für diese Möglichkeit, es ist wenig verlockend, einige Kilometer über die Schwellen zu fahren. Danach sind die Speichen erledigt.
Der Villenbesitzer hat sein Grundstück mit Verbotsschildern geradezu gepflastert. Accés interdit. Propriété privée steht auf einem roten Schild, das an der Kette baumelt, die sich über den Weg spannt. Und sogar die Treppe nach oben ist auf diese Weise versperrt, ohnehin ein harter Brocken für die Enduro, selbst ohne Gepäck, weil die Stufen so hoch und steil sind.
Das gewaltige Bauwerk beeindruckt mich. Ähnlich wie das Viadukt an der russischen Grenze in Masuren. An einem der Pfeiler ist eine Gedenktafel angebracht. Inzwischen gibt es sogar eine Bürgerinitiative zur Wiedereröffnung der Brücke.
Die Franzosen halten ihre Straßen in Ordung, Schlaglöcher und mieser Asphalt sind die große Ausnahme, doch dafür muss ich mit den Umleitungen leben. ROUTE BARRÉE - DÉVIATION. Straße gesperrt - Umleitung.
Nach einer Weile tauchen in der Ferne die ersten Berge auf. Es sind die typischen Vulkankegel der Auvergne, die man aus der Volvic Werbung kennt, einem Mineralwasser, das hier aus der Gegend kommt.
Die Straße schraubt sich in Serpentinen einen Berg hinauf. Col de Guéry alt.1268 m steht auf einem Schild oben am Pass. Kurz darauf rolle ich auf der anderen Seite in ein Bergdorf hinein. Der Ort hat etwas Mondänes an sich. Die eleganten Häuser, die Kirche am Place Charles De Gaulle mit den goldenen Spitzen am Zaun.
Mont-Dore heißt der Ort in 1.000 m Höhe. Hier sprudelt eine heiße Quelle aus dem Vulkangestein, die schon die alten Gallier, Miraculix und seine Jungs, als Thermalbad genutzt haben.
Gegenüber der Kirche steht ein SPAR-Markt. Ich würde gerne kalten Orangensaft trinken, den gibt es hier in jedem Supermarkt, und außerdem brauche ich noch Olivenöl. Die kleine Laborflasche, die ich zuhause abgefüllt habe, ist fast leer. Die Champignons verbrauchen beim Braten viel Öl.
Bevor ich weiterfahre, trinke ich soviel von dem kalten Orangensaft, wie ich schaffe. Bei der nächsten Pause wird er nicht mehr so kühl und erfrischend sein.
In der Ferne im Tal kann ich schon sehen, wo ich heute schlafen werde. Camping Serrette liegt 1.040 m hoch über dem Lac Chambon mit einem wunderbaren Blick auf Chambon-sur-Lac. 362 Menschen leben in dem kleinen Bergdorf am Ufer des Sees.
Es ist grottenheiß und ich bin froh, als das Einchecken erledigt ist und ich die Motorradsachen ausziehen kann. Ein Blick links, einer rechts: Niemand zu sehen. Blitzschnell ziehe ich die Endurohose und das Shirt aus und etwas Leichteres an. Das Umziehen unter freiem Himmel war in meinem ersten Leben wirklich unkomplizierter.
Inzwischen lässt es sich nicht mehr verleugnen: Ich rieche ein bisschen wie toter Frisör. Diesen Geruch habe ich zuerst auf meiner Schottlandreise entdeckt. Es ist ein Zeichen, dass ich das Funktionsshirt waschen sollte und mich gleich mit.
Ich schnappe mir die kleine Tube Domol, sämtliche Elektronik und Ladegeräte, meine Waschsachen und das Handtuch und gehe hinauf zum Waschhaus.
Die Wäsche weiche ich in einem der riesigen Becken ein und gebe eine ganze Tube Domol dazu. Es ist wie Rei in der Tube, bloß bei Rossmann hatten sie nur Domol in Reisegröße.
Über jedem Waschbecken hängt eine Steckdose, aber heute brauche ich alle drei: Je eine für das Handy, die Kamera und für die Akkus des GPS. Danach komme ich wieder eine Woche lang ohne Strom aus.
Während die Wäsche in der Seifenlauge ruht, gehe ich unter die Dusche. Pieps ist nirgendwo zu sehen, sie hasst Campingduschen sogar mehr als ich und hat sich für eine Weile unsichtbar gemacht.
Meine Mähne ist vom Helm und von der Hitze verfilzt und fühlt sich schmutzig an. Ich wasche sie ausgiebig und knete dann die Kurpackung ins nasse Haar. Sofort wird es wieder weich und geschmeidig und fühlt sich ganz prima an.
Es sind fast 30° C und mir ist viel zu heiß, um irgend etwas anderes zu tun, als im Schatten zu liegen und zu dösen. Ich lege mich auf die Therm-a-Rest unter einen Baum, schreibe ein paar Seiten ins Tagebuch und lege es dann zur Seite. Welch ein erholsamer Urlaub das ist.
Ich stelle den Kocher auf und halbiere die Pilze. Da habe ich wirklich etwas für mich entdeckt. Mit gebratenen Champignons mag ich das Steak noch lieber. Nur Pieps ist misstrauisch. Sie weiß noch nicht, ob sie "Pülze" mag oder nicht.
Serrette wäre ein prima Zeltplatz für einen Jokertag, aber Gien ist erst drei Nächte her und ich will mir den nächsten Joker noch aufsparen. Trotzdem werde ich morgen früh hinunter nach Lac-de-Chambon fahren und sehen, ob ich dort ein Frühstück bekomme.
Heute ist ungefähr Halbzeit meiner Reise und ich bin erst 30 km südlich von Clermont-Ferrand. Damit liegt der größte Teil der Auvergne noch vor mir und anschließend geht es in die Cevennen. Ich kann kaum fassen, welch ein Glück ich habe. Nicht nur mit dem Wetter.
Als die Sonne untergeht, wird es schnell kühl, bis es nur noch 12° C sind. Das machen die tausend Höhenmeter. Pieps und ich verziehen uns ins Zelt und ich decke für uns Käse und Wurst auf.
zum nächsten Tag...
zurück nach oben