Kilometer, Kilometer...!
Es ist acht Uhr morgens und ich sitze im Diner der St1-Station in Rovaniemi bei Kaffee und Jambons. Während ich meine Reisenotizen mache, bewundere ich die verrückte Frisur der Bedienung, ein leuchtend pinker Irokese auf einem blonden Igel. Nicht alle Finnen sind Rocker, einige sind lieber Punks.
Der Regen hatte gegen Morgen endlich nachgelassen und so konnte ich das Zelt abbauen, ohne allzu nass zu werden.Es sind die Unterschiede zur Heimat, die das Reisen so interessant machen und akribisch notiere ich alles, was mir auffällt. Es sind nur Momentaufnahmen, die ganz zufällig entstehen, aber Manches wiederholt sich in so auffälliger Weise, dass sich irgendwann ein Muster ergibt, das über Klischee und Vorurteil hinausgeht. Da waren die herzlichen Iren, die kühlen Norweger, die zurückhaltenden Dänen und die knurrigen Waliser.
Eingepackt in die orange Regenkombi mit der Quietscheente auf dem Rücken ziehe ich mit hundert stur meine Bahn über die schnurgeraden finnischen Landstraßen. Stunde um Stunde geht die Kilometerfresserei, bis ich es in Oulu nicht mehr aushalte, ich habe Hunger, Greeny braucht Benzin und Pieps muss mal.
Es ist kurz nach Mittag, als ich vor dem riesigen CITYMARKET in Oulu halte und den Motor abstelle. Ich ziehe die Regenkombi aus, klemme sie unter die Gepäckgummis und gehe in den Laden.
Schon am Eingang stehen die ersten Glücksspielgeräte und in Abständen kleine Räume mit weiteren Automaten. Alles Geldspielgeräte und alle sind sie gut besucht. Zum Glück bin ich dagegen immun, ich investiere mein Geld lieber in Schuhe, Entrecote und Blanchet, alles sinnvolle Anschaffungen aus meiner Sicht.
In der Cafeteria ist von gutem Essen nichts zu sehen, es gibt Kuchen und kleine Snacks, aber kein richtiges Essen, kein Fleisch. "Don't you have any real food here?" Ich gehe instinktiv davon aus, dass jeder Mensch auf diesem Planeten versteht, was gemeint ist, wenn Svenja nach "real food" fragt und tatsächlich, die Frau hinterm Tresen weiß sofort, was ich meine.
Sie gibt mir den Tipp, rüber zur heißen Theke der Schlachterei zu gehen, von woher auch der Duft kommt, mir dort ein Stück gegrilltes Fleisch auszusuchen und zum Essen hierher zurückzukommen.
Ich suche mir ein Stück Schweinebraten und ein viertel Hähnchen aus und wandere zurück in die Cafeteria. Die Bedienung gibt mir Teller und Besteck und ich setze mich mit meiner Beute an einen der Tische. Toller Service, danke Baby!
(Notiz an mich: Damit aufhören, fremde Frauen Baby zu nennen, wenn ich sie leiden mag, oder einfach guter Laune bin. Das tut man nicht!)
Zum Nachtisch gönnen Pieps und ich uns einen Schmalzkuchen und einen Becher Kaffee. Wir wollen uns nicht so vollstopfen und lieber heute abend richtig essen.
"Thank you, but no thank you," erwidere ich höflich. Ich bin so erledigt, dass ich nur noch mein Zelt aufstellen will. Vierhunderteinundsiebzig Kilometer Landstraße sind eine weite Strecke auf dem Motorrad, zumal bei Regen, aber heute habe ich einfach kein Ende gefunden und wie so oft erlebe ich umso weniger, je weiter ich fahre.
Diese sture Kilometerfresserei ist Gift für jede Reise, man "schafft" viele Kilometer, erlebt aber eigentlich gar nichts. An anderen Reisebeschreibungen hat mich das oft gestört und heute ist es mir selbst passiert.
