Kloster Wigry
Zwölf Stunden Schlaf. Unglaublich, dieser Körper hat ein Wartungsverhältnis wie ein Hubschrauber: Auf jede Flugstunde kommt eine Stunde Wartung. Mit schlechtem Gewissen eile ich zum Waschhaus, tue was nötig ist und breche dann mein Lager ab.
Bald darauf biege ich bereits auf die Straße nach Nikolaiken ein. An der Ecke Warszawska fällt mein Blick auf den Parkplatz des Hotels Mazury Stanica. Vier Männer sind gerade dabei, ihre Enduros abzuladen, richtige Geländemaschinen, keine Mehrzylinder.Ein schwarzer Mercedes SUV und ein Audi A6 stehen mit Hängern auf dem Parkplatz. Ich hupe und winke, aber es gibt keine Möglichkeit zu ihnen hinzufahren. Der Hotelparkplatz ist mit einem Zaun und einer massiven Schranke gesichert. Nur die Treppe hinunter zum Hafen führt direkt daran vorbei.
Mit großem Hallo werde ich begrüßt und die Jungs freuen sich ebenso wie ich über die Begegnung. Zwei von ihnen können Englisch, einer kann zumindest freundlich gucken und der Vierte schaut so grimmig drein, das es einen gewissen Unterhaltungswert hat.
Ich erfahre, dass die Männer aus Warschau kommen und sich jeden Herbst hier in Nikolaiken zum Endurowandern treffen. Dann wohnen sie im Mazury Stanica und heizen tagsüber durch die masurischen Wälder.
Der Älteste lädt mich spontan ein, mich ihnen anzuschließen und mitzufahren. Ich fühle mich geschmeichelt, aber ich lehne ab. Greenys milde Bereifung und das Urlaubsgepäck kann ich nur mit einer guten Portion Wahnsinn wettmachen und dazu bin ich allmählich zu alt und vor allem zu weit weg von zu Hause.
"But you are capable", erwidert der Älteste und zeigt auf die Treppen.
"That are just Stairs."
"Just Stairs", lacht er anerkennend und ich fühle mich gleich ein paar Jahre jünger.
Wir unterhalten uns über das Endurowandern und niemand spricht von Höchstgeschwindigkeit, PS und fehlendem Windschutz, entscheidend ist nur, dass man seine Karre beherrscht. In diesem Moment fühle ich mich so wohl, so verstanden und für einen Moment bin ich versucht, mit den Jungs durch die Wälder Masurens zu heizen, aber nein, ich fahre doch lieber allein, dann bin ich am besten.
Ich erfahre, dass sie in Richtung Goldap fahren wollen, in eine verlassene Gegend nahe der russischen Grenze. Genau dorthin will ich in zwei Tagen auch fahren. Es gibt dort dieses irre Eisenbahnviadukt kurz vor der russischen Grenze und über das will ich unbedingt mit der Enduro fahren.
"It can't be done!" Die Männer wissen sofort, welches Vidadukt ich meine: "There is a Gate and it is guarded. You have to pay 8 Zl at the Gate only to walk over the Bridge. It is not possible with a Motorbike."
Ich bin enttäuscht, denn genau das war mein Plan, da mit Greeny rüberzufahren. Ich sollte meine Reiseroute ändern, denn nur wegen der Eisenbahnbrücke wollte ich überhaupt bis in jenen hintersten Winkel Masurens reisen und jetzt hat das seinen Sinn verloren.
Nein, denke ich: Geht nicht ist erst, wenn ich sage, geht nicht. Wenn es irgendwie technisch möglich ist, dann werde ich da rüberfahren, und wenn ich den Typen an der Schranke bestechen muss, damit er mich durchlässt.
Ich verabschiede mich von den Männern aus Warschau und wir wünschen uns gegenseitg eine gute Reise. Heute habe ich eine Menge getan für den Ruf der deutschen Frau in Polen, denke ich zufrieden, während ich den Motor der Enduro starte.
Als ich über das Kopfsteinpflaster nach Nikolaiken hineinfahre, erwacht der Ort gerade erst. Aus einem deutschen Reisebus am Hafen strömen gerade viele ältere Menschen und der Reiseführer ist emsig bemüht, seine Schäfchen zum richtigen Ausflugsdampfer zu lotsen.
Ich verlasse Nikolaiken und biege kurz darauf in einen Sandweg ab. Schnurgerade führt er durch den Wald und die Sonne wirft fröhliche Lichter in die Schatten unter dem dichten Laubdach.
Ich unterhalte mich ein wenig mit einem Ehepaar aus Bayern, die mit Elektrofahrrädern auf Tour sind, und wir sind uns einig darüber, wie wunderschön diese Gegend ist. Ich bitte die ältere Dame, ein Foto von mir zu schießen, bevor ich den Helm wieder aufsetze und den Motor starte.
