Nach Schweden
Ganz allmählich dringt das Rauschen der Wellen in mein Bewusstsein und sogar mit geschlossenen Lidern spüre ich den Sonnenschein. Zarte Tippelschritte über mir und als ich die Augen öffne, sitzt ein kleiner Vogel auf dem Zelt. Scharf zeichnet sich sein Schatten auf dem dünnen Stoff ab.
Ich strecke mich und werde langsam richtig wach. Der Schlafsack liegt zerknüllt am Fußende, bei Temperaturen über zehn Grad ist er sogar als Decke zu warm, aber am Norkap war ich froh, ihn zu haben.Das Außenzelt ist innen nass vom Kondenswasser, durch die neuen Snow Flaps, die Claudie ans Zelt genäht hat, wird der Effekt noch etwas verstärkt, aber das macht nichts. Dafür sind die Seiten jetzt gegen Regen, Wind und Schnee geschützt. Wenn ich an das schreckliche Wetter in Nordirland zurückdenke, dann tausche ich das bisschen Kondenswasser gerne gegen die sintflutartigen Regenfälle am Giant's Causeway.
Als alles sicher verstaut ist und ich den Motor der Kawasaki warmlaufen lasse, zeigt die Uhr im Cockpit 8:45 Uhr. Die Rezeption sollte seit acht Uhr geöffnet sein, so dass ich jetzt bezahlen kann.
Degersand Camping ist ein wunderschöner Platz, aber ich ahne, dass er in der Hauptsaison völlig überlaufen ist. Heute ist der achtzehnte Juni und am nächsten Wochenende ist Midsommer, dann beginnt die Saison. Genau deshalb starte ich gerne Ende Mai, dann bin ich verschwunden, bevor die Mücken und die Menschen kommen.
Ganz langsam fahre ich den Sandweg entlang bis zur Rezeption, aber die Tür ist noch immer verschlossen und niemand ist zu sehen. Ich stecke die Codekarte für die Waschräume zurück in den Umschlag und verabschiede mich stumm. Es ist niemand da, bei dem ich bezahlen könnte.
Es sind nur sieben Kilometer bis zur Fähre nach Schweden, aber schon als ich auf den großen Parkplatz am Anleger fahre, ahne ich, dass etwas nicht stimmt, kein einziger Wagen steht in den sechs Wartespuren.
Ich parke Greeny vor dem Büro der Reederei und trete ein. Ein großer, klimatisierter Wartesaal, der mehr an ein Flugterminal, als an ein Schifffahrtsbüro erinnert. Fünf junge Frauen sitzen wie Bankangestellte hinter Glas und langweilen sich sichtlich. Zwei trinken Kaffee und die anderen schwatzen miteinander.
Die Fähre nach Schweden ist gerade weg und die nächste geht erst wieder mittags. Die große Uhr in der Schalterhalle zeigt genau neun Uhr. Ich kaufe ein Ticket für die Überfahrt und gehe zurück zum Motorrad. Diesmal bin ich nicht traurig über die Wartezeit, denn in Eckerö bin ich an einem Café vorbeigefahren und bei diesem Wetter habe ich richtig Lust, draußen zu sitzen und zu frühstücken.
Keine zwei Tassen gleichen sich. Da sind große und kleine Becher, mit und ohne Muster, ein schlichter weißer und ein lilaner mit weißen Punkten. In Deutschland wäre das ungewöhnlich, weil jeder Kaffee einzeln kostet und man den größten Becher wählen würde, aber hier kostet der Kaffee einmalig zwei Euro, unbegrenzte Refills inbegriffen.
Als ich mir den dritten Becher einschenke, suche ich mir auch etwas zu Essen aus. Ich studiere in Ruhe die Auslage und entscheide mich schließlich für ein großes Sandwich mit Käse und Salami.
"Är Flickan färdiga?", fragt ein Handwerker in Latzhosen, der hinter mir steht. Ich hatte ihn gar nicht bemerkt und drehe mich zu ihm um: "Yes, I'm ready", grinse ich ihn freundlich an, weil ich vermute, dass er wissen wollte, ob das Mädchen, Flicka, fertig sei. Obwohl ich mir nach dem Misserfolg mit dem Wiener Schnitzel nicht mehr so sicher sein kann.
Als ich schließlich für einen letzten Refill noch einmal ins Café gehe, wird gerade ein frischer Schokoladenkuchen in die Vitrine gestellt, der so aromatisch nach Kakao duftet, dass Pieps ganz aus dem Häuschen ist und ich ein Stück für uns kaufe.
Es macht so einen Spaß, draußen in der Sonne zu sitzen, zu frühstücken und Urlaub zu haben. Greeny steht neben mir am Zaun und das ganze Bild erinnert an einen Western, wo die Pferde vorm Saloon angebunden sind.