Als ich aus der Rezeption komme und wieder aufs Motorrad steige, kommt die Sonne durch die Wolken und der Himmel sieht auf einmal ganz prima und sehr vielversprechend aus.
Kokkola City Camping ist wirklich groß und ich bin froh, diesmal nicht erst zu Fuß auf Erkundungstour gegangen zu sein. Stattdessen fahre ich mit der Enduro lansam über die asphaltierten Wege und suche einen Platz für mein Zelt, möglichst weit weg von Rezeption, Minigolf und Karaoke.
Am Ende grenzt der Platz an einen Bootshafen und kurz davor entdecke ich die perfekte Campingwiese, eine fein manikürte Rasenfläche, auf der noch kein einziges Zelt steht.
Sowie ich aufgebaut habe, die Isomatte ausgerollt ist und der Schlafsack ausgebreitet darauf liegt, schnappe ich meine Waschsachen und mach mich auf zu den Duschen. Mein Körper summt richtig vor Anstrengung von der langen Fahrt und jetzt möchte ich erstmal heiß duschen und meine Haare waschen.
Ich schließe die Tür der Kabine hinter mir, ziehe mich aus und lege meine Sachen auf den kleinen Hocker. Die Dusche ist nicht so heiß, wie ich es gerne mag, aber es wird gehen.
Genüsslich lasse ich das warme Wasser über meine Haare und den Körper laufen und halte das Gesicht nach oben in den Wasserstrahl. Oh, wie gut das tut. Ich seife mich mit meinem Lieblingsduft ein, Nivea Cashmere Moments. Für meine Haare habe ich eine Kur mitgebracht, die Aufschrift kann ich nicht lesen, weil ich Seife im Auge habe, aber es ist irgendwas mit Silk.
Mit nassen Haaren und frischer Wäsche schlendere ich zurück zum Zelt. Die Dusche hat gut getan und ich merke, wie meine Energie zurückkehrt. Als nächstes ist Greeny dran, ihre Kette muss diesmal nicht nur gefettet, sondern zum ersten Mal auch gespannt werden. Diese Arbeit lässt sich mühelos mit dem Bordwerkzeug der Kawasaki erledigen und anderes habe ich auch nicht mit. Ich nehme nie irgendwelches Werkzeug zusätzlich mit.
Ich schiebe das Motorrad auf die Straße und setze mich daneben auf den warmen Asphalt. Die große Achsmutter ist mit dem billigen Formschlüssel aus Pressstahl nur mit einem Fußtritt zu lösen, aber dann gibt sie doch nach.
Ich löse die Kontermuttern und ziehe die Kettenspanner auf beiden Seiten behutsam an, bis die Spannung ungefähr stimmen dürfte. So richtig weiß man das erst, nachdem die Achsmutter wieder festgezogen ist und meistens spannt man im ersten Versuch zu stramm, aber diesmal habe ich Glück und alles passt.
Auf einem Stellplatz gegenüber sitzen zwei Camper auf Klappstühlen vor ihrem Wohnwagen und sehen mir bereits interessiert zu, seit ich auf den Platz gekommen bin, Camperkino. Ich winke freundlich zu ihnen hinüber und sie winken ebenso freundlich zurück.
"She's from Russia," erklärt der Mann seiner Frau, so als könne das alles erklären, was die Beiden bisher beobachtet haben.
"No, I'm German," erkläre ich voller Stolz.
"Ah, Germany," sagt er und an seinem Gesichtsausdruck sehe ich, dass auch damit alles erklärt werden kann, was bisher zu sehen war, nur dass wir eben bessere Autos bauen.
Wie um das Gesagte zu bestätigen, stelle ich das Motorrad zurück neben mein Zelt und reiße eine Dose Lapin Kulta auf, die genau das dezente Geräusch macht, das Bierdosen typischerweise machen, wenn man sie aufreißt. Die beiden Finnen lächeln mir freundlich zu...
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Heute habe ich meine eigene Regel missachtet, möglichst unter 300 km Tagesetappe zu bleiben und prompt ist geschehen, was dann gerne geschieht: Weit gefahren, nix erlebt.