Tag 2 - Harwich - Wisbech
Nach neun Stunden allerbestem Premiumschlaf wache ich erholt auf, stelle den Fernseher mit dem sky-NEWS Wetterbericht ein und springe unter die Dusche.
Heute werde ich zum ersten Mal in England fahren. Allein, ein fremdes Land, Linksverkehr. Ich bin schon total aufgeregt und kann es kaum noch abwarten.Ich ziehe meine Motorradsachen an, mache mir die Haare mit einem Dutt zur Helmfrisur und gehe ein Deck tiefer ins Lighthouse Café, um in Ruhe mein Reisetagebuch fortzuschreiben.
Als ich den ersten Becher Kaffee zu einem der kleinen Bistrotische trage, lädt mich ein Ehepaar an seinen Tisch ein. Es sind Amerikaner auf Weltreise und sie haben mich bei der Abfertigung auf meinem Motorrad gesehen: "You have a lot lighter luggage than all the other bikers.", stellt der Mann fest und ich bin ein wenig stolz darauf, dass sogar Außenstehende bemerken, wie ich ohne Gewürzbord und Zelthammer reise. Yeah...!
Kurze Zeit später habe ich eine Begegnung der dritten Art, die so ungewöhnlich ist, dass sie fast surreal erscheint: Ich stehe an einem der großen Bullaugen und schaue aufs Meer, als eine Frau neben mir stehenbleibt. Eine englische Lady, blond, schlank, hübsch, ein wenig jünger als ich, eleganter Hosenanzug, schicke Schuhe.
Nach einem kurzen Smalltalk lädt sie mich unvermittelt ein: "You know what? We have booked a whole suite in the Commodore Class with free access to the Columbus Lounge. Why don't you join us? Be our guest. Everything is for free there, food, drinks, fruits. It's so expensive and my husband and I hardly consume anything."
Mit leuchtenden Augen nehme ich die Einladung an. Die Columbus Class belegt fast das gesamte zehnte Oberdeck. Man bleibt unter sich, denn der Zutritt zu diesem Deck ist nur mit Codekarte möglich.
Ich folge der blonden Lady in die Columbus Lounge und bin überwältig von dem Ausblick durch das riesige Panoramafenster. Wow, hier also haben sie die ganze tolle Aussicht und den Luxus versteckt.
Nur eine handvoll Passagiere sitzt in der Lounge und langweilt sich auf allerhöchstem Niveau. Ich lerne den Husband der Lady kennen. Er ist in die Times vertieft, 86 Jahre alt und ein wenig erstaunt, als ich ihn nicht sogleich erkenne. Sollte ich? Die beiden wohnen in London direkt neben den Houses of Parliament mit Blick auf die Themse. Ist es nicht erstaunlich, denke ich, was heute im sozialen Wohnungsbau alles möglich ist?
Ich darf mich in der Lounge frei bedienen, aber ich bin so eingeschüchtert, dass ich nur eine Tasse Kaffee annehme. Am Boden dieser Tasse kommt bereits die englische Küste in Sicht und ich verabschiede mich höflich zurück in die Holzklasse, wo ich mich für den Start ins Abenteuer fertigmache.
Mit wenigen Handgriffen packe ich den Tankrucksack, ziehe meine neongelbe Motorradjacke an und gehe die Treppe runter zu Deck 6, wo die Türen zum Fahrzeugdeck bereits geöffnet sind.
Mein Motorrad steht schon startbereit, denn John war so lieb, schon die Gurte und Unterlegkeile zu lösen. Wieder einmal merke ich, wie schön es ist, so ein leichtes, wendiges Motorrad zu fahren. Schließlich wiegt die Geen Cow nur 138 Kilo und lässt sich babyeierleicht herumschieben.
Einigen Autofahrern sieht man die Anspannung an, dass sie gleich unter Deck wenden müssen. Die Luke mit dem Tageslicht ist nämlich genau hinter uns. Mit der KLX ist das Wenden überhaupt kein Problem und Minuten später stehe ich schon an der UK Border zur Einreisekontrolle. Der Grenzbeamte lächelt mich freundlich an und sagt noch etwas Nettes über meine Jacke, die so gut zu erkennen sei. Ich stecke den Personalausweis zurück in den Brustbeutel, ziehe den Reißverschluss meiner Jacke zu und düse nach England hinein.
