Sonntag in Polen
Wann habe ich auf einer Reise jemals so lange derart schönes Wetter gehabt? Und nun ausgerechnet im Herbst in Polen. Heute will ich mir den Elblag Kanal anschauen und dann ins Weichseldelta fahren, wo mein nächster Campingplatz liegt.
Aus dem Schatten taucht ein Mann am Straßenrand auf. Er winkt mit beiden Armen und gibt Zeichen, dass ich anhalten soll. Mit seiner Mütze und den Cordhosen sieht er aus wie ein Bauer. Vielleicht sind Kühe auf der Straße, oder es hat einen Unfall gegeben?
Ich legen den ersten Gang ein und starte durch, kurz bevor er mich erreicht. Wütend rufe ich ihm ein Schimpfwort zu, das einen Körperteil am unteren Rücken bezeichnet, und fahre weiter. Wieviel Blanchet muss jemand trinken, um so besoffen zu sein?
Auf den nächsten Kilometern scanne ich den Straßenrand besonders aufmerksam nach Gefahren ab, so wie ich in Finnland nach Rentieren Ausschau gehalten habe, die genauso unsicher über die Straße gelaufen sind, wie mein betrunkener polnischer Bauer.
Die ersten Bäume verfärben sich bereits gelb und trockene Blätter wirbeln empor, wenn ich mit dem Motorrad vorbeirausche. Es ist einer der schönsten Motorrad-Fahr-Tage, an die ich mich überhaupt erinnern kann.
Langsam rolle ich durch den Ort und fahre an zwei Männer vorbei, die offensichtlich stark betrunken sind. Sonntagvormittag in Polen. Heute wird eines meiner Vorurteile bestätigt: Polen saufen. Sie trinken nicht ein Glas Blanchet, sondern es ist Wodka, harter Stoff, und sie trinken auf Wirkung, nicht auf Genuss.
Ich fahre weiter und halte vor einem Sklep, dessen Eingangstür offen steht, die Geschäfte sind auch am Sonntag geöffnet. Ein Ladenschlussgesetz gibt es in Polen nicht, Kaufleute regeln die Öffnungszeit nach eigenen Vorstellungen.
Der Raum ist bis unter die Decke mit Ware vollgestopft und sogar vor den Fenstern stehen Regale. Nur durch die Eingangstür fällt etwas Tageslicht herein und über dem Tresen baumelt eine alte Hängelampe und beleuchtet die Ware im Kühltresen.
An der Stirnseite verstauen zwei junge Männer ihren Einkauf in einem alten Armeerucksack. Ihre Bewegungen sind fahrig und sie wirken unsicher auf den Beinen. Interessiert schaut der Eine zu mir herüber und das Motorrad vor der Tür haben sie auch schon bemerkt. Die Beiden nehmen den Einkauf und gehen hinaus, aber mir schwant, dass ich noch ihre Bekanntschaft machen werde.
Es dauert eine Weile, bis ich an der Reihe bin, denn die Dame vor mir hat eine umfangreiche Liste. Jeder wartet, bis er an der Reihe ist und der Krämer ihn fragt, was er möchte. Man bestellt, zeigt mit dem Finger, lässt sich beraten, wägt ab, entscheidet und arbeitet Stück für Stück die Einkaufsliste ab.
Die Verkäuferin tippt meinen Einkauf in die Registrierkasse und auf dem Display erscheint 3,02 Zloty, das sind 73 Cent für ein Brötchen und vier Würstchen. Das Brötchen allein kostet 0,14 Zloty, etwa 3 Cent.
Vor dem Laden hat einer der beiden Männer auf mich gewartet. Er ist betrunken, hält sich aber aufrecht und wirkt ganz freundlich. Sein Kumpel ist schon ein Stück die Straße hinunter gegangen. Der Mann spricht mich an und es stellt sich heraus, dass er etwas Deutsch spricht. Er ist als Fernfahrer für eine deutsche Spedition gefahren und kann nicht verstehen, wie man in Polen Urlaub machen kann.
Ich erzähle ihm, wie schön Polen doch ist und wie gut mir Masuren gefällt, die Landschaft, die Ruhe und der Frieden.
"Ja, aberr ... Pollen iest...", erwidert er und sucht nach den richtigen Worten, bevor es aus ihm herausplatzt: "Pollen iest Pollen."
