Marienburg
Die ersten Sonnenstrahlen leuchten flach über den See als ich das Zelt aufmache, das noch im Schatten der Nacht steht. Die Szene hat etwas von einem Walt Disney Film. Es ist der 3. September, ein herrlicher Morgen in Kaschubien.
Die wenigen Camper schlafen noch, aber eine kleine Armada von Putzfrauen ist bereits emsig dabei, die Ferienhäuser zu reinigen. Sie schwatzen fröhlich miteinander, während sie routiniert ihrer Arbeit nachgehen.
Die Waschhäuser sind eine Überraschung für mich. Es gibt viele winzige Badezimmer, jedes Einzelne mit Dusche, Waschbecken und Toilette. Sowie ein Gast fertig ist, kommt eine eigens stationierte Putzfrau und stellt den Originalzustand wieder her.
Damit ist heute das zweite Vorurteil gefallen und diesmal eines von meinen: Die Sanitäranlagen auf polnischen Campingplätzen sind nämlich nicht zwangsläufig oll und dreckig. Ganz im Gegenteil, diese sind hochmodern und blitzsauber.
Es war eine trockene Nacht und der Zeltstoff raschelt beim Zusammenlegen. Nicht ein Tropfen Tau liegt darauf, ungewöhnlich für einen Morgen im Herbst.
Sowie ich alles verstaut habe, fahre ich zur Rezeption zum Bezahlen. Der junge Mann von gestern abend ist schon wieder im Dienst und ich zahle 25 Zloty, etwa 6 Euro. Ein sehr günstiger Preis, zumal der Platz einiges zu bieten hat. Wenn ich da an diesen mega ätzenden Platz in Nordirland denke, wo sie für nichts 23 € genommen haben, dann kann ich jetzt noch sauer werden.
Ich lasse das Motorrad stehen und gehe zum Restaurant, vielleicht bekomme ich dort schon ein Frühstück. Die Tür ist offen, aber die Gastronomie erscheint noch geschlossen. "Hallo?", rufe ich in den leeren Saal hinein, warte einen Moment und dann noch einmal etwas lauter: "Hallo...?!"
Nach wenigen Augenblicken kommt ein junges Mädchen aus der Küche und spricht mich an, aber ich kann sie nicht verstehen. Sie sagt etwas wie "Momentski", und verschwindet wieder in der Küche. Kurz darauf erscheint sie erneut, diesmal in Begleitung einer energisch wirkenden Dame mittleren Alters, offensichtlich der Restaurantchefin.
"May I have breakfast, please?"
"We usually open at 10 but for you my colleague can open now. Lena...!? "
Es ist erst 9 Uhr, eine gute Stunde zu früh, und trotzdem wird für mich schon jetzt geöffnet und ein Frühstück zubereitet. Nach meinen Wünschen gefragt, erwidere ich: "Coffee, some cold Meat, Cheese and a little Bread, please."
Die Chefin übersetzt es und Lena, ein Mädchen von höchstens 18 Jahren, verschwindet wortlos nach hinten in die Küche, während ich mich in die Morgensonne setze.
"Oh, das sieht aber gut aus", entfährt es mir auf Deutsch, als Lena das Frühstück vor mich hinstellt. Ich bedanke mich mit einem strahlenden Lächeln und sie huscht schüchtern und ohne ein Wort zurück ins Restaurant.
Nach der dritten Tasse Kaffee bezahle ich und breche auf. Heute morgen fällt mir der tiefe, sandige Weg viel leichter als gestern. Mit reichlich Speed heize ich im MotoCross Stil fröhlich über die Piste und ziehe eine beeindruckende Staubwolke hinter mir her.
Innerhalb von Minuten habe ich die Piste aufgeraucht, die mir gestern solche Schwierigkeiten gemacht hat. Tagesform, nehme ich an. "KASZUBIA" verkündet das Graffiti an einer Bushaltestelle und darunter gesprüht eine Art Fadenkreuz. Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll. Oder doch: Ich bin in Kaschubien und das gefällt mir.
