Der Aursjøvegen
Ein ohrenbetäubender Lärm reißt mich aus dem Tiefschlaf und ich liege einen Moment lang starr vor Schreck im Schlafsack. Meine Güte, was war das denn?!
Ich würde so gerne weiterschlafen, denn es regnet ohne Pause und ich bin nicht gerade heiß darauf, jetzt das Zelt abzubauen, aber auf der E39 setzt schon der Berufsverkehr ein und an Schlaf ist nicht mehr zu denken.
"Showtime, Babe!", motiviere ich mich ohne echte Überzeugung, wie ich das immer tue, wenn es einen inneren Schweinehund zu überwinden gilt. Energisch ziehe ich den Schlafsack auf und registriere mit Bedauern das Entweichen der Bettwärme ins feuchtkalte Zelt.
Gedankenverloren schlendere ich zwischen den Regalen hindurch und versuche mir vorzustellen, worauf ich heute abend wohl Appetit haben werde. Hmm, vielleicht mal was mit Fleisch?
Ich entscheide mich für Sommerkoteletter. Die haben sich schon einmal bewährt und günstig sind die Dinger außerdem. Dazu einen kleinen Schokoriegel, eine Flasche Olden Eple, Wasser mit Apfelgeschmack, und eine Dose Clausthaler, alkoholfreies Bier.
Der Laden hat sogar eine Cafeteria und ich nutze die Chance, mit einem großen Becher Kaffee in den Tag zu kommen, denn bis jetzt war das nicht gerade ein Traumstart in den Morgen. Ich setze mich an einen Tisch und schreibe das Erlebnis mit dem Flugzeug in mein Tagebuch. Notiz: Unbedingt ermitteln, welcher Flug das heute morgen war!
Auf dem Parkplatz verstaue ich zuerst mein Essen im Tankrucksack und ziehe dann die Regenkombi wieder an. Während ich mich in die Kombi winde, zerzaust der Wind meine feuchten Haare und so nervig es auch ist, bin ich doch froh, den Plastikanzug dabei zu haben.
Der Aursjøvegen ist eine alte Baustraße, die 1947 für die Errichtung des Damms am Aursjøen gebaut wurde. Heute ist sie eine sagenhafte Bergstrecke, die ideal für Enduros und Geländewagen geeignet ist. Irgendwo oben am Staudamm möchte ich mein Zelt aufschlagen, das heißt, falls der Weg überhaupt schon geräumt und freigegeben ist.
Während das Baguette im heißen Ofen liegt und der Käse darauf langsam zerläuft, frage ich die Bedienung über den Aursjøvegen aus. Ich möchte wissen, wo ich den Einstieg finde und wie lang die Strecke ist, denn darüber habe ich ganz unterschiedliche Angaben gelesen.
Auf Englisch erklärt die Dame mir, dass die Strecke aus zwei Teilen besteht, der Anfahrt bis zur Mautstation und dem eigentlichen Weg.
"That's six or seven and eight", sagt sie und ich bin ein wenig entäuscht, denn ich hatte mir den Weg viel länger als nur 15 km vorgestellt. Zugleich bin ich aber auch ein kleines bisschen erleichtert, dass die Herausforderung viel kleiner ist, als ich gedacht hatte.
Unglücklicherweise hatte ich zuvor nie von einer Maßeinheit gehört, die sich Skandinavische Meile nennt. Eine Entfernungsangabe, die in Norwegen und Schweden zur Beschreibung längerer Autofahrten benutzt wird und recht gebräuchlich ist. So gebräuchlich jedenfalls, dass die freundliche Bedienung keine Veranlassung sah, mich auf diesen Umstand hinzuweisen. Eine Skandinavische Meile sind übrigens 10 km, aber das kann ich jetzt noch nicht wissen.
Von einem Block reißt sie eine Kartenseite ab und zeichnet den Streckenverlauf hinein. Diese Kartenblöcke liegen an vielen Tankstellen bereit und zeigen das jeweilige Fylke (Provinz). Eine gute und kostenlose Orientierungshilfe für Blindschleichen wie mich.