Ukta wirkt ganz so, als sei es aus der Zeit gefallen, als habe man einfach nicht daran gedacht, mit in die neue Zeit zu gehen und sei einfach dort stehengeblieben, wo man seit jeher gestanden hat und wie es bisher immer richtig gewesen ist.
( Dr. Theophil Flügge, letzter Pfarrer vor Kriegsende in Alt Ukta, in seinem Büchlein "Jesus in Alt Ukta" aus dem Jahre 1948)
So mag ich mir das Ostpreußen vorstellen, das Siegfried Lenz in So zärtlich war Suleyken beschreibt.Ich parke vor einem Sklep und gehe hinein, um mir ein frisches Brötchen zu kaufen, denn polnische Wurst habe ich noch im Tankrucksack.
Den kalten, süßen Kaffee trinke ich auf dem Parkplatz vor dem Sklep. Auf dieser Reise ist mir noch keine einzige Mücke begegnet, aber die Wespen sind hyperaktiv und ich muss mein Frühstück gegen ihre aggressive Überzahl verteidigen.
In Ełk, einer Stadt im historischen Ostpreußen etwa 150 Km von Königsberg, tanke ich voll und ziehe mir einen Kakao aus dem Automaten in der Tankstelle. Ełk hat fast 60.000 Einwohner und der Verkehr fließt vierspurig und schnell durch die Innenstadt.
Auf dem Weg aus der Stadt hinaus komme ich an einer Kirche vorbei, die auf ungewöhnliche Weise eingerüstet ist. Ich fahre auf den Bürgersteig und über den Radweg langsam zurück zu der Kirche. Auf den ersten Blick habe ich sie für ein altes Gemäuer gehalten, das gerade renoviert wird, aber damit liege ich falsch.
Unsere DIN 4420 würde Pickel kriegen, wenn sie das sehen könnte, aber für mich sieht das Gerüst professionell und standfest aus. Polnische Handwerker können sowas.
Ich halte mich nicht lange auf und fahre weiter. Heute fehlt mir die Ruhe zum Besichtigen, zu sehr lockt mich mein Tagesziel, die Halbinsel am Kloster Wigry, wo ich heute zelten möchte.
Von Ełk sind es kaum 50 km bis nach Augustow, das seinerseits nur noch 40 km von der Grenze nach Belarus, nach Weißrussland entfernt liegt.
Gedankenverloren fahre ich unter den Alleebäumen der Landstraße entlang und genieße den Ausblick. Ja, das ist das alte Ostpreußen, von dem meine Oma manchmal erzählt hat und ich wundere mich, dass sie es so selten tat. Opa hat nie einen Ton über früher verloren, dabei hatte ich ständig das Gefühl, er ist nie im Westen angekommen.
Schließlich erreiche ich Augustów und sofort beansprucht das Fahren wieder meine ganze Aufmerksamkeit, denn der Verkehr ist dicht in der kleinen Stadt im östlichen Zipfel Polens. Genau genommen liegt Masuren jetzt schon wieder im Westen.
Von Augustów hatte ich mir mehr versprochen. Der Trubel in dem Ort hat nichts Geruhsames und hübsch ist es hier auch nicht. Wie schaffen es die Polen nur, jede Werbetafel wie die Reklame für einen Puff aussehen zu lassen?
Dezent und stilvoll sind nicht die Adjektive, die mir in Verbindung mit Polen als erste einfallen. Dennoch will ich mir noch den Kanał Augustowski ansehen bevor ich weiterfahre, denn ich stehe auf Kanäle, Brücken und Tunnel.
Ich lasse das Motorrad stehen und wandere ein wenig durch den Ort, aber heute fällt es mir schwer, ein gutes Foto zu machen und ich fahre weiter.
Die letzten 20 km zum Campingplatz führen durch den Wigry Nationalpark. Tiefe, dunkle Wälder, die völlig legal zu befahren sind. Keine Schranken und keine Verbotsschilder von irgendwelchen Baumstreichlern, aber es macht mir trotzdem Spaß, hier lang zu heizen.
Schließlich lichtet sich der Wald und in der Ferne ragen majestätisch die Türme einer Basilika in den Himmel. Das muss Kloster Wigry sein, da will ich zelten.
Genau solch einen Campingplatz habe ich mir ausgesucht. Camping U Haliny liegt am Ende der Sackgasse, die zum Kloster führt. Ein großes, dunkles Holzhaus, in dem auch Zimmer vermietet werden, und eine hübsche, sehr gepflegte Zeltwiese am Fuß der Klostermauer.
