Ruhetag in Villefort
Heute habe ich frei. Ich nehme meinen zweiten Jokertag, einen reisefreien Tag zum Wäsche waschen, Ausruhen und als Zeitpuffer gegen Unvorhergesehenes, das mich hindern könnte, Autozug oder Fähre zu erreichen.
An solchen Tagen schlafe ich aus und sollte es regnen, drehe ich mich um und schlafe einfach weiter. Heute muss ich das Zelt nicht abbauen. Dennoch ist das mit Jokertagen so eine Sache, man weiß nie, ob sie erholsam oder langweilig werden, aber ich habe Einiges zu erledigen: Ich will einkaufen, mich um Benzin kümmern und Greenys Kette muss gespannt werden.Die Nacht war so stürmisch, dass ich dachte, wir heben gleich ab, aber seit dem schweren Sturm in Wales weiß ich, was das Zelt aushält. Claudia schreibt mir eine Guten-Morgen-SMS und teilt auch mit, dass noch den ganzen Tag über mit Windstärke 8 zu rechnen ist.
Im Waschhaus lasse ich mir endlos Zeit. Während ich mir ein Gesicht male, hängen mein Handy und die Digitalkamera an der Steckdose überm Waschbecken. Sonst sitze ich in Gedanken schon auf dem Motorrad, aber heute trödele ich herum.
Die Route départementale mündet in den Place du Bosquet, eine Prachtallee aus Platanen mit Parkstreifen und Geschäften zu beiden Seiten.
In solcher Abgeschiedenheit werden Dörfer zu Metropolen, wie Oasen in der Wüste. Dasselbe habe ich in Durness erlebt und auch in Masuren. Ein kleines Geschäft, kaum mehr als ein Tante Emma Laden, wird hier zum gefragten Einkaufszentrum.
Schon aus einiger Entfernung sehe ich, dass sich die AVIA Tankstelle von dem Bild auf Google Street View unterscheidet: Dort wo die Benzintanks im Boden liegen sollten, klafft eine große Baugrube. Die Station ist geschlossen.
So ein Mist. Ich werde alles andere erledigen und mich dann erkundigen, wo ich Benzin bekomme. Ich stelle das Motorrad auf dem Place du Bosquet vor dem einzigen Supermarkt ab. 8 à Huit heißt der Laden.
Es ist ein kleiner Supermarkt, etwa von der Größe der EDEKA Läden bei uns auf dem Land. Trotzdem gibt es alles, was ich brauche. Bei diesem Wind möchte ich nicht braten, das verbraucht zuviel Brennstoff und außerdem ist es ungemütlich. Heute Abend gibt es Käse, Wurst und Wein.
Ich schnappe mir einen der kleinen Einkaufskörbe und mache mich daran, die Zutaten für ein gutes Abendessen auszuwählen. Ich werde mit der Wurst beginnen und darum die ganze Mahlzeit aufbauen.
Das Aussuchen der richtigen Wurst ist eine ernste Angelegenheit. Nichts, das man auf die leichte Schulter nehmen darf. Dasselbe gilt für den korrekten Käse und den passenden Wein. Niemand käme auf die Idee, einfach das Billigste, das mit dem roten Preisschild, in den Korb zu werfen.
Ich gehe zu dem Regal mit den Würsten. Neben mir steht regungslos ein älterer Herr. Er trägt eine Baskenmütze. Vor uns Salamis in allen Größen, Formen und Farben. Einige dunkelrot, andere weiß von Edelschimmel, manche weich, andere hart, knorrig, schrundig oder glatt.
Wir stehen stumm, schauen, vergleichen, nehmen eine prüfend in die Hand, legen sie zurück, wägen ab und entscheiden uns schließlich für die eine, die richtige Wurst. Dinge brauchen ihre Zeit in Frankreich und ganz besonders ernste Obliegenheiten wie diese.
