Am Inarisee
Wie ich es hasse, bei diesem Wetter aufstehen zu müssen. Regenschauer prasseln aufs Zelt und Windböen rütteln an meinem Camp. Unwillkürlich rutsche ich noch ein wenig tiefer in den warmen Schlafsack hinein.
Intensiv denke ich an die SHELL in Honningsvåg und versuche mir den Kaffeeautomaten vorzustellen, der auf dem Tresen an der Kasse steht. Ziemlich schwaches Karma gegen das Mistwetter da draußen, denke ich, aber es hilft nichts und außerdem muss ich aufs Klo.
Eine halbe Stunde später ist alles verstaut und ich sitze in voller Regenmontur auf dem Motorrad. Ich mag diesen Moment, wenn endlich der Motor läuft und ich durch das beschlagene Visier in die nasse Welt hinaus schaue.
Nach drei Kilometern halte ich unter dem Dach der Tankstelle, fülle drei Liter Blyfri 95 in den Tank und gehe hinein, um mein Versprechen auf Kaffee einzulösen.
Für ein paar Kronen miete ich mich in den Automaten ein und nehme aus einem Korb daneben ein frisches Schokocroissant. Pieps will lieber Marzipan, aber das haben sie nicht. Welch ein Drama!
Während ich an einem Stehtisch den heißen Kaffee trinke, denke ich daran, wie anders solch eine Begegnung in England verlaufen würde. Der Regen wäre derselbe, aber der Typ an der Kasse hätte sofort den typischen Small Talk begonnen, der die Briten so sympathisch macht, "Where are you from?", und nach kurzer Zeit hätte sich ein nettes Gespräch ergeben.
Norweger sind anders. Sie nehmen wenig bis keine Notiz von anderen Menschen, sind eher kühl und erscheinen dadurch abweisend. Vermutlich könnte ich auf einem blutigen Holzbein in die Tanke humpeln und der Kassierer würde meine VISA-Karte mit derselben ausdruckslosen Miene durch den Kartenleser ziehen, wie heute auch.
Es ist Zeit aufzubrechen. Der Regen ist inzwischen zu feinem Niesel geworden, der das Visier beschlagen lässt, sowie ich es herunterklappe. Die nächste Etappe meiner Reise habe ich besonders sorgfältig geplant, denn es geht in die Finnmark, die bevölkerungsärmste Gegend Norwegens, wo weniger als zwei Menschen pro Quadratkilometer leben und Tankstellen rar sind.
Frühestens alle hundert Kilometer gibt es wieder Benzin, kein Problem also, wenn diese Tankstelle in Betrieb ist und auch funktioniert. Mit ihrem siebeneinhalb Liter Tank hat Greeny eine Reichweite von etwa zweihundertzwanzig Kilometern und zusätzlich habe ich einen anderthalb Liter Reservekanister dabei, den ich noch nie gebraucht habe, der im Extremfall aber fünfzig Kilometer weniger Schieben bedeutet.
An einer besonders trostlosen Stelle werde ich langsamer und rolle von der Straße hinunter auf einen Schotterplatz. Während ich den Motor laufen lasse, gehe ich ein paar Schritte in die Landschaft hinein und lasse die grandiose Einsamkeit auf mich wirken.
Der Parkplatz in Olderfjord ist nicht staubig, aber in Bezug auf Verlassenheit und eine gewisse Armseligkeit, nimmt das Roadhouse es mit jedem Hollywoodstreifen auf. Ich tanke voll und gehe in den Laden, um zu bezahlen.
Die linke Seite steht voller Regale mit Lebensmitteln und Krimskrams aller Art, während an der Fensterseite ein halbes Dutzend abgewetzter Tische steht. Auf einem liegt eine Tageszeitung und Reklame.
Ich schenke mir einen Becher Kaffee aus der Pumpkanne ein und nehme eines der belegten Brote, die unter einer Glashaube liegen. Voller Appetit beiße ich hinein und bin überrascht. Was ich für deftiges Brot gehalten habe, ist ein süßer Kuchenteig, dick belegt mit Schinken und braunem Käse, der leicht nach Karamell schmeckt. Eine Energiebombe, aber die ungewohnte Mischung schmeckt mir nicht und ich habe Mühe, alles aufzuessen.
Während ich esse, frage ich den Kassierer, wie weit es noch bis Inari ist. Etwa hundertzwanzig Kilometer, erfahre ich, und dass es dort einen sehr guten Campingplatz gibt.
