Tag 15 - Ballater
Ich frage mich, warum ich ausgerechnet im Zelt immer so perfekt schlafe. Ist es die frische Luft? Das Urlaubsgefühl? Ich weiß es nicht. Zuhause schlafe ich ja auch sehr gut, aber das ist kein Vergleich zu dem 1A Premiumschlaf in meinem Zelt.
Als ich das Handy einschalte, um zu sehen, wie spät es ist, bemerke ich einen seltsamen Geruch im Zelt. Was ist das nur? Er bewegt sich, wenn ich mich bewege, folgt jeder Bewegung und riecht ein bisschen wie toter Friseur.Ich will nicht ausschließen, dass es das Thermoshirt ist, das ich bei Hein Gericke in Kiel gekauft habe. Wenn ich zurück bin, werde ich dort eine fette Beschwerde loslassen:
"Dieses Shirt, das Sie mir verkauft haben, das fängt total schnell an zu stinken."
"Wie lange hatten Sie es denn an?"
"Ääähh, fünfzehn Tag und fünfzehn Nächte. Wieso...?"
Ich beschließe, die Beschwerde zunächst zurückzustellen und vorher das Shirt zu waschen. Heute möchte ich sowieso lieber in Ballater bleiben, mir den Ort ansehen und den Rest des Tages lesend im Gras vor meinem Zelt verbringen. Ich ziehe etwas Pinkes an und schlendere kurz darauf mit einem frisch gemalten Gesicht nach Ballater hinein. Auf dem Weg durch die Siedlung entdecke ich einen offenen Netgear Router, klinke mich kurz in das W-LAN ein und lade meine neuesten E-Mails herunter.
An der Einmündung Golf Road setze ich mich in ein Café mit dem sympathischen Namen Bean for Coffee. Mit einem Croissant und einem Becher Kaffee erwische ich den letzten freien Platz und genieße das Stimmengewirr um mich herum. Es sind überwiegend Einheimische, die an diesem Mittwochmorgen hier ihren Kaffee trinken und dabei fröhlich mit den Kellnerinnen scherzen. Kein Vergleich mit den ollen Muffköppen, wie sie bei Karstadt in Kiel morgens im LeBuffet sitzen. Während ich den heißen Kaffee schlürfe, beantworte ich in aller Ruhe meine E-Mails und nehme mir vor, sie auf dem Rückweg wieder über den offenen Router zu versenden.
Ballater hat viele kleine Geschäfte, aber als erstes gehe ich in eine Drogerie, um mir ein neues Krönchen zu besorgen. Den letzten Haarreif habe ich unterwegs irgendwo liegenlassen und seitdem fliegen mir andauernd meine langen Haare vor die Augen. Zur Sicherheit kaufe ich gleich zwei neue Krönchen. Den spannenden Science Fiction Roman, den ich in Fort Augustus in der Lodge gefunden habe, werde ich heute noch zuende lesen und dann brauche ich Lesenachschub. Ich habe zwar ein Dutzend Romane auf meinem iPod, aber das ist Blödsinn. Der Bildschirm ist viel zu klein und die Akkus halten weit weniger lange durch, als ich es tue. Ob ich in Ballater einen neuen Matthew Reilly Roman auftreiben kann?
The Book Shop könnte auch in jedem Harry Potter Film vorkommen, ohne im mindesten fehl am Platz zu wirken. "Haben Sie Zaubereulen?", bin ich versucht, den älteren Herrn zu fragen, der im Halbdunkel an der Kasse steht, aber ich kann mich bremsen und außerdem fällt mir das englische Wort für Zaubereule gerade nicht ein.
Es ist erstaunlich, wie billig die Bücher sind, aber vermutlich ist das in allen Ländern so, die keine Buchpreisbindung haben. Tatsächlich entdecke ich einen Roman von Matthew Reilly mit dem Titel Scarecrow und trage ihn zusammen mit einem kleinen Schreibblock zur Kasse, denn in meinem Moleskine sind nur noch wenige leere Seiten. Zum Mittagessen besorge ich bei CoOp ein Paket Bacon. Das Abendessen werde ich heute aber ein wenig variieren. Ich will nicht immer nur RibEyes essen und deshalb lege ich noch zwei Lammkoteletts zu den Steaks in meinen Korb.
Vom Zeitungsständer greife ich mir eine Scottish Daily Mail, die erstaunlicherweise nur 30 p kostet, und mache mich auf den Weg zur Kasse.
"You want a bag?", fragt mich der junge Mann an der Kasse freundlich, wie man das an jeder Supermarktkasse in Großbritannien gefragt wird. Die Tüten sind kostenlos und der Kassierer packt ein, während der Kunde zufrieden daneben steht.
Zuhause bei ALDI gibt es nicht einmal Ablageflächen an den Kassen, um in Ruhe einpacken zu können und hier werden mir die vollen Tüten bereits fertig in die Hand gedrückt. Der Service begeistert mich.
Gemächlich schlendere ich zurück ins Camp und bleibe unterwegs für einen Moment unter dem bewussten Fenster stehen, um meine E-Mails zu versenden. Kaum bin ich zurück am Zelt, als überraschend ein Regenschauer niedergeht. Bis eben schien noch die Sonne. Das macht aber nichts, denn ich setze mich ins Zelt, schließe die Apsis von innen und brate mir ein kleines Frühstück. Der Bacon schmeckt wirklich prima.
Nach dem Essen lege ich mich einen Moment auf den Schlafsack und muss wohl eingeschlafen sein, denn als ich die Augen aufschlage, scheint bereits wieder die Sonne.