Ich gehe weiter zum Käse und kann mich innerhalb weniger Minuten für zwei entscheiden, einen weichen Ziegenkäse und einen bitterböse verschimmelten Roquefort.
Zur Erzeugung des Schimmels werden Roggenbrote gebacken, bloß um sie dann feucht verschimmeln zu lassen und diese Kulturen auf den Käse zu setzen. Roquefort-sur-Soulzon, das Dorf aus dem dieser Käse stammt, liegt nicht weit entfernt in den Cevennen.
Am wenigsten verstehe ich vom Wein. Ich lasse mich vom Preis und dem hübschen Etikett leiten und entscheide mich für einen örtlichen Rotwein. Château de l'Estagnol steht auf der Flasche und sie kostet 5,21 €.
Mit dem befriedigenden Gefühl, gute Beute gemacht zu haben, gehe ich zur Kasse. Ich warte, bis ich an die Reihe komme, als mir das Benzinproblem wieder einfällt. "Excuse moi. La station? Benzin? Fuel? Tankstelle?", spreche ich einen älteren Herrn an, wobei ich hoffe, dass vielleicht auch jemand anderes mich hört und versteht.
Nach kurzer Zeit stehen fünf Personen um mich herum und beratschlagen, was ich wohl möchte. Sogar die Kassiererin hat die Arbeit eingestellt und beteiligt sich an dem Gespräch.
Erst nach einer sehenswerten Pantomime, in der ich das Motorrad betanke, werde ich verstanden. Jeder will helfen, aber jeder scheint auch eine andere Idee zu haben, wo die nächste Tankstelle ist, nur ich verstehe kein Wort. Soviele Menschen und keiner spricht ein Wort Englisch. Das finde ich erstaunlich.
Ich bezahle den Einkauf und verabschiede mich herzlich. Die Menschen sind so nett und so hilfsbereit, für meine Sprachlosigkeit bin allein ich selbst verantwortlich.
Während ich den Einkauf im Tankrucksack verstaue, fällt mein Blick auf die Ladenzeile gegenüber. Bureau touristique steht an der Fassade. Natürlich, die Touristeninformation. Ich lasse die Maschine vor dem Supermarkt stehen und gehe hinüber.
Hinter getönten Scheiben öffnet sich ein piekfeines Büro. Ein nagelneuer Tresen aus edlem Holz, Flyer und Werbeplakate, dahinter eine junge Dame im dunkelblauen Hosenanzug. Es sieht nicht so aus, als hätte sie heute schon viel zu tun gehabt.
"Excuse me, do you speak english?"
"Yes, I do", antwortet sie mit einem leichten und sehr süßen französischen Akzent. Ich bin auf der Stelle hingerissen.
Die nächste Tankstelle liegt in Les Vanes, etwa 25 km entfernt. Sie entfaltet eine Landkarte auf dem Tresen und deutet mit dem Finger auf den Ort. Ich bin erleichtert und bedanke mich überschwänglich für die Information. Sie lächelt und ich darf die Landkarte behalten.
In einer Boulangerie kaufe ich Croissants und Baguette, aber Kaffee gibt es dort nicht. Ich gehe hinüber in die Bar le Louvre. Ein großer Laden mit einem langen Tresen und vielen kleinen Tischen mit den typischen Kaffeehausstühlen davor, die so unbequem aussehen, auf denen man aber sehr gut sitzt.
Es ist recht düster und die Bar ist schon am Morgen gut besucht. Die Männer stehen am Tresen und trinken Pastis oder Bier, die Frauen sitzen an Tischen, unterhalten sich und trinken Kaffee. Ein Großbildfernseher zeigt in großer Lautstärke eine Morgensendung.
Ich setze mich mit Pieps an einen der letzten freien Plätze.. Der Geräuschpegel im Raum ist beeindruckend. Die Menschen unterhalten sich lautstark, schlürfen Kaffee, Gläser klingen, Geschirr klappert und über allem lärmt der Fernseher. Welch ein lebendiger Laden.
