In der Rominter Heide
Die Turmuhr des Klosters holt mich aus dem Tiefschlaf. Sieben kurze, harte Schläge mit langen Pausen dazwischen. Na endlich, denke ich nach dem letzten Glockenschlag, drehe mich auf die andere Seite und will weiterschlafen, aber da folgt bereits die nächste Ruhestörung. Die Glocke ist kaum verklungen, da beginnt ein einsamer Trompeter zu spielen. Eine einfache, traurige Melodie, die irgendwo oben von der Klostermauer über den See schallt.
Die spinnen, diese Mönchstypen und sie haben Glück, dass ich schon fast ausgeschlafen bin, sonst müsste ich jetzt in meinem süßen rosa Nachthemd zum Kloster rüberschlappen und ein paar Kopfnüsse verteilen. Stattdessen schnappe ich meinen Waschbeutel und mache mich auf in den Schuppen hinterm Haus.
Die Waschräume sind knapp unter Basic und bieten kein warmes Wasser, aber dafür sind sie makellos sauber und gepflegt. Jetzt bin ich richtig wach.
Nachdem ich fertig angezogen bin, setze ich mich mit Pieps an einen Tisch im Garten. Das hier ist kein Restaurant, aber die Familie ist schon auf und Mama steht bereits in der Küche. Ich gehe an die Küchentür und bestelle Kaffee und Rührei.
Dafür sind die Rühreier genau so, wie ich sie selbst auch zubereite: Das Eigelb ist kaum gestockt und schwimmt in Butter. Ich bestelle Kaffee nach und genieße es, in der Sonne zu sitzen, bis es Zeit wird aufzubrechen.
Mit Bedauern lasse ich das Kloster und den schönen Campingplatz hinter mir zurück. Falls ich je wieder so weit nach Osten komme, werde ich hier ganz sicher wieder einkehren. Das ist ein toller Platz.
Auf einer hochmodernen Station der norwegischen STATOIL tanke ich das Motorrad voll und fahre weiter. Ich hoffe so sehr, dass STATOIL mal nach Deutschland kommt, dafür würde ich sogar meiner geliebten SHELL und den 13.450 Bonus Points untreu. Auch wenn ich natürlich weiterhin V-Power tanken würde, aber die Hotdogs sind nirgends besser als bei STATOIL.
Die Fahrt durch Suwalki ist eine einzige Zebrastreifen-Rally, wie ich noch keine erlebt habe. Dass eine Stadt eine ausreichende Anzahlt von Zebrastreifen anbietet, das ist Service, aber dass es soviele sind, dass man kaum bis in den dritten Gang schalten kann, bevor man vor dem nächsten gestreiften Hindernis wieder runterbremsen muss, das habe ich so noch nicht erlebt. Warum haben sie nicht gleich die ganze Straße mit Streifen bemalt...?!
Wie ein Urtier aus grauer Vorzeit taucht in der Ferne das Viadukt auf. Anfangs ist nur ein schmaler Streifen zu erkennen, der Rest wird noch von Hügeln verdeckt. Jetzt kommt es drauf an, ich bin weit gefahren, um einmal über diese alte Eisenbahnbrücke zu fahren.
Der Schlüsselmeister entpuppt sich als schlanker Mann in meinem Alter, der mit ausdrucksloser Miene zusieht, wie ich an dem Schild Fußgänger vorbei auf ihn zufahre. Ich stelle den Motor aus, setze den Helm ab und strahle ihn mit meinem breitesten 1000 W Lächeln an. Er schaut unbeeindruckt zurück und schweigt. Ich dürfte gar nicht hier sein.
Ich habe keine Ahnung, ob er mich verstehen kann, aber sein Schweigen dauert verdächtig lange und ich werde allmählich nervös. Dann, gerade als ich alles noch einmal wiederholen will, zwinkert er mir zu und erwidert trocken: "Ja."
