Im Grenzgebiet
Es ist 4.30 Uhr und ich liege wach. Ich hätte nicht so viel Wein trinken dürfen. Durchhalten und unruhig weiterschlafen, oder die Zähne zusammenbeißen und zum Lokus rennen? Mit einem tiefen Seufzer ziehe ich den Schlafsack auf und spüre bedauernd, wie die mollige Bettwärme ins Freie entweicht.
Der derbe Reißverschluss, der mein Schlafzimmer von der Außenwelt trennt, sägt unnatürlich laut in meinen Ohren. Es ist totenstill. Alles schläft. Außer mir.Es regnet bei 6° C. In meinem Ballerinas renne ich über die nasse Wiese auf die trübe Funzel zu, von der ich weiß, dass sie am Eingang zum Damenklo hängt. Nasses Gras streift kalt über meine bettwarmen Knöchel.
Als ich kurz darauf wieder in meinem Daunenschlafsack liege, mummele ich mich fest ein und ziehe den Reißverschluss hoch, bis nur ein kleines Atemloch bleibt. In wenigen Augenblicken bin ich wieder fest eingeschlafen.
Am Morgen hat der Regen aufgehört, aber ich lege gerade den 1. Gang ein, als die ersten Tropfen fallen. Die paar Kilometer bis zur AVIA Tankstelle in Annecy schaffe ich auch ohne Regenkombi, denke ich und fahre los.
Manchmal ist es anstrengend, ich zu sein und heute ist so ein Tag. Mit nasser Hose rolle ich unter das Dach der AVIA in Annecy. Ich tanke und gehe hinein zum Bezahlen. Wenigstens nehmen sie Bargeld. Ich bestelle einen Becher heißen Kakao und hole mir nebenan in der Boulangerie ein Croissant dazu. Das erste Tankstellenfrühstück nach langer Zeit.
Bellegarde-sur-Valserine ist die erste Stadt hinter Annecy und selbst wenn es idiotisch ist, um diese Zeit schon ans Abendessen zu denken, werde ich hier einkaufen gehen. Der Carrefour Hyper Markt dort vorn sieht einladend aus. Heute will ich Pieps und mich mit einem besonders guten Stück Fleisch für den Ärger mit der Bahn entschädigen.
Schon als ich mit dem Korb in der Hand auf den Tresen der Boucherie zugehe, entdecke ich mein Abendessen. Ein tiefdunkelrotes Stück Rindfleisch, das großzügig von Fett durchzogen ist. Es ist ein Côte de Beouf, ein Ochsenkotelett.
Pieps möchte lieber diese runden Fischstäbchen essen, als die ich ihr die Calamares in Annecy verkauft hatte, aber heute muss es Rindfleisch sein. Als Entschädigung kaufe ich 30 g original Crottin de Chavignol, einen winzigen Ziegenkäse, der kostet wie ein großer, der aber ganz vorzüglich schmecken soll.
Bevor ich den Einkauf verstaue, trinke ich in der Cafeteria noch einen Becher Kaffee und mache mich erst dann wieder auf den Weg. Der Regen hat aufgehört und auch wenn der Himmel noch immer bedrohlich aussieht, fahre ich ohne Regenkombi weiter.
Gegen Mittag komme ich nach Saint-Claude. Im Reiseführer wird eine Kathedrale erwähnt und ein Kloster aus dem 5. Jahrhundert, aber was das Buch verschweigt, sind die hässlichen Plattenbauten, die hoch über der Stadt das alles überragende Bild Saint-Claudes ausmachen.
Das Tal wird enger und die Straße klettert im dichten Wald über dem Fluss in die Höhe. Auf dem anderen Ufer liegt bereits die Schweiz, der Fluss markiert die Grenze. Die Straße wird immer schmaler und nur an den Ausweichstellen könnten Autos einander passieren, doch auf der ganzen Strecke begegnet mir kein anderes Fahrzeug.
Gegend Abend packe ich meine Geheimwaffe für einen gelungenen Abend aus: Das Ochsenkotelett. Wird es als Entschädigung für die Versäumnisse der Bahn und für Jaruzelskis perfiden Anschlag auf Svenjas Urlaubsplan ausreichen? Groß genug dafür ist es jedenfalls.
zum nächsten Tag...
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