Er macht eine resignierte Handbewegung, als sei damit alles gesagt, was es über Polen zu sagen gebe, dreht sich um und folgt ohne ein weiteres Wort seinem Freund mit dem Armeerucksack.
Mit den Waren aus dem Sklep stelle ich mich zu meinem Motorrad. Die Würste sind fett, gut gewürzt und schmecken nach Rauch. Ich beiße abwechselnd von dem bemehlten Brötchen und der Wurst ab.
Ein hochmodernes Tandem kommt die Straße runter und hält vor dem Sklep. Ein Pärchen aus Bayern, die Beiden sind perfekt ausgerüstet, vom Dress über die Helme, GPS, Taschen und Zubehör stimmt einfach alles. Es sind Berufskollegen aus Bayern, die auf einer Fahrradtour durch Polen sind.
Die Beiden sind enttäuscht von Masuren und allmählich beginne ich zu verstehen, was da los ist. Man hört immer diese Geschichten: Masuren, Suleyken, so wunderschön, so einzigartig und genau das weckt falsche Erwartungen.
Anders als in Norwegen, fällt man hier nicht von einem "Oh..!" und "Ah..!" in den nächsten Superlativ, denn Masuren ist anders. Auf den ersten Blick vielleicht enttäuschend: "Ach, das ist es also, dieses Masuren. Nett. Wie Schleswig-Holstein ohne Schnellstraßen und mit weniger Menschen."
Dann nach einer Weile - nach ein paar Tagen vielleicht - wenn sich das Tempo angeglichen hat, liest man sich allmählich ein und findet Masuren mit jeder Seite, die man neu entdeckt, immer schöner.
Die Welt dreht sich langsamer hier und würde ich wandern, oder wäre ich mit dem Fahrrad unterwegs, dann würde ich das gerne hier tun, in Masuren, mit Mountainbike, Zelt und Schlafsack.
Meine nächste Station soll der Elblag Kanal sein. Das Besondere an ihm sind die fünf Rollberge, wo Schiffe auf Schienenwagen geladen und über Land transportiert werden, um die 99 m Höhenunterschied auszugleichen. Ich habe Fotos davon im Reiseführer gesehen und will es mir unbedingt anschauen.
Etwa um die Mittagszeit nähere ich mich dem Oberländischen Kanal, wie der Elblag Kanal auch genannt wird. Einer der Mitarbeiter beim Bau des Kanals war der Ingenieur Carl Lentze, der auch die Weichselbrücke in Dirschau konstruiert hat und später sogar am Bau des Sueskanals beteiligt war.
Dort vorne auf der Brücke muss es sein. Die Stelle hatte ich mir zu Hause schon ein Dutzend mal auf Google Streetview angesehen, bevor ich losgefahren bin. Ich setze den Blinker und biege von der Straße ab auf die alte, nicht mehr befahrene Kanalbrücke, halte an und sehe hinunter.
In der Ferne ist einer der Rollberge zu sehen. Ich suche mir einen Weg von der Brücke hinunter und folge dem Kanalufer bis zu einer Baustelle. Der Antrieb der Standseilbahn steht frei im Wasser, die Anlegestelle ist frisch befestigt und auf dem Rollberg stehen zwei leere Schienenwagen.
Ich halte mich nicht lange auf und fahre weiter nach Elblag zum Einkaufen. Eine breite Einfallstraße führt vierspurig in die Stadt hinein, zwischen den Fahrbahnen fährt eine Straßenbahn. Es ist Sonntag, aber schon der erste Supermarkt hat geöffnet. Es ist ein Leclerc, eine Kette aus Frankreich, die in Polen 16 Einkaufscenter betreibt.
Der Laden ist gut besucht und die Frauen haben sich auch an diesem Sonntag wieder chic angezogen für den Einkauf im Supermarkt, ohne High Heels geht in Polen nichts.
Ich kaufe ein T-Bone Steak, etwas Tatar, Fetakäse, Champignons, Bier und Kinderschokolade. An einer STATOIL Station tanke ich das Motorrad voll und verlasse danach Elblag. Ich wollte nur einkaufen und bin froh, als ich aus dem Stadtverkehr heraus bin.
Für die nächsten Kilometer werde ich Autobahn fahren müssen, denn bei der Planung ist es mir nicht gelungen, einen anderen, sinnvollen Weg zu meinem Ziel zu finden. Mit 120 km/h gleite ich meinem Ziel entgegen. Die Straße ist in perfektem Zustand und an diesem Sonntag kaum befahren.