Wie ich es liebe, mit dem Motorrad auf Reisen zu sein und jeden Tag woanders kleine Abenteuer zu erleben und wenn es nur ein Stück Schokokuchen ist und ein Vogel, der morgens auf dem Zelt sitzt.
Allmählich möchte ich weiterfahren, denn da ist noch etwas, das ich mir anschauen will, bevor ich die Ålands verlasse. In Eckerö steht ein altes Zollhaus von 1828, ein majestätisches Gebäude im Empirestil. Es liegt nur einen Kilometer vom Café entfernt. Ich stelle das Motorrad an der Straße ab und gehe durch einen Torbogen in den Innenhof des Gebäudes.
Der Innenhof liegt verlassen und durch den Hintereingang gelange ich über eine steile Holztreppe in eine Kunstausstellung. Große Säle, hohe Decken, zeitgenössische Kunst und ein Aufpasser, vermutlich ein Student, der gelangweilt von seinem iPhone aufsieht, als ich auf die knarrenden Holzdielen trete.
Von dort sind es nur noch achthundert Meter bis zur Fähre, nichts auf den Åland Inseln ist weit entfernt, obwohl es trotzdem lange dauern kann, bis man es erreicht, je nach dem, wieviele Fähren dazwischen liegen.
Die Wartespuren am Hafen sind noch immer verlassen und weil ich mein Ticket schon in der Tasche habe, stelle ich mich mit dem Motorrad ganz nach vorne vor den Abfertigungsschalter. Von dem strahlenden Sonnenschein ist nichts mehr zu sehen und dunkle Gewitterwolken ziehen von Schweden her übers Meer heran.
Ich schere aus der Warteschlange aus und stelle mich unter eine schmale Fußgängerbrücke, die gerade breit genug ist, um Schutz vor dem Regen zu bieten. Während ich mich freue, dass ich nicht nass geworden bin, kommt der Typ von gestern auf seiner Fireblade angerauscht.
Er trägt eine dieser coolen Tarnhosen im Streetfighter Look und eine Lederjacke, beides ist total durchnässt, als er neben mir unter der Brücke hält und den Motor abstellt. Kein Blickkontakt, kein Gruß, kein Zeichen des Erkennens, wir ignorieren uns beide nach besten Kräften. Er nimmt den Helm ab, hängt ihn über den Spiegel und stößt beim Absteigen mit dem Fuß dagegen. Krachend ditscht der teure Helm auf den Asphalt und rollt hinaus in den Regen. Das sind solche Momente...
Zwei Stunden dauert die Überfahrt von Eckerö auf den Åland Inseln bis nach Grisslehamn in Schweden und ich bin verblüfft, welch ein Aufwand für solch eine kurze Überfahrt getrieben wird.
Es gibt mehrere Restaurants und Buffets, ein Café, Spielsalons, eine Bierkneipe und auch einen Duty Free Shop an Bord. Jeder scheint bemüht, während der kurzen Überfahrt so viel zu erleben, zu essen, zu trinken, einzukaufen und zu verspielen, wie es ihm nur möglich ist.
Auf den Decks herrscht ein Kommen und Gehen, ein Durcheinander und Gewimmel von Menschen jeden Alters. Schweden wollen unterhalten werden, etwas erleben, verzehren, konsumieren. Die wollen nicht ruhig im Sessel sitzen und aufs Wasser glotzen, wie Pieps und ich es so gerne tun.
An einem Zeitschriftenstand fällt mein Blick auf die Titelseite des Aftonbladet, auf dem ein heißer Sommer und Temperaturen um dreißig Grad bis Midsommer vorhergesagt werden.
"Ladies and Gentleman. We will arrive Grisslehamn in approximately ten Minutes. All Car Passengers please proceed to the Car Deck now.", weckt mich die Lautsprecherdurchsage des Kapitäns.
Ich greife mir Pieps und mein Tagebuch und gehe noch immer leicht verschlafen über die große Haupttreppe hinunter zum Fahrzeugdeck. Diesmal habe ich mir genau eingeprägt, wo Greeny steht.
Als ich in Grisslehamn vom Schiff hinunterfahre, hat sich das Wetter erneut geändert, Schweden begrüßt mich sonnig und warm. Welch ein schöner Tag das ist. Nein, heute möchte ich nicht so weit fahren, wie ich es geplant hatte, sondern werde mir vorher einen Campingplatz suchen und lieber einen schönen Nachmittag und Abend am Zelt verbringen, als endlos auf dem Motorrad zu sitzen.
Die nächste große Stadt auf der Karte heißt Uppsala. Ein witziger Name, woher kenne ich den bloß? In diesem Moment fällt mir der alte Schlager wieder ein, oh no! Jetzt kann ich den Rest des Tages mit diesem blöden Ohrwurm durch die Gegend fahren, Ein Student aus Uppsala-la-la-la la-la-la-la-la la-la-la-la-la. Meine Güte, das nervt.
