Kurland
Mitten in der Nacht werde ich wach. Da ist jemand an meinem Zelt. Geräusche aus der Apsis. Hellwach, das Herz schlägt bis zum Hals. Im Dunkeln taste ich nach meinem Taschenmesser und lausche. Jetzt ist das Geräusch draußen vorm Zelt. Jemand zerrt einen Gegenstand fort. Stück für Stück. Mühsam. Ich bzzZzzrrRrrr...
Der Reißverschluss vom Außenzelt ist ok. Die Spurenlage lässt nicht auf einen, ja was eigentlich schließen? Einen Einbruch, einen Zeltfriedensbruch? Nachdenklich schlendere ich durchs Gras zum Waschhaus. Auf halbem Weg entdecke ich einen dunklen Gegenstand. Im Gras liegt der Packsack mit meinem Stativ darin.
Misstrauisch untersuche ich den dunklen Nylonbeutel, den Claudie mir genäht hat. Wo ist ein Forensiklabor, wenn man eines braucht? Drei nadelfeine Einstiche sagen was passiert ist: Irgendein Tier hat sich nachts den Beutel aus meiner Apsis geschnappt und ihn über die Wiese gezerrt. Ob es derselbe Täter ist, der mir im Rosetta Holiday Park, am hellichten Tag das Wildfleisch geklaut hat, das mir der Wildhüter ihrer Majestät im Park von Balmoral Castle geschenkt hatte?
Ich bin auf der Suche nach dem alten Schiffsfriedhof bei Mazirbe. Bis 1990 verlief hier die Westgrenze der UdSSR und die Küste war eine verbotene Zone, in die Unbefugte nicht einreisen durften. Die Regierung hatte die Befürchtung, dass die Boote der dortigen Fischer zur Flucht aus der Sowjetunion genutzt werden könnten und hat die Küstenfischerei verboten.
Der Reiseführer hatte mich gewarnt, dass kein Wegweiser dorthin führt und die alten Holzboote zerbrochen und verfault im dichten Gestrüpp verborgen liegen.
Die Nordspitze Kurlands nennt sich Kolkas Rags, Horn von Kurland, so wie Kap Horn, bloß kleiner und weniger bekannt. Doch bevor ich zur Nordspitze rausfahre, will ich im Dorf Kolka nach Kaffee und Benzin suchen.
Die Tankstelle liegt ein Stück von der Straße entfernt auf einem schraddeligen Hinterhof, doch die Anlage selbst ist top modern. Hier gibt es sogar Superbenzin mit 98 Oktan. Ich lasse den guten Sprit bis zum Überlaufen in Greenys Tank gurgeln, bevor ich zum Bezahlen in den Shop gehe.
Die ältere Dame hinterm Tresen ist sehr freundlich. Nein, einen Bäcker gibt es hier nicht und auch keinen Supermarkt. Nur diesen Laden und die Tankstelle. Aber sie hat Kaffee für mich. An der Wand steht ein ganz kleiner Kaffeeautomat und für 70 Cent darf ich mir einen Becher heißen Morgenkaffee aus der Maschine drücken.
Dieselben Dinge, die mich schon mit 16 so begeistert haben, tun das noch heute: Zelten, Motorradfahren, auf Entdeckungsreise gehen, Abenteuer erleben. Hoffentlich bleibt das noch lange, lange Zeit so, bevor ich für immer in meinem Ohrensessel verschwinde und mich nie wieder in ein Zelt lege.
Ich investiere zweimal 70 Cent in den Kaffeeautomaten, bevor ich mich auf den Weg hinaus zum Kap mache. Im Meer vor Kolkas Rags soll ein mächtiger Leuchtturm stehen. Vielleicht kann man hinüber waten und in den Turm steigen?.
Von Kolka geht es die Küste südwärts nach Roja. Hier im dünn besiedelten Kurland entspricht das ehemalige Fischerdorf mit 2500 Einwohnern beinahe einer Großstadt.
Die Auswahl ist bescheiden und ich halte mich nicht lange auf. Mit einer Packung Bratwurst, etwas Schinken und einer Flasche Rotwein gehe ich zurück zum Motorrad. Dabei entdecke ich, dass ich schon den Zündschlüssel hab stecken lassen, aber es ist noch alles da. Ist denen meine Kawasaki zu lumpig? Die Fotoausrüstung im Tankrucksack nicht gut genug?
Ich starte den Motor und fahre weiter die Küste runter. Küstenstraßen wie diese sehen nur auf der Landkarte gut aus. Dort bekommt man den Eindruck, es sei wie auf der Grand Corniche bei Nizza, wo man jederzeit einen herrlichen Blick aufs Meer hat. In Wirklichkeit verläuft die Straße mindestens 100 m vom Wasser entfernt und das Meer liegt jederzeit unsichtbar hinter Bäumen und Gebüsch verborgen. Ich könnte ebenso gut in Wanne-Eickel sein.
Wenn mich mein Blick nicht täuscht, dann ziehen dort vorne Regenwolken auf. