An der Loire
Der Waschraum ist nicht gerade ein Wellness Tempel, aber an diesem prächtigen Morgen ist das nicht wichtig. Die Sonne scheint liebenswürdig durch eine nicht vorhandene Tür hinein, während ich mir halbherzig ein neues Gesicht male, wohl wissend, dass es spätestens in einer halben Stunde innen an meinem Helm kleben wird.
Rue de la Halle steht auf dem Straßenschild und später recherchiere ich, dass ich soeben durch die Markthalle von Lesmont gefahren bin. Schon seit dem Mittelalter finden hier Märkte statt, auch wenn das heutige Gebäude aus Eichenholz erst 1855 aufgebaut wurde, nachdem das vorige bei einem Feuer vernichtet wurde.
Die nächste große Stadt ist Troyes, etwa 35 km entfernt. Mit 60.000 Einwohnern könnte sie groß genug für ein Internetcafé sein. Schnell rein, Tickets drucken und wieder raus, lautet mein Plan. Mit etwas Glück kostet mich die ganze Aktion weniger als zwei Stunden.
Kurz hinter Lesmont fahre ich durch Piney, das von der D960, die mitten durch den Ort führt, in zwei Hälften geteilt wird. Vor der Mediatheque, einem hübschen Gebäude mit grünen Fensterläden, biege ich links ab nach Troyes.
Was soll das überhaupt sein, eine Mediatheque? Vermutlich gibt es da staubige Bücher, Schallplatten und Filme, die keiner sehen will, oder gibt es noch andere Medien?
Internet! Das ist doch auch so eine Art Medium. Der Gedanke durchzuckt mich wie ein Blitz. Vielleicht gibt es dort einen öffentlichen Internetanschluss.
Meine Hoffnung bekommt einen Dämpfer, als ich vor der Glastür stehe und das Schild mit den Öffnungszeiten sehe: Die Mediatheque öffnet erst am Nachmittag. Ohne jede Hoffnung und mehr für das Gefühl, alles versucht zu haben, drücke ich die Klinke und die Tür geht auf.
Unsicher, was ich tun soll, stehe ich in der leeren Bücherei, als eine sehr junge, sehr schlanke, sehr hübsche Frau aus einem Nebenraum kommt. Sie hat brünette lange Haare und sieht ein wenig erschrocken aus. Offenbar hat sie mein Rufen nicht gehört.
"Bon jour. Do you speak english?", eröffne ich das Gespräch.
"Yes, but the library is closed", antwortet sie zurückhaltend.
"I'm in big trouble and all I need to fix it is a computer and a printer. Do you have a PC?"
"Yes, but we are closed and the computer is for stuff only."
Ich bin fest entschlossen, mich nicht abweisen zu lassen. Hier gibt es einen Computer mit Internetanschluss und wer immer zwischen mir und meinen Tickets steht, muss irgendwie aus dem Weg charmiert werden.
Nun ist meine Fähigkeit, junge Frauen zu bezirzen nicht mehr ganz auf der Höhe, aber ich bin immer noch ein Alphaweibchen und so leicht lasse ich mich nicht abweisen.
A und Q sind vertauscht, ebenso wie Z und W und auch die anderen Zeichen liegen nicht dort, wo sie hingehören. Die Ziffern erreicht man nur über die Shift-Taste und den Punkt kann ich anfangs überhaupt nicht entdecken. Wie zum Fiffi soll ich hier die Zugangsdaten für mein Googlemail Konto eingeben?
Der Punkt liegt auf Shift-+, wie ich schließlich herausfinde. Jetzt noch Enter drücken und ich bin drin. Oh nein, Google wird misstrauisch, weil jemand aus Frankreich auf mein Google Konto zugreifen will und verweigert den Zugang.
Da steht etwas, das ich nicht verstehe, aber soweit ich den Ablauf kenne, müsste das eine Sicherheitsfrage sein. Ich rate, welche es ist und tippe auf gut Glück die Antwort ein.
So bedanke ich mich nur überschwenglich, versichere ihr, dass sie "An Angel" sei und verschwinde aus der Mediatheque, denn die Bücherei ist tatsächlich geschlossen, dient aber am Vormittag als Kindertagesstätte. Inzwischen treffen die ersten Mütter mit ihren Kindern ein und ich werde misstrauisch beäugt, weil es ganz offensichtlich ist, dass ich hier nichts zu suchen habe.