Vollgestopft mit bestem Tankstellenessen und wasserdicht verpackt in meine Regenkombi, biege ich von der Hauptstraße ab und halte auf die Berge zu. Die ersten Kilometer führt die Straße am Fjord entlang durch viele kleine und zwei lange Tunnel. Die Gegend wird immer einsamer.
Ich lege den ersten Gang ein, fahre unter dem offenen Schlagbaum hindurch und gebe Gas. Voller Zuversicht heize ich die steile Schotterpiste hinauf und bewundere die mächtige Staubwolke im Rückspiegel.
Schon nach dem ersten Kilometer wird die Piste steiler. Ich schalte zurück und halte die Maschine bei hoher Drehzahl im zweiten Gang. Der Untergrund besteht aus Schotter und bereitet der Enduro keine Schwierigkeiten. Serpentine um Serpentine schraubt sich der Aursjøvegen den Berg hinauf, während der Einzylinder fröhlich in die Bergwelt bollert.
Hinter einer Linkskurve verschwindet die Piste plötzlich in einer Höhle, die grob aus dem Felsen gehauen und ohne jede Beleuchtung in den stockfinsteren Berg hineinführt.
Die schwarzen Wände schlucken das Scheinwerferlicht der Enduro und meine Augen sind noch ganz auf Sonnenschein eingestellt, so dass ich auf den ersten Metern kaum etwas erkennen kann. Es ist spannend, sich mit dem Motorrad ganz allein durch die Dunkelheit zu tasten.
Vorsichtig fahre ich tiefer in die Finsternis hinein. Der Untergrund ist jetzt sehr uneben und nicht mehr Schotter, sondern gestampfter Erdboden. Plötzlich fällt der Lichtkegel auf die Höhlenwand und ich bemerke mit Staunen, dass der Tunnel im Berg eine Schleife macht und sich nach oben schraubt.
Nach 800 Metern komme ich wieder ans Tageslicht und muss sofort den ersten Schneefelder und Geröll auf der Piste ausweichen. Eine Schleife im Tunnel, sowas habe ich wirklich noch nie gehört.
Ein Stück weiter oben halte ich an und schaue zurück. Die Straße durchs Tal, auf der ich bis zur Mautstation am Fluss entlang gefahren bin, ist gut zu erkennen. Über den Bergen türmen sich dunkle Wolken auf und ich sehe misstrauisch nach oben, aber noch hält das Wetter. Trotzdem sollte ich jetzt keine Zeit verlieren. Ich verstaue die Kamera und fahre weiter.
Inzwischen habe ich die Baumgrenze überschritten, die hier schon bei 750 m liegt, während in den Alpen noch bis 1.800 m Bäume wachsen können. An der höchsten Stelle halte ich noch einmal an. In Stein gemeißelt steht die Inschrift 947 m. Kalt und windig ist es und ich lasse den Motor laufen, während ich die Aussicht bestaune.
Einige Kilometer danach komme ich an einen Sandweg, der tiefer in die Landschaft hinein führt. Ich bleibe einen Moment lang stehen, überlege und entschließe mich, ihm zu folgen. Der Weg endet in einem Schneefeld und ich bin klug genug, nicht hineinzufahren.
Das habe ich zuletzt mit meiner KTM am Rallarvegen versucht, mit besseren Reifen und deutlich mehr Power und bin trotzdem kläglich gescheitert. Üblicherweise fräst man sich gerade tief genug in den Schnee hinein, bis man die Kiste alleine kaum noch bergen kann.
Ausgerechnet jetzt fallen die ersten Regentropfen, aber wenn ich mich beeile, schaffe ich es vielleicht noch, das Zelt aufzubauen, bevor es richtig losgeht. Ich renne zurück zum Motorrad, das mit laufendem Motor oben auf dem Hügel steht und fahre langsam hinunter zu meinem Lagerplatz.
Bevor ich das Groundsheet ausbreite, sammele ich sorgfältig Steine und Geröll vom Boden. Es weht ein böiger Wind und ich muss jedes Stück Zelt sofort mit einem Hering sichern, sonst fliegt es davon. Die Alustifte gehen nur schwer in den steinigen Boden und zwei davon verbiege ich, als ich sie mit einem Felsbrocken einschlage.
