Nordkap
Die Sonne scheint strahlend hell ins Zelt und ich werde wach, weil mir heiß ist. Viel zu warm ist es in dem dicken Daunenschlafsack. Ich sehe auf die Uhr, meine Güte habe ich gut geschlafen, mehr als neun Stunden ohne Unterbrechung.
Ich schlüpfe in die Motorradstiefel, schließe die Klettverschlüsse, schnappe mein Waschzeug und gehe über die Wiese hinüber ins Waschhaus.
Die Waschplätze liegen nebeneinander über einer Ablaufrinne aus Blech. Basic Arctic Facilities, denke ich, wie so oft nördlich des Polarkreises, allerdings sind sie makellos sauber und gut gepflegt.
Eine Dame steht an der Rinne vor einem der Spiegel, ich schätze sie auf Mitte sechzig. "Morning," sage ich, weil man nie weiß, welche Nationalität man vor sich hat. Norweger, Finnen, Deutsche, Holländer, Belgier, Franzosen, Schweden, Italiener, Schweizer und Engländer habe ich bislang gesehen, oder zumindest an ihren Autokennzeichen erkannt.
"Sind Sie die Dame aus Kiel mit dem Motorrad?"
"Ja, die bin ich. Und wo kommen Sie her?"
Während sie sich die Haare macht und ich mir die Zähne putze, unterhalten wir uns im typischen Urlauber Small Talk, den ich so schätze. Ein wenig sprechen, scherzen über Belangloses und dann seiner Wege gehen, ohne sich jemals wiederzusehen. Dennoch erinnere ich mich oft noch jahrelang an die Menschen, die ich einmal getroffen habe.
Es ist ein herrlicher Morgen, kalt und sonnig, das Thermometer zeigt 7° C und zum ersten Mal seit langem ist das Zelt wieder knochentrocken, als ich es zusammenlege und in seinen Beutel stopfe. Zwei der leichten Alu Erdnägel habe ich in dem harten Tundraboden verbogen, aber darum kümmere ich mich heute Abend, die lassen sich wieder gerade biegen.
Langsam und in absoluter Premiumlaune fahre ich nach Hammerfest hinein und stelle das Motorrad vor einem Supermarkt auf dem Gehsteig ab. Wenn ich jetzt schon meine Einkäufe erledige, dann habe ich den ganzen Tag etwas, worauf ich mich freuen kann. Über die Frische brauche ich mir keine Sorgen zu machen, denn im Kühlschrank zu Hause sind dieselben sieben Grad, wie in Hammerfest im Juni.
Mein Appetit ist mit jedem Tag größer geworden und ich muss aufpassen, dass ich nicht maßlos werde. Jeden Abend ein Pfund Fleisch und eine Tafel Schokolade. Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, dicker zu werden. Vermutlich liegt das an dem veränderten Erdmagnetismus hier oben, denke ich und kaufe Koteletts, Rindfleisch, eine Tafel Schokolade, ein Paket Kräuterbutter, zwei Brötchen, ein Baguette mit Käse und Schinken und zwei heiße Frikadellen dazu.
Mein Frühstück nehme ich auf dem Gehsteig vorm Supermarkt ein. Ich mag das, ich stehe neben meinem Motorrad, mampfe eine heiße Frikadelle aus der Tüte und beobachte die Menschen, die gerade erst ihren Tag beginnen und geschäftig ihrer Wege gehen.
Jetzt trage ich unter der Endurojacke drei Lagen Thermo, eine Fließjacke und einen dünnen Windbreaker. Die langatmige Hinleitung dient nur zur Erklärung, warum ich auf den Fotos immer so dick aussehe.
Die Strecke auf der E69 in Richtung Nordkap macht unglaublich viel Spaß, denn sie verläuft direkt an der Küstenlinie entlang. Man darf neunzig fahren und ich lasse das Motorrad mit hundert dahinfliegen, durch langgestreckte Kurven, viele Tunnel und übers Fjell.
Es geht sofort steil hinunter in den Berg, um auf dem kurzen Stück die nötige Tiefe zu erreichen. 212 Meter tief führt der Nordkaptunnel hinüber zur Insel Magerøya, bevor es mit zehn Prozent Steigung zurück ans Tageslicht geht.
125 Kilometer hinter Skaidi erreiche ich Honningsvåg, das sich seit Jahren mit Hammerfest um den Titel Nördlichste Stadt der Welt streitet. Tatsächlich liegt der Ort nördlicher als Hammerfest, aber er ist keine Stadt, denn dafür braucht es 5000 Mann und Honningsvåg hat nur knapp halb so viele Einwohner. Nördlicher ja, Stadt nein.
Schon von weitem sehe ich das große weiße Kreuzfahrtschiff, das auf der anderen Seite der Bucht in Honningsvåg vor Anker liegt und in seinem Schatten eines der typischen Hurtigruten Schiffe.
Das Nordkap zieht Biker aus ganz Europa magisch an, aber warum sind Motorradfahrer bloß so ängstlich, dass sich die meisten nur in Gruppen in die Welt hinaustrauen und auch nur mit tausend Kubik, innenbeleuchteten Koffern und GPS gesteuerter Sitzheizung?
Das, wovor die Gruppe schützen soll, wird nicht eintreten und vor dem, was wirklich passieren kann, bietet eine Gruppe keinen Schutz, ebenso wenig wie das teuerste Zubehör aus dem Katalog von Touratech.
