Efraims Tochter
Es sind fast dreißig Grad im Zelt, als ich am Morgen wach werde und ich verschwende keine Sekunde, mich anzuziehen und ins Waschhaus zu gehen. So ein schöner Tag, da will ich früh mit dem Motorrad unterwegs sein.
Ohne Bedauern verlasse ich den Campingplatz in Kokkola. Sicher ein guter Platz mit allem Komfort und Karaoke, aber mir sind die ursprünglichen und rustikalen Plätze lieber, so wie das tolle Vildmarks Camp bei Urshult in Schweden.Finnland ist Cruiserland, das wird mir mit jedem Kilometer bewusst, den ich durch die endlosen Wälder dahingleite und zufrieden meinen Gedanken nachhänge. Die Landschaft bietet keinerlei Abwechslung, aber sie ist überall gleichermaßen schön und deshalb stört mich die Monotonie nicht.
Erstaunlich, wie selbst eine 250er Enduro zum gemütlichen Cruisen geeignet ist und mit dem tollen Airhawk Kissen halte ich es auf der schmalen Sitzbank stundenlang aus, ohne dass der Dubs zu sehr weh tut.
Ich verstehe nicht, wie manche Leute sich morgens schon so vollstopfen können. Ganz Dame, nehme ich nur Kaffee und eine Apfeltasche. Und eine Pizza. Mein Tablett trage ich zwischen den besetzten Tischen hindurch nach draußen und lasse mich auf dem Platz neben Greeny nieder. Auf der Terrasse sind fast alle Plätze frei, was aber kein Wunder ist, denn professionelle Bratenfresser entfernen sich niemals weit von ihrer Beute.
Heute ist Sonntag und als ich weiterfahre, halte ich Ausschau nach einem Supermarkt, der geöffnet ist. So sehr ich zuhause gegen die Sonntagsöffnung bin, so sehr genieße ich diesen Service auf Reisen im Ausland, denn sonst müsste ich am Samstag Vorräte für zwei Tage einkaufen.
In Vaasa fahre ich an einem S-Market vorbei. Auf den ersten Blick sieht er geschlossen aus, der Parkplatz ist verlassen und niemand zu sehen, der einen Einkaufswagen vor sich her schiebt, aber die Öffnungszeiten stehen groß an der Wand und die dritte Spalte könnte Sonntag meinen. Tatsächlich kommt in diesem Moment jemand aus dem Laden. Yippieh, es gibt gutes Essen heute abend, jedenfalls hoffe ich das.
Ich parke Greeny neben dem Fahrradständer und genieße das Gefühl, einmal das größte Bike am Platz zu haben, bevor ich in den Laden gehe. Am Eingang schnappe ich mir einen der blauen Einkaufskörbe und gehe zielstrebig nach hinten durch in die Fleischabteilung.
Durch Vaasa gibt es eine verrückte Baustellenumleitung, aber mit meinem Piraten Navi, dem Kompass, den Claudie mir auf den Ärmel meiner Endurojacke genäht hat, finde ich schließlich den Weg nach Süden aus der Stadt hinaus und düse weiter auf der Küstenstraße.
Wie in jeder finnischen Tanke zuvor, sitzen auch hier kleine Gruppen von Männern in Sportklamotten, langweilen sich und starren. Finnische Menschen gucken nicht verstohlen, sie starren. In Deutschland wäre es jetzt an der Zeit, hinüber zu gehen und "Guckst du?!" zu sagen, aber hier bin ich fremd und weiß nicht, wie man sich korrekt verhält, wenn man einen Streit vom Zaun brechen will.
Den letzten Bissen kauend nehme ich mein Tablett und verabschiede mich mit einem Nicken zum Nebentisch. Die Drei nicken freundlich zurück und sagen etwas, das ich nicht verstehe. Ich schiebe das Tablett in den Geschirrwagen und gehe hinaus zu meinem Motorrad. Es regnet noch immer, aber das macht nichts. Ich bin so satt und zufrieden, dass ich Lust habe, die nächsten Stunden in meiner Regenkombi zu sitzen und die Kilometer auf der Landstraße abzureiten.
Ein paar Kilometer hinter Sepänkylä springt der Kilometerzähler der Enduro auf 24.814 km, jetzt bin ich genau fünftausend Kilometer gefahren, seit ich vor achtzehn Tagen in Kiel gestartet bin.
Kurz vor Rauma schüttet es so sehr, dass ich den Aufprall der Tropfen durch die Regenkombi und die Endurojacke spüren kann. Meine Güte, sind finnische Wolken gehaltvoller, als unsere? Mit 96 km/h ziehe ich stur meine Bahn in Richtung Süden und bin nur froh, dass Aquaplaning für Motorräder noch nicht erfunden wurde. Ein roter Toyota Hilux, der mir entgegen kommt, wedelt so hektisch mit den Wischern, dass es fast komisch wirkt.
In diesem Moment spüre ich einen Wassereinbruch im Unterdeck. Vermutlich habe ich den Klett überm Reißverschluss nicht sorgfältig genug geschlossen und jetzt läuft irgendwo Wasser rein. Nach einer Weile ist der Keller nass, aber das ist jetzt nicht zu ändern. Darum kümmere ich mich heute Abend.
In Rauma fahre ich von der E8 herunter und biege auf die 176 ein. Über Google Satellit hatte Claudia mir einen besonders abgelegenen Campingplatz in dieser Gegend ausgesucht und ich habe einige Mühe, den Weg zu finden. Die 176 windet sich schmal durch die Wälder und gerade als ich glaube, mich total verfahren zu haben, taucht ein Schild auf und zeigt den Weg zum Camp.
In diesem Moment bricht strahlend hell die Sonne durch die Wolken. Es ist unglaublich, wie schnell sich das Wetter ändert. Eben war alles noch grau in grau mit nassem Keller und jetzt sehe ich diesen herrlichen, knallblauen Himmel über mir.
Ich folge der Beschilderung und am Ende des Sandweges taucht eine wunderschöne Pippi Langstrumpf Villa vor mir auf. Das Haus ist riesengroß, ganz aus Holz und im schönsten Rot gestrichen. Es liegt im Halbschatten unter hohen Birken und fast erwartet man, dass jeden Moment Kleiner Onkel um die Ecke kommt. Pieps ist sofort hellauf begeistert und kann es kaum erwarten, alles zu erkunden.
"Hallo!", macht sie sich bereits aus einiger Entfernung bemerkbar.
"Willkommen", begrüßt sie mich freudestrahlend, als sie Greenys Kennzeichen bemerkt und ihr Lächeln wird noch breiter.
Sie erklärt mir geduldig, wo ich mein Zelt aufstellen darf und zeigt mir auch die Waschräume und die Küche. Und dann sagt sie mit ihrem freundlichen, offenen Gesicht noch zweimal "Willkommen" und tatsächlich habe ich mich noch niemals so willkommen gefühlt, wie auf diesem wunderschönen, halb versteckten Campingplatz am Wasser. Es ist kaum zu glauben, dass ich nur fünf Euro bezahlen soll.
Die Campingwiese grenzt an den Bootssteg und ich stelle das Zelt so dicht am Wasser auf, dass ich vom Bett aus einen prima Blick aufs Meer habe.
Als erstes spanne ich die Wäscheleine und hänge die Kleinteile zum Trocknen in die Sonne. Die Endurojacke lege ich ausgebreitet auf den hölzernen Bootssteg.
Die Motorradhose muss ich anlassen, denn zum ersten Mal habe ich kein Kleid und kein zweites Outfit mit auf die Reise genommen. Das passiert mir nicht noch einmal, notiere ich in mein Moleskine.
Auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen Bootshafens, vielleicht dreißig Schritte von meinem Lager entfernt, steht die Sauna, die in Finnland wie selbstverständlich zu jedem Campingplatz gehört.
"Thank you very much, but no thank you," lehne ich mit freundlichem Lächeln ab. Ich mochte Sauna noch nie und als Beamtin ist mir jede Form von Schwitzen ohnehin zuwider.
Später, als die Einheimischen zwischen ihren Saunagängen auf der Terrasse sitzen, rauchen und dabei beeindruckende Mengen Dosenbier trinken, gehe ich zu ihnen hinüber und frage: "Is ist ok to join you here?"
Ich darf mich setzen, aber die Leute wirken ein wenig reserviert, vielleicht weil ich angezogen bin, aber vermutlich eher deshalb, weil sie kein Englisch sprechen. Nur einer der Männer kann sich halbwegs verständlich machen und er hat sichtlich Spaß daran, mit mir auf Englisch zu radebrechen. Eine Frau kommt in diesem Moment nackt aus der Sauna, rennt eilig zum Wasser hinunter und plumpst vom Steg ins kalte Meer hinein.
Der Blick, den sie meinem Gesprächspartner im Vorbeilaufen zugeworfen hat, sagt mir, dass unser Gespräch nun zu Ende ist. Plötzlich entdeckt jemand Pieps, die in ihrem finnischen Outfit frech zwischen dem Wald aus Lapin Kulta Dosen hervorlugt und im Nu ist das Eis gebrochen und eine gewisse kleine Maus hat ihren großen Auftritt. Die Situation erinnert mich so an diese Bar auf den Docks in Schottland vor ein paar Jahren, als Pieps auch den Abend gerettet hat.
Gegen Abend, als ich schon wieder an meinem Zelt sitze, kommt der Mann zu mir, der mich auch in die Sauna eingeladen hatte und überreicht mir feierlich eine Landkarte der Ålandinseln.
Auf der Terrasse hatte ich von meinen Reiseplänen berichtet und natürlich auch erzählt, dass ich als nächstes auf die Ålands fahren werde. Die sind wirklich freundlich, die Finnen, selbst wenn sie mächtig trinken, sich unmöglich anziehen und unverblümt starren, ich mag dieses Land und seine Menschen.
Ich bedanke mich ebenso feierlich für die schöne Landkarte, aber leider können wir uns nicht weiter unterhalten, weil wir keine gemeinsame Sprache haben. Der Finne nickt und schreitet gemessenen Schrittes zu seinem Wohnwagen zurück. Die Menschen hier haben Zeit und einen hektischen Finnen kann ich mir ebenso wenig vorstellen, wie einen norwegischen Komiker.
Die Kebabs sind auf kleine Holzspieße gesteckt und lassen sich direkt aus der Pfanne essen, ich ziehe nur einen Motorradhandschuh an, um mir nicht die Hände an den Holzstielen zu verbrennen. Pieps ist begeistert von dieser neuen Sorte Eis am Stiel.
Wir sind zwar das mächtigste Kampfschiff der Sternenflotte, aber wenn dem Captain nicht bald etwas einfällt, dann heißt es Rio de Kacka für die Odyssey, denn die Aliens heizen uns gerade mächtig ein.
Gefesselt von den interstellaren Abenteuern auf meinem Kindle, kuschele ich mich in meinen Schlafsack und nippe von Zeit zu Zeit an dem Lapin Kulta. So ungefähr stelle ich mir den perfekten Abend vor...
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Das war ein schöner Reisetag und dieser Campingplatz ist wirklich eine Perle. Allerdings bin ich jetzt zweimal nacheinander so weit gefahren, dass ich damit drei Reisetage zurückgelegt habe. Ab morgen werden die Etappen wieder kürzer.