Mit Seifenpulver und Wäschebeutel mache ich mich auf den Weg in den Laundry Room. Ich wasche die Shirts im Becken und schmeiße sie anschließend in den Wäschetrockner. Die große, rumpelig laute Maschine tümmelt meine Sachen in Rekordzeit flauschig trocken. Zufrieden trage ich die frische Wäsche zurück ins Lager. Der tote Friseur ist verschwunden. Den restlichen Tag verbringe ich als lazy afternoon am Zelt mit Lesen, Schlafen, Faulenzen, Tagebuchschreiben und von zukünftigen Reisen träumen. In meinem neuen Schreibblock lege ich für jedes Land, das ich noch besuchen möchte, eine eigene Seite an und schreibe dort alles auf, was mir dazu einfällt. Vor- und Nachteile, Übernachtungssituation, Anreise, Versorgung mit Fleisch und Benzin, Sicherheit, Wetter und sämtliche Vorurteile, die mir zu seinen Bewohnern einfallen.
Nach dem Abendessen, wobei ich entdecke, dass Lammkoteletts ein toller Passer zu Steaks sind, wenn man dafür die Bohnen weglässt, kümmere ich mich um das Motorrad. Ölstand, Reifen, Sichtkontrolle, alles ok, nur die Kette könnte etwas Fett vertragen. Ich erwische immer nur zehn Kettenglieder auf einmal, dann muss ich die Maschine ein Stück nach vorne schieben. Weil die Green Cow aber so leicht ist, kann ich das im Sitzen machen und rutsche auf dem Po jedesmal ein Stückchen hinterher.
"Nice bike.", werde ich plötzlich von der Seite angesprochen und es klingt wie "Noise boike". Ein Schotte also. Ich drehe mich zur Seite und da steht ein Mann in Combatklamotten. Er ist eher mittelgroß, so dass ich auch im Sitzen nicht besonders hoch gucken muss, schlank, trägt einen Vollbart und sieht irgendwie unheimlich aus. Ian, so heißt der Schotte, ist aber sehr freundlich und wir unterhalten uns prima über Motorräder.
Ich erfahre, dass Ian als Wildhüter auf Balmoral Castle arbeitet, dem Landsitz der königlichen Familie in Schottland. Das Schloss liegt keine zehn Meilen von Ballater entfernt und Ian arbeitet dort mit anderen Wildhütern "shooting deer", um den Wildbestand kurz zu halten.
Sein Blick fällt auf den Kocher und die Pfanne vor meinem Zelt und ganz unvermittelt fragt er mich: "You like venison?" Ich weiß nicht, was Venison ist und frage nach. "Deer. Wait ten minutes and I'll bring you some. It's frozen." Sprachs und verschwand.
Nach einer Weile kommt Ian zurück und überreicht mir einen Gefrierbeutel voller steinhart gefrorener Steaks. Es hat begonnen zu regnen und ich sitze in meinem Zelt während er unter seinem großen Regenschirm davor steht, mir den Beutel gibt und sagt: "It's roe deer, not red deer. I shot it at Balmoral." Und mit einem sympathischen Lächeln seines leicht lückenhaften Gebisses fügt er hinzu: "It's royal." Ich freue mich über das unverhoffte Geschenk und beschließe es morgen abend, wo auch immer ich dann sein werde, zu braten.
Mittlerweile regnet es immer heftiger und entweder muss ich jetzt das Zelt zumachen, Ian hereinbitten, oder ihn nach Hause schicken, als ich gefragt werde: "You want to come over for a coffee? I've got a trailer just nearby."
Meine Mama hat nie etwas davon gesagt, dass ich im Dunkeln nicht zu fremden Männern in den Wohnwagen gehen soll und außerdem packt mich sowieso gerade die Abenteuerlust und ich sage ja. Sein Wohnwagen verblüfft mich. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber ganz gewiss nicht einen so aufgeräumten, spießig eingerichteten Wohnwagen im Gelsenkirchener Barock, wie er jedem deutschen Dauercamper zur Ehre gereicht würde. Zugleich bin ich aber auch etwas entspannter, als ich mich in der bequemen Sitzgruppe an den Tisch setze.
Ian stellt leise Musik an, kocht für mich Kaffee, für sich einen Tee und stellt zwei Stück Apple Pie dazu. Nach kurzer Zeit entdecken wir, dass wir beide in jüngeren Jahren Trial gefahren sind und beide riesige Fans von Dougie Lampkin, dem zwölffachen Weltmeister im Trial sind.
Der Trialsport macht beinahe alles aus, was ich am Motorradfahren so geil finde und erklärt vielleicht endlich, weshalb ich kleine, leichte Enduros so sehr liebe und nie etwas anderes fahren möchte. Wenn man sich das Video anschaut, dann versteht man sofort, weshalb Dougie für jeden Trialfahrer ein wahrer Gott ist. Von Ian erfahre ich, dass die älteste, berühmteste und größte Trialveranstaltung der Welt, die Scottish Six Days, erst vor wenigen Wochen hier in der Nähe ausgetragen worden ist. In Gedanken nehme ich mir fest vor, eines Tages schon im Mai nach Schottland zu fahren und mir die Six Days live anzusehen. Ich brauche nur ein neues Zelt, einen wärmeren Schlafsack und muss ein paar Monate lang die Kröten zusammenhalten, um es mir leisten zu können.
Irgendwann vor Mitternacht verabschiede ich mich aus dem gemütlichen Wohnwagen und gehe zurück in mein Zelt. Inzwischen regnet es nicht mehr und mit den Gedanken an längst vergangene Trials, die ich vor mehr als 30 Jahren gefahren bin, falle ich glücklich und zufrieden in einen tiefen Schlaf.
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