In absoluter Hochstimmung lenke ich die KLX vom Parkplatz runter zurück in den fließenden Verkehr. Dass ich dieses Problem so einfach lösen könnte, hatte ich nicht zu hoffen gewagt. Jetzt kann ich mich ganz meiner geplanten Route und der Suche nach dem ersten Frühstück widmen.
Das Wetter ist ganz prima, auch wenn es nur 12° C sind. Unter der Motorradjacke habe ich alle meine Zwiebelschichten an, das Thermoshirt, die Fleecejacke und den Windbreaker, aber trotzdem kriecht mir die Kälte allmählich den Rücken hoch.
In Clerey fahre ich am Schaufenster einer Boulangerie, einer Bäckerei vorbei und ich bin schon 300 m weiter, bis endlich der Entschluss fällt: Wir kehren um!
"Ce, s'il vous plait", dieses bitte, sage ich und zeige auf ein überbackenes Käsesandwich, das hinter Glas liegt und nichts weiter tut, als verführerisch auszusehen.
Meine Französischkenntnisse sind damit bereits erschöpft, aber ich habe keine Scheu zu sprechen und kann mich verständlich machen.
Die Menschen sind so freundlich, dass alle meine Urteile aus früheren Jahren überholt sind, wonach Franzosen überheblich und wenig hilfsbereit sind, wenn man ihre Sprache nicht spricht. Nein, die Menschen sind mega freundlich und sehr hilfsbereit.
Ich esse das Sandwich draußen vorm Laden und wärme mich in der Sonne auf. Als ich schließlich weiterfahre und Clérey verlasse, hat der starke Wind nachgelassen und jeder Kilometer auf den schmalen Departement-Straßen ist reiner Fahrspaß.
Die gewöhnlichen Ortsschilder in Frankreich, geschlossene Ortschaft, 50 km/h, kenne ich längst, aber immer wieder passiere ich schmale, schwarze Schilder mit weißer Schrift, die mitunter bloß drei Häuser, oder ein einzelnes Gehöft bezeichnen.
In Deutschland sind solche Schilder grün mit gelber Schrift, Ortstafeln, die kein Tempolimit beinhalten, doch während sie in Schleswig-Holstein gerne mal Sönke-Nissen-Koog heißen, tragen sie hier so klangvolle Namen wie La Rose oder La Berthellerie.
Bis 1995 galt in Frankreich noch das staatliche Tabakmonopol und die Bar-Tabac war eine offizielle Verkaufsstelle für Tabakwaren, was mit einer roten Raute und dem Wort TABAC auf einem Schild über der Tür ausgewiesen wurde. Das Symbol hängt noch heute über den Bars, auch wenn es die ursprüngliche Bedeutung längst verloren hat.
Die französische Bar-Tabac ist Bar, Café und Tabakladen zugleich, ein zentraler Treffpunkt, ja, beinahe eine soziale Institution, wo es neben dem Morgenkaffee auch Zeitungen, Bier, Pastis und Fahrscheine zu kaufen gibt.
Schon von weitem sehe ich die leuchtend rote Tafel des LE LION D'OR in Arces-Dilo, einem 600-Seelen-Dorf in Burgund und beschließe spontan, dort einen Kaffee zu trinken und mir solch eine Bar von innen anzusehen.
Hinter der Bar ein Mann unbestimmten Alters, der ziemlich genau meiner Vorstellung eines Bar-Tabac Wirtes entspricht. Er ist damit beschäfigt, ein Glas Bier zu zapfen und vollendet gerade die Schaumkrone.
"Bon jour, Madame", sagt er mit ruhiger Stimme und sieht nur kurz hoch, bevor er sich wieder dem Bier zuwendet.
"Bon jour, Monsieur. Un café, s'il vous plaît".
Es stehen zwei unterschiedlich Sorten Tassen auf der Maschine, ein Mikrogefäß von der Größe eines dickwandigen Eierbechers und eine normal große Kaffeetasse.
"Grand, s'il vous plait", ergänze ich meine Bestellung.
Unter lautem Zischen spuckt die Maschine pechschwarze Flüssigkeit in eine weiße Porzellantasse, die der Wirt ohne ein weiteres Wort auf den Tresen vor mich hinstellt. Der Kaffee ist so stark, dass ich seine Bitterkeit nur in kleinen Schlucken genießen kann.