Bevor ich weiterfahre, ziehe ich die Regenkombi aus und verstaue auch die Thermohandschuhe hinter mir im Gepäck. Das Wetter bessert sich mit jedem Kilometer, den ich näher an die finnische Grenze komme und strahlender Sonnenschein löst das trübe Wetter ab.
Ich stoppe am Staßenrand, mache ein paar Fotos und werfe einen Blick auf die Landkarte. Die Zöllner nehmen keinerlei Notiz von mir, nichts kann ihre Kreise stören. Ich ziehe die Kupplung, lege den Gang ein und fahre langsam weiter, nach Finnland hinein.
Mir ist dabei überhaupt nicht langweilig, zumal die hügelige Strecke für genügend Abwechslung sorgt. Es geht durch eine liebliche Auenlandschaft mit Flüssen und Seen, wo dichte Wälder bis an sandige Ufer reichen.
Dreihundertsechsundsiebzig Kilometer hinter Honningsvåg erreiche ich Inari, die einzige Stadt Finnlands außer Helsinki, deren Namen ich schon vor meiner Reise kannte. Bekannt ist der Ort durch den Inarisee, der über tausend Quadratkilometer groß ist und bis in den Juni hinein zugefroren sein kann.
Mir fallen ein paar junge Frauen auf, die zu Fuß im Ort unterwegs sind. Sie sehen exotisch aus und erinnern mich an Indianerinnen. Aus dem Reiseführer weiß ich, dass Inari als Hauptstadt der finnischen Sami gelten kann, weil hier ihr Parlament seinen Sitz hat, das Sameting.
Im Zentrum gibt es einen großen Parkplatz mit einem Supermarkt und einer Tankstelle, auf der anderen Straßenseite eine Ladenzeile, die ein wenig abgewohnt aussieht. Ich stelle die Enduro ab, lasse Helm und Handschuhe am Lenker und gehe in den Laden.
Die Konservendosen erinnern an Ostblockware und auch wenn ich über den Inhalt nichts sagen kann, so sprechen die Fotos auf den Etiketten Bände. Finnisch ist eine schwierige Sprache und außer den Mengenangaben verstehe ich kein Wort, das ich lese.
Das Angebot der Fleischabteilung ist ernüchternd. Es liegt abgepackt im Kühlregal und sieht unappetitlich aus. Der Großteil sind Bratwürste, aber auch die sehen wenig verlockend aus, geringer Fleischanteil und dicke Plastikhaut.
Nein, ich muss etwas anderes finden, etwas das ich mag, oder zumindest gut fotografiert ist. In den Kühltruhen entdecke ich Fischstäbchen, die gibt es wohl überall und die mag ich. Damit kann man nicht viel falsch machen, obwohl diese so billig sind, dass es erschütternd ist.
Schließlich fällt mein Blick auf einen winzigen Wärmetresen, den ich beinahe übersehen hätte und der ein sehr überschaubares Angebot hat. Ein zu lange warm gehaltenes Kotelett, ein Dutzend gegrillter Hühnerbeine und dann in der Mitte prunkvoll ein Schweinebraten mit Kruste, saftig, fett und unwiderstehlich schön.
"That one, please", sage ich zu der Verkäuferin am Tresen und zeige auf den Schweinebraten.
Sie piekt mit einer langen Fleischgabel hinein, nimmt ihn hoch und deutet mit der Hand auf die Hälfte.
"No, no, I want all. The whole one, please." Sie sieht mich einen Moment lang verunsichert an und steckt dann aber doch den ganzen Braten in eine Isoliertüte.
Auf dem Weg zur Kasse sammele ich noch ein Laugenbrötchen, einen Schokoriegel und zwei Dosen Carlsberg ein. 12,89 Euro zeigt das Leuchtdisplay der Kasse, als alle Artikel über den Scanner gegangen sind, denn Finnland ist Euroland.
"It's our Money", bin ich voller Stolz versucht zu sagen, aber ich spare mir den Kommentar, weil man nie weiß, wie die Empfindlichkeiten sind. Vielleicht ist es ihnen peinlich, dass sie eine deutsche Währung haben.
Der Einkauf passt noch leicht zu Pieps in den Tankrucksack und sowie alles verstaut ist, tuckere ich langsam los in Richtung Campingplatz. Kurz hinter Inari zweigt ein Sandweg nach links ab, der hinunter zum See führt. Uruniemi Camping steht über dem hölzernen Portal.