Der Eintritt kostet 4 Zloty, nicht 8, wie die Jungs gesagt haben. Ich reiche dem Torwächter einen 10 Zloty Schein und möchte, dass er den Rest behält, aber er besteht darauf, mir 6 Zloty Wechselgeld zurückzugeben.
Ich setze den Helm auf, starte den Motor und tuckere langsam auf das Viadukt zu. Hier ist schon lange kein Zug mehr gefahren, die Schienen wurden 1945 von der roten Armee abgebaut und mitgenommen.
Auf der anderen Seite des Tals endet der Weg vor einem rostigen alten Metallzaun mit einem großen Vorhängeschloss, das so aussieht, als sei es seit Jahrzehnten nicht geöffnet worden, dahinter undurchdringlich tiefer Wald.
Ein wackeliger Holzsteg führt über die Blinde und als ich nach oben sehe, wird mir klar, welch ein gewaltiges Bauwerk das Stańczyki-Viadukt ist. Mit seinen Arkaden und Pfeilern erinnert es an ein römisches Viadukt.
Schwitzend mit verdächtig langen Pausen dazwischen klettere ich wieder empor auf das nördliche Viadukt. Meine Güte, bin ich schlecht in Form, aber es ist auch ziemlich heiß und die Motorradklamotten sind schwer, beschwichtige ich mich selbst.
Etwas aus der Puste erklimme ich die letzte Stufe nach oben und bin einigermaßen erstaunt, als eine Traube von Touristen um mein Motorrad herumsteht. Ich werde freundlich begrüßt, einer der Männer trägt ein Kawasaki Base Cap. "German? English?" "No."
Niemand aus der Gruppe spricht deutsch oder englisch, aber es soll einen geben, der es kann und der wird extra herbeigeholt. Ein junger Mann, der für die Übrigen übersetzt. Sie möchten wissen, woher ich komme, was ich hier mache und dass das ein schönes Motorrad sei. "Kawasaki", sagen die Männer einstimmig mit ernster Miene.
Einige möchten unbedingt ein Foto mit Greeny machen und damit ich auch eines habe, frage ich einen der Jungs, ob sie auch ein Erinnerungsfoto mit meiner Kamera machen. Inzwischen mahnt der Busfahrer zum Aufbruch und die Reisegruppe geht weiter. Welch eine nette Begegnung das war, so freundliche, herzliche Menschen.
Kurz vorm Ende der Brücke stiefeln mir zwei Typen in Vollcross Klamotten entgegen, ihre Motocross Ausstattung so bunt und neu, dass man die Preisschilder noch ahnt. Als sie den Motor der Enduro hören, schauen sie hoch und sehen mich ungläubig an. Ich fahre lässig an ihnen vorbei und winke, aber sie starren nur und winken nicht zurück.
Auf dem Parkplatz stehen zwei gelbe Suzuki DR-Z450 mit Motocross Bereifung. BL steht auf den Kennzeichen und zu Hause werde ich nachschlagen, dass sie aus Łomża kommen.
Die haben ganz schön geschwitzt in ihren Crossklamotten, denke ich grinsend und fahre in einer riesigen Staubwolke mit deutlich mehr Power, als nötig wäre, über den Parkplatz.
Wenn ich eines Tages sehr alt bin und in irgendeinem Heim festsitze, dann werde ich von vergangenen Abenteuern lesen und mich daran erinnern, dass auch ich einmal jung und stark und schön war.
Ich habe keine Ahnung, woher die melancholischen Gedanken kommen, aber um mich abzulenken heize ich die nächsten Kilometer mit festem Druck aufs Vorderrad im Motocross Stil über die Sandwege und summe dabei Forever young in meinen Helm. Zu Hause werde ich dringend meinen Hormonspiegel überprüfen lassen...
Keine halbe Stunde später erreiche ich Goldap, eine Grenzstadt zur russischen Enklave Kaliningrad (Königsberg). Es ist Samstag und rund um den großen, offenen Platz im Zentrum flanieren Menschen an den Schaufenstern der Geschäfte entlang.