Schon auf den ersten Metern in Harwich warten bereits mehrere der berüchtigten englischen Roundabouts auf mich. Das sind Kreisverkehre, wie wir sie auch in Deutschland haben, nur dass man links herum einfährt und das oft mehrspurig mit ausgefeilten Regeln zum Blinken, Spurwechseln und Ausfahren. Mit etwas Konzentration ist das fahrerisch leicht zu bewältigen und trotzdem macht mir der Linksverkehr mehr zu schaffen, als ich es erwartet hatte.
Auf dem Foto sieht man, wie ich engagiert durch eine schlecht einsehbare Linkskurve düse. Vom Gefühl her auf der falschen Seite. Mein Verstand weiß, dass ich richtig bin, aber mein Gefühl sagt mir, wir werden alle sterben, wenn jetzt etwas von vorne kommt.
Wenn dann tatsächlich Gegenverkehr auftaucht, kriege ich jedesmal einen Riesenschreck, bis ich merke, dass wir problemlos aneinander vorbeifahren werden. War das verständlich und kann man sich das anhand des Fotos ungefähr vorstellen?
Als ich kurz darauf durch Manningtree fahre, ist mir dort alles schon so vertraut, obwohl ich noch nie hiergewesen bin. In Google Streetview bin ich die Strecke aber schon ein Dutzend Mal gefahren, so dass mir auch die blöde Bahnüberführung am Ortsende keine Probleme bereitet. Ich weiß nämlich schon, wie man da fahren muss. :-)
Es ist früher Nachmittag und ich will heute noch bis nach Wisbech fahren, wo ich dank Street View auch schon weiß, wo ich einkaufen und tanken werde.
Auf dem Weg durch Lincolnshire fallen mir immer wieder Pubs und Inns mit wunderschön gestalteten Namensschildern auf. Ein paarmal halte ich sogar an und wende, um ein Foto zu machen. Das ist schon was Anderes, als der billige Leuchtkasten über "Eddis Bierschwemme" an der Ecke.
In Wisbech finde ich sofort meine Tankstelle und den Supermarkt aus Google Streetview. Nachdem ich die Cow getankt habe, fahre ich auf die andere Straßenseite zu dem CoOp, der in England The co-operative heißt und eine prima Fleischabteilung hat.
Rindfleisch ist in Großbritannien eindeutig billiger als zuhause und so kaufe ich mir zwei Entrecotes, die hier Ribeye Steaks heißen, und zur Sicherheit noch ein paar Bratwürste dazu. Ich lege noch ein Wasser, eine Flasche Bier und etwas Knoblauchbutter in meinen Korb. Von den Preisen bin ich total positiv überrascht, denn in meiner Vorstellung war England ein teures Urlaubsland und was den Einkauf in Supermärkten angeht, stimmt das eindeutig nicht.
Auf dem Weg zur Kasse ernte ich immer wieder seltsame Blicke und eine der Angestellten, die gerade Chipstüten in ein Regal räumt, fragt mich: "Is everything ok?" und ein paar Kinder sagen laut zu ihrer Mama: "Look, Ma. A police woman." Woher können die nur wissen, dass ich bei der Polizei bin? Ich bin doch im Urlaub und hier sowieso nicht zuständig. Erst später erfahre ich, dass die englische Polizei genau solche Jacken trägt wie ich. Neongelb mit schwarz abgesetzten Streifen. Na prima. Deshalb fahren alle so vorschriftsmäßig, wenn ich auf dem Motorrad hinter ihnen herfahre.
Als ich den Tankrucksack mit meinem Einkauf belade, sagt ein Jugendlicher, der mich im Supermarkt schon misstrauisch beäugt hatte, zu seinem Kumpel: "Ah, she's just a biker."
Supermarkt The co-operative in Wisbech, England
Foreman’s Bridge Caravan Park in Sutton St. James, England
Hey, Baby, denke ich. Das wollen wir doch mal sehen. Wenn sie dich aufgenommen haben, dann können die Ansprüche hier nicht grenzenlos hoch sein. Laut aber sage ich: "Danke schön. Ich frage einfach mal." Und tatsächlich werde ich freundlich aufgenommen und bekomme eine 1a Premiumparzelle mit feinstem englischen Rasen.
Glücklich, aber ziemlich erledigt von der anstrengenden Fahrt brate ich Entrecote und Würstchen
Kaum ist die Sonne untergegangen, da mache ich das Zelt von innen zu und schlüpfe in meinen kuscheligen Daunenschlafsack. Innerhalb von Sekunden bin ich bereits fest eingeschlafen.
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