Nach etwa 79 km erreiche ich eine größere Stadt, Tczew steht auf dem Ortsschild. Auf meiner Landkarte steht dazu in Klammern Dirschau unter dem polnischen Namen.
Am Ortsende taucht ein Fluß mit einer Brücke auf und als ich näher komme, sehe ich, dass es zwei Brücken sind, die dicht nebeneinander stehen, eine Eisenbahnbrücke und eine für Autos. Aber was ist das? Die Straßenbrücke ist gesperrt, verrammelt und verriegelt.
Was soll denn mit der Brücke los sein? Die sieht doch total stabil aus. Ich denke, dass ich es schaffen könnte, mich an dem rechten Pfeiler vorbeizuquetschen. Das müsste gerade passen, auch ohne, dass ich vorher das Gepäck ablade. Soll ich? Sicher, es ist verboten, aber ich habe keine Ahnung, wie ich sonst über diesen blöden Fluss kommen soll. Ich weiß ja nicht mal, wie der heißt.
Vorsichtig quetsche ich mich durch die Straßensperre, wobei der Becher außen an meiner Tasche klangvoll gegen den Brückenpfeiler schlägt.
Ich bin nicht die Einzige, die sich über das Verbot hinwegsetzt: Zwei Mütter schieben ihre Kinderwagen über die Brücke und sehen einigermaßen erstaunt aus, als ihnen ein Motorrad entgegenkommt, aber ich grüße freundlich und fahre im zweiten Gang langsam weiter.
Das andere Ende der Brücke ist offen, es gibt kein weiteres Hindernis. Allein zwei gelbe Türme, die wie mittelalterliche Wehrtürme aussehen, bewachen die Zufahrt zur Brücke. Unbehelligt fahre ich auf der anderen Seite des Flusses weiter.
Auf derselben Website erfahre ich auch, weshalb die Brücke gesperrt ist und dass es einen großen Umweg für die Menschen bedeutet, die zur Arbeit, oder zur Schule nach Tczecw hinein wollen. Die nächste Brücke über die Weichsel liegt 6 km südlich. Wie gut, dass ich diese interessante alte Brücke auf meiner Reise gesehen habe.
Die nächsten 20 km sind entsetzlich langweilig zu fahren und erinnern an Schleswig-Holstein, nur dass hier mehr Bäume stehen, ein paar flache Hügel und dass die Straßen noch etwas schlechter sind als zuhause. Ansonsten Felder, Wiesen, Äcker und Kühe. Ich bin in Pommern.
In der Ferne taucht Malbork auf, zu Deutsch Marienburg und genau die möchte ich mir heute ansehen. Die Einfallstraße nach Malbork ist gut ausgebaut und am Ortseingang steht ein Tesco 24/7 Supermarkt, eine prima Gelegenheit zum Einkaufen.
Mit dem Einkaufskorb schlendere ich durch die breiten Gänge und sammele mir ein Abendessen zusammen. Entrecote gibt es nicht, dafür nehme ich ein großes Paket dicker Bauernbratwürste, dazu Zwiebeln und Pilze.
Es ist ein warmer, sonniger Tag kurz nach Mittag, als ich den Einkauf verstaue. Der Bratwurst sollte es nichts ausmachen, bis heute Abend im Tankrucksack zu schmoren, denn soweit ich weiß, können Wurstwaren gar nicht schlecht werden. Im Gegensatz übrigens zu Gemüse, dass sehr schnell welk wird.
Stop and Go fahre ich im dichten Verkehr nach Malbork hinein. Die Sonne brennt vom Himmel und ich schwitze in meiner Motorradjacke fröhlich vor mich hin. Endlich geht es von der Hauptstraße hinunter auf die Straße, die am Fluss, der Nogat, entlangführt.