Die Website des Auswärtigen Amtes schreibt dazu:
Hinweis für Touristen, insbesondere Wanderer, im Grenzgebiet Polen-Russland (Gebiet Kaliningrad): Die „grüne Grenze“ ist an verschiedenen Stellen nur durch weit auseinander liegende Grenzsteine markiert. Wer die Grenze (auch nur für wenige Meter) illegal überschreitet, muss mit der Festnahme durch die russische Grenzpolizei und mehrjähriger Haftstrafe rechnen. (Quelle: Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland)
Ich fahre so nah heran, wie ich mich traue, um stehenzubleiben und ein Foto zu machen, drehe um und fahre zurück nach Goldap. Im Stadtverkehr sind auch Autos mit russischen Kennzeichen unterwegs. Seit 2012 gibt es für Bewohner der Region einen visafreien Grenzverkehr. Man muss seit mindestens 3 Jahren hier leben, um ein Propusk zu erhalten, eine Art Dauervisum.
In Ketrzyn halte ich bei Biedronka, das ist der Supermarkt mit den lustigen Marienkäfern, und mache mich auf die Suche nach meinem Abendessen. Entschlossen fülle ich den Korb mit allem, was mir schmeckt und bin aufs Neue erstaunt, wie günstig Lebensmittel in Polen sind: Für ein Entrecote, 4 Rinderhack-Steaks, Bier, Wasser und ein Brötchen zahle ich 20,76 Zloty, das sind gerade einmal 5 Euro. In Norwegen habe ich für einen Hotdog 6 Euro bezahlt.
Es ist auffällig, wieviele Landstraßen hier neu ausgebaut werden, der noch unmarkierte, frische schwarze Asphalt duftet nach EU Geldern, ein Aroma, das mir auch auf der Isle of Skye in Schottland aufgefallen war. Mir gefällt der Gedanke, dass sich hier an der östlichen Grenze der EU - nicht zuletzt auch mit unserer Hilfe - etwas entwickelt.
Als ich den ersten Hinweis auf Seeblick entdecke, bin ich kurz davor umzukehren. Eine schraddelige, halb zerrissene Werbetafel kündigt an: Camping - Caravan - Wohnmobil - Pensjonat Seeblick. Ich biege auf den Sandweg ein - es sind immer Sandwege in Masuren - und fahre mit deutlichen Zweifeln im Gesicht auf den Campingplatz zu.
Sowie das Zelt steht, lege ich mich auf die Isomatte in die Sonne. Oh, ist das schön hier. Ich hätte glatt einen zweiten Tag einplanen können für dieses Camp und ganz sicher verdient dieser Platz eine Empfehlung für Camper mit Zelt oder Wohnmobil.
Zuerst brate ich das Entrecote. Einerlei, wie oft ich dieses spezielle Steak auch esse, ich bekomme es niemals über und jedes schmeckt ein wenig anders. Dieses ist so mürbe, dass es fast zerfällt. Besseres habe ich nur in Schottland gegessen vom Scottish Angus Cattle.
Es sind vier große, kräftige Kerle und das Boot liegt beängstigend tief im Wasser. Mit zweifelndem Blick verfolge ich, wie sie immer weiter auf den See hinaus rudern, bis das Boot soweit weg ist, dass ich es kaum noch erkennen kann.
Als sie nach Stunden zurück ans Ufer kommen und das Boot anlegen, kann ich sehen, dass sie einen reichen Fang gemacht haben. Sie sind fischreich, die Seen Masurens.
Die Sonne geht unter und es wird kühl am Wasser. Pieps und ich machen uns bettfein und kuscheln uns in den Schlafsack.
zum nächsten Tag...
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Welch ein abenteuerlicher Tag: Das Besondere war nicht die babyeierleichte Fahrt über das Viadukt, sondern dass ich mich nicht habe entmutigen lassen.