Ich bezahle fünfzehn Euro und darf mir einen Platz aussuchen. Das Camp liegt direkt am Ufer des Sees und ist sehr hübsch gestaltet. Bäume und Hecken bilden natürliche Nischen, die nur für Zelte reserviert sind. Solch eine liebevolle Hinwendung zu Zeltcampern habe ich selten erlebt und sie begeistert mich.
Das Motorrad lasse ich an der Rezeption stehen und erkunde den Platz zu Fuß. Außer einigen Anglern sind nicht viele Menschen zu sehen. Ich wandere den Sandweg hinunter zum See, wo ich einen wunderschönen Platz unter Birken finde. Hier werde ich mein Zelt aufstellen.
Der Braten ist so saftig, zart und knusprig, dass ich fast vergesse, mein Bier zu trinken. Ein wundervolles 1A Premiumessen. Nur das Laugenbrötchen schmeckt so eklig, dass ich es nach einem Bissen wegwerfe. Was ich für Salz gehalten habe, sind in Wahrheit Zuckerkristalle. Was ist das nur mit den Nordländern und ihrer Vorliebe für Zucker?
Die letzten beiden Wochen waren anstrengend, die langen Fahrten, die Kälte, der Regen, der Wind, aber ich merke, wie das alles von mir abfällt.
Auf dem Weg zum Waschhaus komme ich an einer Harley mit Schweizer Kennzeichen vorbei, die vor einer Hütte parkt. Plötzlich öffnet sich die Tür und eine junge Frau kommt heraus. Sie ist etwa dreißig und fast so groß, wie ich selbst.
"Bist du ganz allein unterwegs?", fragt sie im typischen Singsang der Schweizer, der so sympathisch klingt.
"Ja klar", lache ich sie an, "Mädchen können sowas!", denn ich kann sehen, dass sie ebenfalls allein unterwegs ist.
Wir gehen gemeinsam zur Rezeption, um uns ein paar Bier zu holen. Im Kühlschrank steht Lapin Kulta, ein finnisches Bier, das in Kiel nur in den angesagtesten Bars zu haben ist und immer als etwas ganz Besonderes gilt. Hier ist es die billigste Sorte, das Oettinger Finnlands. Na warte, da werde ich etwas zu berichten haben, wenn ich das nächste Mal im Birdy ein exklusives Lapin Kulta bestelle. Hmpff...
Während wir mit unseren Bierflaschen hinunter zum See gehen, beginnt es zu regnen und kurz darauf gießt es in Strömen. Wir suchen Schutz unter dem Vordach einer Hütte und setzen uns auf eine Holzbank.
"Und was machst du so, wenn du nicht mit deiner Harley unterwegs bist?", frage ich neugierig.
"Ich bin bei der Polizei."
"Ich auch", erwidere ich verblüfft und wir sehen uns einen Moment lang ungläubig an. Zwei Polizistinnen, allein unterwegs mit ihren Motorrädern zum Nordkap. Alexandra fährt dieselbe Strecke wie ich, nur in entgegengesetzter Richtung und noch zweitausend Kilometer weiter, weil sie aus der Schweiz angereist ist, natürlich ohne Autozug, stilecht auf zwei Rädern. Wie ich erfahre, ist sie bei der Motorradstaffel in Zürich.
Wie immer, wenn sich Polizisten unterhalten, einerlei woher sie kommen, sind wir bald bei den typischen Themen. Die Probleme, die sich durch Zuwanderung ergeben, sind wohl überall dieselben. Was die Politik versäumt, baden wir am unteren Ende der Nahrungskette aus. Trotzdem merke ich, dass sie den Beruf genauso liebt wie ich.
Inzwischen hat es sich eingeregnet und die finnischen Mosquitos kommen zum Vorschein. Alexandra kann sich kaum retten vor den Stichen, während sie mich in Ruhe lassen. Offensichtlich bewährt sich das Mückenmittel, mit dem ich mich eingesprüht habe. Wir sind beide ziemlich erledigt von der langen Reise, dem Wetter und dem finnischen Bier und verabschieden uns. Vielleicht sehen wir uns morgen noch.
Nur jetzt ist mir etwas kalt und ich rubbele meine nassen Haare mit dem Handtuch trocken, bevor ich mich in den Schlafsack lege. Morgen fahre ich tiefer nach Finnland hinein und ich bin gespannt, ob ich auch so viele Rentiere sehe, wie Alexandra gestern.
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Der Tag fing so scheußlich an und hat sich dann noch toll entwickelt. Finnland scheint wirklich klasse zu sein.