Einer der Arbeiter schaut neugierig zu mir herüber, während er pausenlos auf den anderen einredet und abwechselnd Bier und einen blauen Schnaps trinkt. Der Andere starrt unbeteiligt nach vorn und nippt von Zeit zu Zeit schweigend an seinem Pastis.
Ich ignoriere die Beiden und trinke in winzigen Schlucken meinen Kaffee, während aus dem Hintergrund leise ein französischer Chanson klingt.
Die Menschen im Dorf kennen sich und die Bar-Tabac ist ein zentraler Treff, auch wenn ich nicht glaube, dass viele Frauen hierher kommen, aber das werde ich im Laufe der Reise noch weiter untersuchen.
Ich lege ein paar Münzen auf die Bar und wende mich mit einem "Au revoir" zum Gehen.
"Bonne journée" und "Au revoir, Madame" wünschen der Barmann und einer der Arbeiter, während der Andere weiter sein Glas anschweigt.
"Tschüss, Jungs. Das war nett bei euch", werfe ich beim Hinausgehen in den Raum, obwohl ich weiß, dass es niemand versteht.
Bei Kilometer 156 leuchtet die gelbe Reserveleuchte im Cockpit und auf dem Display blinkt hektisch FUEL-FUEL. Jetzt sind noch 2,2 Liter im Tank, ausreichend für etwa 70 km.
Scheinbar endlos erstrecken sich blühende Rapsfelder durch eine ansonsten eintönige Landschaft, ohne dass ich an einer Tankstelle vorbeikomme.
Endlich geht es durch ein altes Stadttor nach Villeneuve-sur-Yonne hinein und kurz darauf überquere ich die Brücke über die Yonne. Der Fluss führt Hochwasser und von oben kann ich sehen, dass die Uferstraße zum Teil überflutet ist.
Der Parkplatz davor ist wie leergefegt. Es ist Mittagszeit und Franzosen sind eigen, was ihre Mittagspause angeht. Man nimmt sich Zeit und geht entweder zu Hause, oder in einem der vielen Restaurants essen, die ein Plat du Jour, ein Tagesgericht anbieten. In jedem Fall gibt es mittags ein komplettes Menü mit Vorspeise und Dessert.
Ich beneide sie und hoffe, dass sie ihre Tradition bewahren. Auf meiner Arbeitsstelle ist die Esskultur eine ganz andere: Ich esse am Schreibtisch, während das Telefon klingelt und mindestens einmal ein Kollege hereinkommt und etwas von mir will.
Ich hasse das, aber es gibt kaum eine andere Möglichkeit. Das Essen in der Kantine ist ok, aber man sitzt so ätzend ungemütlich mit Dutzenden Kollegen eng beisammen, dass es überhaupt keine Pause ist, weil ohnehin alle vom Dienst reden und um das Gelände zu verlassen und woanders hinzugehen, sind wir zu weit vom Schuss.
Hinterm Tresen der Boucherie steht ein eher kleiner Mann im weißroten Kittel und Mütze. Er hält sich aufrecht und stolz, wie ich es schon bei einigen anderen, gerade älteren Franzosen beobachtet habe und ich mag diese Haltung.
Die Jüngeren dagegen legen dieselbe tätowierte Nachlässigkeit an den Tag, wie unsere jungen Leute auch.
"Bonjour Madame", begrüßt er mich mit einem charmanten Lächeln.
"Bonjour Monsieur. Un entrecote, s'il vous plaît."
"Un entrecote", wiederholt er und spricht es Ontrekott aus mit einem hartem T am Ende.
Der Metzger nimmt das größte Stück Rindlfeisch aus dem Tresen, das ich ohne Hufe dran je gesehen habe und legt es auf ein Schneidebrett. Entre côtes bedeutet zwischen den Rippen und zum ersten Mal sehe ich, wie das Steak herausgelöst wird.
Ich kaufe noch Champignons und Pilze dazu, einen besonders knorrigen Ziegenkäse und zwei halbe Flaschen Bordeaux. Für morgen kaufe ich ein wenig geräucherte Gänsebrust, eine Salami, etwas Schafskäse und zwei Stücke von einem wunderschön goldgelben Maishähnchen. Damit sollte ich den Feiertag morgen gut überstehen.
Am Kuchenregal entdeckt Pieps winzige gelbe Törtchen, die appetitlich in einer Klarsichtbox liegen, es sind Tarte de citron.
"Und du möchtest auch wirklich Zitrone?"