Am gegenüberliegenden Flussufer taucht die gewaltige Marienburg auf. Bereits bei der Planung der Reise habe ich mir endlos Gedanken darüber gemacht, wo ich das Motorrad abstellen soll, während ich die Burg besichtige.
Normalerweise lasse ich die Enduro mit dem Gepäck einfach stehen und gehe davon, aber hier gibt es so viele bewachte Parkplätze, dass allein ihre Existenz und Anzahl mir das Gefühl vermitteln, es sei notwendig, sie zu benutzen.
Misstrauisch sehe ich mich um, bevor ich 15 PLN zahlen, immerhin fast 4 EUR, was angesichts des Preisniveaus in Polen eine ungeheuere Summe für zwei Stunden Parken ist. Auf der anderen Seite ist es eine kleine Summe für eine erst vier Jahre alte Kawasaki, eine komplette Campingausrüstung und ein Pfund Bratwurst.
Wenn ich den Deutschen Orden richtig begriffen habe, dann war das damals eine Mischung aus Mönchen und Kreuzrittern. Entweder waren sie sehr brutale Priester mit Schwertern, oder besonders fromme Ritter, so ganz habe ich das nie verstanden.
Auf jeden Fall sind sie Nachfahren der Kreuzritter und haben ihren Hauptsitz heute in Wien. Allerdings wird inzwischen nicht mehr gekämpft, sondern nur noch gebetet und geholfen, obwohl ich das Gefühl habe, dass ihre alten Tugenden heute nützlicher wären.
Neugierig schaue ich in den Kessel hinein, aus dem leichter Dampf aufsteigt. Darin köchelt es geheimnisvoll. Das ist ja Sauerkraut. Nun esse ich normalerweise kein Obst, aber das hier duftet verführerisch, vermutlich weil jede Menge Speck darunter gemischt ist.
Ich gehe auf das bunte Zelt zu und trete ein. Meine Augen brauchen einen Moment, um sich auf das Dämmerlicht im Zelt umzustellen, aber dann sehe ich sie: Eine überdimensional große gusseiserne Pfanne, in der die leckersten Köstlichkeiten schmoren, die dieser Planet zu bieten hat.
Darin schmort Bigos, wie ich es draußen im Topf gesehen habe, zusammen mit Schweinshaxen und Rouladen. Dann gibt es Bratkartoffeln mit Wurst und Speck, daneben dunkelrote Krakauer Würste und Schaschliks der berüchtigten 500 g Klasse.
Glücklich trage ich den Teller an eine der Gartenbänke, wo schon zahlreiche andere Touristen beim Essen sitzen. Deutlich höre ich Amerikaner, Franzosen und Sachsen heraus. Besonders Sachsen...
Nach dem deftigen Essen schlendere ich schwerfällig im Strom der anderen Touristen an der Burg entlang. Die Burg ist gute 700 Jahre alt, aber viele der Ziegelmauern sehen neuer aus, als die Ziegel des Hauses, in dem ich wohne.
Auf einer Hinweistafel im Burghof erfahre ich, dass die Marienburg im Zweiten Weltkrieg zu großen Teilen zerstört und danach vom polnischen Staat wiederaufgebaut wurde. Das erklärt, weshalb viele Mauern so neu erscheinen: Sie sind es.
Der Kauf dieser fünf Briefmarken ist ein Erlebnis für sich. Wer nie mit Beamten aus einem ehemals sozialistischen Staat zu tun hatte, der weiß nicht, was ihm entgeht.
Ich sehe mir noch Teile der Burg an, aber die Anlage ist so riesig, dass ich bald die Lust verliere. Bei diesem herrlichen Wetter möchte ich weiterfahren, früh mein Zelt aufbauen und noch einen schönen Nachmittag auf dem Campingplatz verbringen.
Das Motorrad steht so, wie ich es verlassen habe und auch mein Helm und die Handschuhe hängen noch am Lenker. Im dichten Verkehr fahre ich aus Malbork hinaus, biege kurz darauf von der Hauptstrecke ab und bin wieder ganz alleine unterwegs.