Eilig werfe ich den Tankrucksack, die rote Tasche und den Helm ins Zelt, aber bevor ich hinterher krabbeln darf, muss ich noch die Kette fetten. Zuerst kommen die Pferde…
Während ich vorneüber gebeugt das Fett auf die Kette träufele, regnet es die ganze Zeit über zart auf meinen Rücken und gerade als ich fertig bin, werden die Tropfen größer und es fängt heftig an zu schauern. In Windeseile verschwinde ich im Zelt und ziehe den Reißverschluss hinter mir zu.
Ich rolle die Therm-a-Rest aus und schraube das Ventil auf. Die Matte füllt sich von alleine, aber mit ein paar Atemstößen geht es schneller und im Nu ist mein Bett fertig, jetzt fehlt nur noch der Schlafsack. Er fühlt sich zuerst ein bisschen klamm an, aber das ist eher die Kälte, denn feucht ist er nicht.
Ich breite den dicken Daunenschlafsack auf der Isomatte aus und lege mich für einen Moment hin. Welch eine himmlische Ruhe hier oben ist. Der Wind rüttelt am Zelt und ich höre das Gurgeln des Bachs, der zwei oder drei Meter tiefer vorbeifließt. Augenblicke später sind Pieps und ich fest eingeschlafen.
In kleinen Sprüngen hüpfe ich von Bulte zu Bulte über die sumpfige Wiese. Heute abend würde ich gerne ein Lagerfeuer machen, aber nachdem ich die Umgebung in jeder Richtung erkundet und dabei kein einziges Stück Holz gefunden habe, begrabe ich den Plan und wandere zurück zum Zelt, um das Abendessen zu braten.
Die Küche baue ich in der Apsis auf, weil es draußen zu ungemütlich ist zum Kochen. Wie gut, dass ich die dünne Windjacke mitgenommen habe. Als letzte Schicht über der Fleecejacke und der Merinowäsche hält sie die Wärme prima am Körper.
Ich setze mich auf den Schlafsack, zünde den Kocher und nehme die Flasche mit dem Bratfett, aber ich schaffe es nicht, auch nur einen einzigen Tropfen herauszubekommen. Das Fett ist so hart, dass es sich nicht mal mit Gewalt aus der Flasche quetschen lässt.
Die Koteletts sehen richtig klasse aus und sind so groß, dass sie nicht mal gemeinsam in die Pfanne passen. Gut für mich, denn ich habe einen Mörderhunger und lebe in ständiger Angst, nicht satt zu werden. Vermutlich bin ich noch im Wachstum...
Sommerkoteletts schmecken wie Bacon auf Kassler, sehr intensiv, sehr lecker und sehr, sehr salzig. In mehreren tiefen Zügen trinke ich die Wasserflasche leer. Mehr habe ich nicht. An alles habe ich gedacht, nur nicht an genügend Trinkwasser.
Natürlich weiß ich, dass die Bäche in Norwegen Trinkwasser führen, aber ein leiser Zweifel bleibt trotzdem, denn wir alle haben gelernt, nicht aus Flüssen und Bächen zu trinken, doch nach einer Weile wird der Durst stärker als die Zweifel und ich gehe mit der leeren Flasche hinunter zum Bach. Nur mal probieren, vielleicht kann man es ja wirklich trinken und falls es doof schmeckt, spucke ich es sofort wieder aus.
Das Wasser sieht ganz klar aus. Ich schraube den Deckel ab, halte die kleine Plastikflasche in die Strömung und beobachte, wie das Wasser hineinläuft.
Zögerlich trinke ich den ersten Schluck. Das Wasser ist eiskalt, kristallklar und völlig geschmacklos. Gierig trinke ich die Flasche auf einen Zug halbleer und fülle sie erneut. Das Trinkwasserproblem ist damit gelöst, aber viel mehr Sorgen macht mir die Versorgung mit Schokoriegeln, denn davon habe ich nur einen mit.
Das war heute eine der schönsten Strecken, die ich jemals gefahren bin und ganz sicher der spannendste Platz, auf dem ich je mein Zelt aufgeschlagen habe.
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Das war wirklich ein 1a Premiumtag. Die Fahrt über den Aursjøvegen und der einsame Zeltplatz waren mit die schönsten Erlebnisse aller meiner Reisen.