Ich bestelle Kaffee und frage nach einem Frühstück, aber der Wirt erklärt, ich solle in die Boulangerie gehen, mir Baguette holen und den Kaffee hier trinken. Perfekt, denke ich und nehme ein Croissant aus der Tüte. Es ist noch warm und schmeckt köstlich zu dem starken Kaffee.
Im Fersehen läuft das Wetter. Soweit ich verstehe, gibt es östlich von hier Unwetter. Die unruhigen Bilder einer Handkamera zeigen umgeknickte Bäume, überflutete Straßen und erfrorene Weinstöcke. Das ist der Svendura-Effekt. Werde ich Schuld sein am sauren Weinjahrgang 2015?
Inzwischen ist es kurz vor Mittag und die Bar ist bis auf den letzten Platz besetzt. Ich bezahle und mache mich auf den Heimweg zum Zelt. Tanken werde ich morgen, wenn ich ohnehin durch Les Vanes fahre, bis dahin reicht das Benzin leicht.
Ein Stück unterhalb der Zeltwiese rauscht ein Bergbach über Felsen ins Tal. La Ruisseau la Paillhere steht dazu auf der Landkarte und es gibt sogar einen kleinen Wasserfall.
Bevor ich in Kiel gestartet bin, habe ich mich mit Leseproben aus dem Kindle Shop versorgt. Eine davon ist Bretonisches Gold, ein Kriminalroman um einen Kommissar aus Paris, der in die Bretagne versetzt wird. Schon der Anfang hat mich so gefesselt, dass ich es kaufen will.
Ich setze mich auf eine Bank und klicke die Zugangsdaten für das WiFi ins Kindle. Die Verbindung klappt auf Anhieb und ich klicke auf Jetzt kaufen. Sekunden später habe ich den Roman auf meinem Reader, während in der Heimat 9,99 € von meinem Konto abgebucht werden. Das Kindle war wirklich ein Glückskauf. Wenn ich daran denke, dass ich in England bis zu 6 Bücher im Gepäck hatte.
Als nächstes muss ich mich um das Motorrad kümmern. Ich beginne mit der üblichen Sichtkontrolle der Reifen und Speichen und prüfe dann, ob irgendwo Öl oder Wasser austritt, oder sonst etwas nicht in Ordnung scheint. Alles bestens, dieses Motorrad ist so zuverlässig wie ein Uhrwerk, nur die Kette muss leicht nachgespannt werden.
Ich nehme den kleinen Beutel mit dem Bordwerkzeug und suche die passenden Schlüssel heraus. Einige besonders billige Teile aus Pressstahl habe ich gegen Schlüssel von Hazet und Gedore ausgetauscht.
Eine zu lockere Kette dagegen, ist nicht so schlimm. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie abläuft oder reißt, ist verschwindend gering. Allenfalls klappert sie an der Kettenführung. Eine zu straffe Kette dagegen belastet das Getriebeausgangslager, was zu einem kapitalen Schaden führen kann. Außerdem verschleißt die Kette dadurch in Rekordzeit.
Inzwischen habe ich genug Übung, um gleich im ersten Versuch die passende Einstellung zu finden. Ich setze mich auf die Maschine und prüfe mit einem langen Schraubenschlüssel den Durchhang der Kette. Sie hängt noch immer leicht durch und ist nicht zu stramm. Die ganze Aktion hat kaum 5 Minuten gedauert und trotzdem drücke ich mich davor, solange es geht.
Gegen Abend verschwindet die Sonne schon früh hinter den Bergen und lange Schatten fallen auf Camp La Palhere. In Rekordzeit sinkt die Temperatur auf 12° C. Pieps und ich suchen unsere Sachen zusammen und verschwinden früh im Zelt.
Inzwischen sind es nur noch 8° im Zelt, kaum 2 Grad mehr, als zu Hause in meinem Kühlschrank. Dennoch, etwa so stelle ich mir im Urlaub einen perfekten Abend vor.
zum nächsten Tag...
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