In Uppsala tanke ich das Motorrad voll und gehe danach in einen ICA Supermarkt zum Einkaufen. Ich kann mein Glück kaum fassen, als ich in der Kühlabteilung vor einem Regal stehe, das ausschließlich für Steak und Entrecote reserviert ist. Hat sich da endlich ein neuer Trend aufgetan? Ich staune eine Weile, bevor ich die beiden Entrecotes mit den schönsten Fettaugen in meinen Korb lege.
Auf dem Weg zur Kasse greife ich noch eine Dose Carlsberg und einen griechischen Joghurt mit Pfirsich. Laktosefrei, steht auf dem Becher, keine Ahnung, was das sein soll, aber das Foto auf der Packung sieht lecker aus. Hauptsache, das ist nicht wieder so ein Biokram, der nachher nicht schmeckt.
In dieser Gegend Schwedens gibt es nur wenige Campingplätze und als ich meine Einkäufe im Tankrucksack verstaut habe, rufe ich Claudia an, ob sie einen für mich suchen kann. Es dauert nur ein paar Minuten, in denen ich im Sonnenschein auf dem Parkplatz warte, bis Claudia zurückruft und mir einen Platz an einem See in der Nähe von Sala empfiehlt. Das sind nur noch sechzig Kilometer. Es ist wirklich klasse, eine Homebase zu haben, wenn man mit dem Motorrad auf Reisen ist, danke Claudie!
Als ich die Enduro an der Rezeption des Silvköparens Camps abstelle, ist es ein herrlicher Sommertag und viel zu warm für die dicken Motorradsachen. Ich ziehe die Jacke aus, lege sie über den Lenker und gehe hinein zur Anmeldung.
Das Camp hat einen dieser neuen Buchungscomputer, die mit der Kasse verbunden sind. Die Frau tippt etwas auf der Tastatur, zögert, klickt mit der Maus, schimpft auf schwedisch vor sich hin und wirkt zunehmend ratlos. Gerade als es droht, peinlich zu werden, macht sich Erleichterung auf ihrem Gesicht breit: "150 kronas, please."
"Mastercard, please", erwidere ich und lege die Kreditkarte auf den Tresen.
Sie schlägt buchstäblich die Hände über dem Kopf zusammen und macht sich verbissen wieder an die Buchung, klicken, tippen, Ratlosigkeit. Inzwischen hat Pieps die Eistruhe entdeckt und ich lege für sie noch ein Magnum Eis neben die Mastercard auf den Tresen. Die Frau sieht mich verzweifelt an, scannt den Strichcode, klickt, tippt und lässt mich selbst einen Blick auf den Bildschirm werfen, dort stehen jetzt 8,7 Mio. Kronen zu Buche.
Allmählich merke ich, dass die Frau gar nicht unfreundlich oder sauer, sondern nur peinlich berührt ist, dass sie mit dem Computer nicht zurecht kommt und ich tröste sie ein wenig. Es ist schließlich nicht ihre Schuld, wenn sie schlecht eingewiesen wurde. Sie ist so dankbar, dass sie das Magnum Eis wieder ausbucht und es mir als kleine Entschädigung für die Wartezeit schenkt.
Silvköparens Camping liegt an einem See mit den typischen Schären und ist angelegt wie ein Park mit Bäumen, Sträuchern und Grünflächen. Eine große Wiese am Ufer ist nur für Zeltcamper reserviert und wie so oft auf dieser Reise, habe ich sie ganz für mich allein.
Als das Lager steht, spanne ich die Wäscheleine zum Motorrad, hänge den Schlafsack und das Handtuch zum Lüften in die Sonne und mache mich mit Pieps zu einer Platzrunde auf.
Es ist windstill und warm, so dass ich mit der gesamten Camperküche nach draußen ziehe. Ich zerre die Therm-a-Rest aus dem Zelt und stelle den Tankrucksack als Tisch daneben. Pieps schaut interessiert zu, wie ich die großen Steaks in die Pfanne lege.
Es war eine gute Idee, nicht so weit zu fahren, sondern lieber einen schönen Nachmittag im Camp zu verbringen. Das ist auch ein Vorteil des Alleinreisens, Jungs wollen gerne den ganzen Tag fahren und nur zum Schlafen anhalten, aber für mich ist der späte Nachmittag am Zelt wichtig, ich möchte lesen, vielleicht ein wenig schlummern, fotografieren und dann in Ruhe essen.
Schließlich schlafen Pieps und ich nicht deshalb im Zelt, weil wir uns keine Hütte leisten können, sondern weil wir es lieben, das Lagerleben in unserem mobilen Ferienhaus aus dem Beutel: "Näh, Pieps...?!"
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Heute habe ich mich erinnert, weshalb ich immer so gerne nach Schweden gefahren bin. Bei gutem Wetter entsteht diese typisch schwedische Pippi Langstrumpf Sommerstimmung.