Ich stelle das Motorrad auf der Wiese ab und gehe zu Fuß das letzte Stück hinauf zum Haus. Als ich durch die Gartenpforte eintrete, stehe ich mitten in einem kleinen Biergarten, der mit viel Liebe sorgfältig hergerichtet ist. Urig rustikale Tische und Bänke, ein Pavillon, ein Grill und reich bepflanzte Blumenbeete.
An dem Tisch, der neben dem Eingang zur Küche steht, sitzen zwei Frauen, unverkennbar Mutter und Tochter. Die Ältere kommt auf mich zu und begrüßt mich. Sie hat ein rundes, offenes Gesicht mit einem hübschen Lächeln und spricht einige Brocken Deutsch.
Das Gras der Zeltwiese ist perfekt gepflegt. Die halten ihren Laden wirklich in Ordnung die Polen. Der Mann besorgt das Handwerkliche, mäht die Wiese, beschneidet Bäume, erledigt Klempnerarbeiten im Waschhaus, die Frau versorgt die Gäste, kocht und hält die Zimmer in Ordnung und die Tochter kellnert im Biergarten.
Auch Pieps interessiert sich für das Kloster, allerdings nur solange, bis sie erfährt, dass der liebe Gott nicht persönlich dort wohnt. Sofort wenden wir uns wieder weltlichen Themen zu: Es wird Zeit fürs Abendessen. Ich schnappe das Moleskine, Pieps und ein wenig Geld und stiefele hinauf in den Biergarten.
Frau Halina, die Mutter des Hauses, nickt mir freundlich zu, als ich mich an einen Tisch in der Nähe der Küche setze. Ich bestelle ein Glas Weißwein und schaue mich um. Dieser Platz ist wirklich ein Glücksgriff und ich kann mich kaum sattsehen an dem Blick aufs Kloster.
Die Tochter des Hauses, ein junges Mädchen von höchstens 18 Jahren, bringt einen Pokal mit Wein. Sie ist ebenso hübsch, wie sie schüchtern ist und tippt in jeder freien Sekunde auf ihrem kleinen weißen Smartphone herum. Da sind wohl alle Mädchen gleich, einerlei ob sie in Deutschland, Norwegen oder Polen leben.
Noch habe ich den Garten ganz für mich allein, aber allmählich treffen auch andere Gäste ein. Am Nebentisch nimmt ein schwedisches Ehepaar Platz, das eines der Gästezimmer bewohnt. Wir sprechen ein wenig miteinander und fragen uns, ob es eine Art Speisekarte gibt, oder ob man einfach das isst, was heute gerade gekocht wird.
Ich bestelle noch einen Wein und frage nach der Menu Card. Tatsächlich gibt es ein Blatt in mehreren Sprachen, auf dem neben verschiedene Kleinigkeiten auch das Menü des Tages aufgeführt ist: Soup of the Day and Schnitzel. Danke, das nehmen wir.
Das Menü des Tages entpuppt sich als ein umfangreiches Menü mit Vorspeise, Hauptgericht, Nachspeise, Getränk und Aperitif. Zuerst gibt es Borschtsch, eine Rote Beete Suppe, von der ich schon oft gelesen, die ich aber noch nie probiert habe. Sie schmeckt angenehm frisch und wird als Vorsuppe akzeptiert, auch wenn sie kein Fleisch enthält.
Zum Entzücken von Pieps gehört auch ein Stück Kuchen zum Menü und es ist nicht leicht, einer gewissen Maus den Sinn des Wortes Nachspeise zu erklären, aber da kommt bereits das Hauptgericht: Ein großes, paniertes Schnitzel, eine kleine Schale gebratener Kartoffelscheiben und ein Teller mit Salat.
Pieps und ich vertilgen alles restlos und machen uns zum Schluss über den Kuchen her, ein Streuselkuchen mit Frucht. Zum Abschluss gibt es einen Aperticz(?), einen selbstgebrannten Schnaps. Ein tolles Essen war das, hier im Biergarten am Fuß der Klostermauer. Mit 30 Złoty das teuerste Gericht der Karte, umgerechnet etwa 7,20 EUR.
Ich sitze noch eine Weile im Biergarten, aber als die Sonne untergeht, wird es sofort kühl und die Feuchtigkeit steigt vom See hoch auf die Wiese. Pieps und ich verabschieden uns und verschwinden in unser Zelt, um noch ein wenig zu lesen.
Ich bin gerade an einer besonders spanennden Stelle, als ich aufhorche. Was ist das? Aus dem Kloster ist Gesang zu hören. Ich schlage den Zelteingang zurück und schaue hinüber.
zum nächsten Tag...
zurück nach oben
Kloster Wigry ist ein wahres Premiumziel im nordöstlichen Zipfel Polens. Für Biker gibt es prima Zeltwiesen, günstige Gästezimmer für die Klapphelme und auch mit dem Wohnmobil wird man hier einen erstklassigen Stellplatz finden.