Während ich im dritten Gang langsam durch den Ort rolle, bin ich mit den Gedanken schon ganz woanders. Hier in Honningsvåg möchte ich ein ganz besonderes Bild machen. Ich weiß, dass an einer Lagerhalle auf dem Hurtigrutenkai ein Schild hängt mit einem Hinweis zum Nordpol und davon hätte ich gerne ein Foto, auf dem auch Greeny drauf ist.
Die Zufahrt zum Kai ist wie immer verboten und heute ist es schwieriger als sonst, sich darüber hinweg zu setzen, denn die Passagiere der Schiffe strömen pausenlos durch das Gittertor, das den Kai vom Hafengelände trennt. Dennoch, ich muss dieses Foto machen, deshalb bin ich hier.
Vorsichtig schlängele ich mich zwischen Gabelstaplern und LKW hindurch, an allerlei Paletten und Ladegut vorbei und halte genau unter dem gesuchten Schild, nur wenige Meter von der Ladeluke der MS Trollfjord entfernt.
Glücklich darüber, mein Foto gemacht zu haben, steige ich wieder aufs Motorrad und verlasse den Kai, wie ich gekommen bin. 200 Meter weiter halte ich auf einem Parkstreifen und gehe zu Fuß hinüber zur berühmten Eisbar.
Gut zweitausend Passagiere dürften ein Schiff dieser Größe an Bord haben und ich schätze, dass die meisten davon auf Landgang sind. Dazu kommen die Passagiere des Postschiffs, die auch im Ort unterwegs sind. An der Eisbar ist es so voll, dass ich auf einen Besuch verzichte, nur einen Schnappschuss mache und zurück zum Motorrad gehe.
Ich fahre bis zur Shell Tankstelle, wo ich noch einmal volltanke und mich mit einem großen Becher Kaffee gründlich aufwärme, bevor ich zur letzten Etappe zum Nordkap starte.
Die Strecke ist wirklich sagenhaft und gibt auf den letzten 30 Kilometern noch einmal alles. Mich erfasst so eine Euphorie, so ein Hochgefühl, dass jeder Zweifel am Ziel meiner Reise verflogen ist. Jetzt will ich nur noch dorthin, ans Kap.
Natürlich wissen die genau, dass man jetzt nicht mehr umkehrt, wenn man schon soweit gefahren ist, denke ich, als ich der Dame an der Kasse meine VISA-Karte reiche. Sekunden später geht der Schlagbaum nach oben und ich fahre durch.
Ich setze mich auf einen Barhocker und bestellte einen Americano. Der Kaffee wird in einem hohen Glas serviert und ist so gut, dass ich den Preis verzeihe und ein wenig verblüfft bin. Es muss unglaublich viel Energie kosten, diese riesige Halle mit ihren gläsernen Wänden zu beheizen und ich genieße jede Kalorie davon. Vom Heizen verstehen sie was hier oben.
Nordkapp-Camping ist ein riesiges Gelände und eindeutig auf Wohnmobile und Hüttengäste ausgerichtet, Zeltcamper rufen eher Verwunderung hervor und die kleine Zeltwiese ist eine Enttäuschung. Der Platz ist voller Ködel und so zerfucht von Rentierhufen, dass ich Mühe habe, eine ebene Stelle für mein Zelt zu finden.
Heute werde ich meine Küche nicht im Gras aufbauen, sondern meinen ganzen Kram hinüber in den großen Aufenthaltsraum tragen, wo es eine Küche, Tische und Stühle gibt. Ich lege meine Sachen auf einem der großen Tische ab, nehme eine Bratpfanne aus dem Regal und stelle den Herd an.
Bis jetzt hatte ich den Raum ganz für mich allein, aber nun kommt ein Pärchen hinein, junge Leute, keine dreißig Jahre alt. Er schlank, sie ein paar Pfund mehr und beide top gestylt auf Outdoor in ihren makellos sauberen Markenklamotten.
Die Else schaut ungehalten zu mir herüber und fragt in zickigem Ton, ob ich was dagegen hätte, wenn sie ein Fenster öffnet. "Aber nein," knurre ich zurück und drehe den Herd eine Stufe höher, während ich zufrieden die Rauchentwicklung beobachte.
Fassungslos sehe ich zu, wie sie eine Handvoll grüner Krümel aus einer Tüte in einen Topf schüttet und daraus eine Art Suppe anrührt, wobei die Hauptzutat Wasser ist. Begeistert löffeln die Beiden kurz darauf den grünen Blubberlutsch in sich hinein. Baumstreichler, denke ich kopfschüttelnd, man erkennt sie sogar, wenn sie keinen Blasentee trinken.
Zufrieden mampfe ich mein leckeres Abendessen in mich hinein und schaue durchs Fenster hinaus, wo gerade ein epischer Wolkenbruch niedergeht.
Das war wirklich ein 1A Premium Reisetag, aber jetzt ist es Zeit, in die Heia zu gehen. Ich werde noch ein wenig lesen und mich um die Tafel Schokolade und das Bier kümmern.
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Das Nordkap war viel interessanter, als ich es mir vorgestellt hatte. Es ist eine unwirtliche Gegend, aber ich hatte großes Glück mit dem Wetter.