Mit jedem Kilometer, den ich Danzig und der Ostseeküste näher komme, wird die Welt touristischer. Diese Schilderwälder kenne ich aus Büsum und Scharbeutz, wo auch jede Pension, jedes Hotel und jedes Restaurant um Touristen buhlt.
In einer kleinen Bude verkauft eine junge Frau Bernsteinschmuck. Sie hat kurzrasierte Haare und trägt lila Doc Martens Stiefel. Sie spricht englisch und ich erfahre, dass sie Bernstein und Treibholz sammelt und daraus ihren Schmuck fertigt.
Bernstein mag ich sonst nicht so gerne, aber in der Fassung aus poliertem Treibholz sieht der honiggelbe Stein auf einmal interessant und schön aus und gar nicht mehr altbacken. Ich suche ein besonders schönes Stück aus und nehme es als Geschenk für Claudia mit.
Inzwischen hat die Fähre angelegt und wir rollen an Bord. Es ist ein ungewöhnliches Schiff, ein Ponton ohne eigenen Antrieb, der seitlich von einem Schlepper über den Fluss gedrückt wird.
Ein Wohnwagengespann, ein Wohnmobil und mehrere Autos mit jungen Menschen reisen gerade ab, als ich auf den Platz rolle. Es ist Sonntagnachmittag und auch die Ferien sind vorbei.
Bei einem älteren Herrn, der etwas mürrisch ist, zahle ich umgerechnet 7 Euro für die Nacht. Er kann überhaupt nicht verstehen, wieso ich keine Hütte miete, aber ich mag das Zelten nun einmal lieber und es ist ein herrlicher Tag.
Mit dem Motorrad fahre ich über den Platz. Camp Orlinek liegt in einem Kiefernwald, es gibt buchstäblich keinen freien Platz ohne Bäume, keine Wiese, keine große Lichtung, aber der Schatten ist angenehm und es hat etwas Geheimnisvolles, im Wald zu zelten.
Als ich einen Platz für mich gefunden habe und das Zelt aufstelle, kann ich es kaum glauben: Der gesamte Wald ist sauber geharkt. Kaum ein Kiefernzapfen liegt auf dem sandigen Waldboden, sie wurden alle an einer Stelle zusammengeharkt.
Dieser Wald ist riesig, das muss eine Heidenarbeit gewesen sein und Stunden um Stunden gedauert haben, aber vermutlich sind Arbeitskräfte nicht teuer.
Ich bin ziemlich erledigt und möchte mich erstmal frisch machen. 250 Km sind weit, wenn es über Sandwege und gepflasterte Nebenstrecken geht.
Jetzt muss ich nur noch herausfinden, welches der Waschhäuser für mich zuständig ist. Auf der einen Tür prangt ein Kreis, auf der anderen ein Dreieck. Ich tippe auf das Dreieck für die Damentoilette, aber ich liege falsch. Eine Frau kommt heran und betritt zielstrebig den Eingang mit dem O, das Dreieck ist für Jungs.
Das Waschhaus ist so typisch für Polen: Alte Gebäude und einfache Installationen, aber alles ist blitzsauber und sehr gepflegt. Die Plätze in Tschechien waren dagegen ziemlich dreckig und vernachlässigt.
Pieps hat Hunger und so baue ich den Kocher auf. Das T-Bonesteak ist so groß, dass es kaum in die Pfanne und auch nicht ganz auf den Teller passt. Meine Güte, ist das ein Biest.
Das Fleisch ist zart mit genau der richtigen Menge Fett. Während ich esse, brate ich das Tatar in zwei großen Klumpen mit den Champignons im heißen Steakfett. Wer hätte gedacht, dass ich in Polen so gut essen würde?
Morgen geht es weiter nach Westen und inzwischen steht mein Entschluss fest: Ich werde ein zweites Mal nach Schulzewerder fahren. Auf der Campinginsel habe ich mich so wohlgefühlt, dass ich dort noch einmal zelten möchte. Gute Nacht, Welt...
zum nächsten Tag...
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Das war einer der schönsten Tage auf dem Motorrad, an die ich mich erinnern kann und ich weiß nicht weshalb. Der Tag war einfach perfekt.