Einige Kilometer weiter überquere ich die Grenze zur Woiwodschaft Ermland-Masuren, von der Masuren ein Teil ist. Übrigens habe ich keinen Hinweis darauf gefunden, weshalb im Deutschen gerne von Die Masuren gesprochen wird, wenn der Landstrich gemeint ist.
In Jankowo biege ich von der 530 ab und gelange auf eine mit Feldsteinen gepflasterte Straße, die sich malerisch zwischen Feldern und Wiesen hindurchschlängelt. Auf einer Kuppe bleibe ich stehen und genieße die Aussicht auf den Weg, der auf meiner Landkarte nicht verzeichnet ist.
Kurz darauf erreiche ich den Campingplatz. Camp Dywity liegt auf einer Halbinsel in einer Schleife der Łyna, zu Deutsch Alle, einem 264 km langen Fluss im ehemaligen Ostpreußen.
Die Zufahrt ist mit einem Gittertor versperrt und weit und breit ist kein Mensch zu sehen. OPEN steht auf einem Schild am Tor. Ratlos stehe ich davor. Erst nach einer Weile werde ich auf das Symbol daneben aufmerksam, das eine Glocke zeigt. Ein Pfeil zeigt auf eine Klingel, die in die Mauer daneben eingelassen ist. Ich drücke auf den Knopf und warte.
Kurz darauf komme ich an ein zweites, massiveres Tor, das mit stählernen Spitzen bewehrt ist. Campingplätze sind in Polen besser bewacht als Truppenübungsplätze. Haben die Angst, dass die Camper aus-, oder dass Fremde einbrechen?
Während ich noch überlege, kommt ein junger Mann auf mich zu und öffnet den Schalter der Rezeption. Er ist weder besonders freundlich noch unfreundlich, spricht gut deutsch und als ich bezahlt habe, öffnet er das zweite Gittertor. Ich bin in Camp Dywity angekommen.
Ich lächele gütig und sage irgendwas Beruhigendes, wie man das so tut, wenn man keinen Streit will, aber innerlich koche ich. Solche Köter nerven total, aber wenn man sie kaputt macht, sind die Besitzer sauer und es gibt jedesmal einen Riesenterz.
Das Waschhaus ist ein großer alter Backsteinbau, aber die Einbauten und der Pflegezustand sind Premium. Es ist nicht zu glauben, wie gut die Polen ihre Anlagen in Ordnung halten. Ich wasche mir die Spuren der Reise ab und gehe zurück zum Zelt. Köter kläfft, Svenja lächelt. Wenn du wüsstest, denke ich.
Die Berliner holen den Hund zu sich in den Wohnwagen und von da an ist Ruhe. Danke, Jungs. Nun wird es Zeit, den Abendbrottisch zu decken. Ich habe das Zelt neben einen knorrigen alten Picknicktisch gestellt und fange an, die Küche aufzubauen: Den Kocher, die Pfanne, Teller, Besteck, eine kleine Flasche Rotwein, das Tagebuch und mein Kindle.
Während ich auf das Essen warte, trinke ich ein Bier und nasche getrocknete Tomaten mit Mozzarella. Die Bratwürste sehen fertig aus, jedenfalls sind sie von beiden Seite schön dunkel. Ich lege zwei auf den Teller und häufe Zwiebeln und Champignons darüber. Die Würste schmecken ganz gut, aber die wahren Stars sind die gebratenen Pilze mit den Zwiebeln dazu.
Morgen sehe ich mir die Festung Boyen an und zelte abends in Nikolaiken, dem Venedig Masurens. Unter beidem kann ich mir noch nicht viel vorstellen, aber morgen um diese Zeit werde ich schlauer sein...
zum nächsten Tag...
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Das war ein toller Tag und der Besuch der Marienburg war klasse. Dort bin ich vielleicht nicht zum letzten Mal gewesen, ich komm wieder, keine Frage.