"Ja, die da", ist eine gewisse Maus sich einmal mehr ganz sicher.
"Nicht vielleicht doch etwas anderes?"
"Nein Mama, Zitrone!"
Ich lege eines der Törtchen behutsam in den Einkaufskorb und gehe weiter zu den Getränken. Drei Flaschen Wasser und ein Liter Orangensaft sind genug, um morgen gut über den ersten Jokertag der Reise zu kommen.
Morgen werde ich ausschlafen und dann nach Gien hineingehen, dort frühstücken, die Stadt besichtigen, Fotos machen, ausruhen und abends im Bett lesen bei Käse und Wein.
In der Textilabteilung kaufe ich zwei paar Strümpfe, die ich zur Leggings und den Ballerinas tragen will, denn morgen werde ich die Motorradsachen nicht brauchen.
Obwohl meine Sachen schon auf dem Laufband liegen, bin ich noch lange nicht dran, denn so ungeduldig der Franzose am Steuer seines Renaults ist und kein noch so gefährliches Überholmanöver auslässt, so langmütig ist er dagegen beim Einkaufen.
Wenn jemand in Kiel solch ein Gespräch mit dem Kassierer führen würde, nachdem alles bereits bezahlt ist, dann käme es zu einer offenen Feldschlacht und ich vorne weg, aber nicht hier in Frankreich. Doch wehe, du fährst mal etwas langsamer, dann überholen sie dich, selbst wenn es ihr Leben kosten könnte. Die spinnen wirklich, die Gallier.
"Einklich wollt ich doch lieber Körsch", stellt Pieps trocken fest, als ich draußen die Schachtel mit dem Zitronentörtchen öffne und ihr rüberreiche. Ist es nicht wunderbar, mit Kindern zu reisen, sinniere ich, während ich nun selbst das säuerliche Törtchen in mich hineinmampfe.
Am frühen Nachmittag erreiche ich die Loire. Der breite Fluss scheint nicht sehr tief zu sein, denn es gibt Sandbänke und es sind keine Schiffe auf dem Fluss unterwegs.
Die Straße führt unter Platanen an der Loire entlang bis sich unvermittelt eine Lücke auftut und den Blick freigibt auf die Brücke nach Gien. Die Stadt sieht von hier wunderschön aus.
Mein Zeltplatz liegt nur ein kleines Stück weiter auf dieser Seite des Flusses, aber morgen werde ich zu Fuß über die Brücke gehen und mir alles genau ansehen.
Die Rezeption ist hochmodern und mit zwei Leuten an Computerterminals besetzt. Der Empfang erinnert eher an den Schalter einer Fluggesellschaft und die junge Dame, die mich bedient, spricht perfekt englisch und gibt meine Daten in den Computer ein. Ich buche für zwei Nächte und bezahle 26 € mit der VISA-Karte.
Gegen Abend ziehen ein paar leichte Wolken auf und ich beginne damit, das Essen vorzubereiten. Zuerst entkorke ich den Wein. Die kleine Flasche hat tatsächlich einen Naturkorken, der mit einem satten Plop aus der Flasche kommt. Ich schenke einen halben Becher ein und probiere den ersten Schluck.
Ich habe keine Ahnung von Wein, aber dieser schmeckt mir und mit etwas Einbildung kann ich sogar das leichte Aroma von schwarzen Johannisbeeren herausschmecken, wie ich es gerade in einem Roman gelesen habe.
Das Entrecote ist tatsächlich etwas zu groß für die Pfanne, aber ich stopfe es an den Seiten hinein und durch die Hitze schrumpft es noch ein wenig. Trotzdem werden wir einen größeren Teller brauchen, denke ich besorgt.
Ich halbiere die Champignons und schneide die rote Zwiebel in Ringe. Nebenher nasche ich von dem alten Ziegenkäse und trinke etwas Bordeaux dazu.
Das Fleisch ist so mürbe, so dass ich es kaum zu schneiden brauche und es hat genau die richtige Menge Fett. Ich gebe dem Steak mit Begeisterung eine 8 auf Svenjas Entrecoteskala von 1 bis 10, wobei ich erst einmal eine 10 vergeben habe, an ein amerikanisches Beef aus Nebraska, allerdings schon mehrfach eine 9, als ich in Schottland war, wo es im Supermarkt Rib Eye Steaks vom Scottish Angus Cattle gab.
zum nächsten Tag...
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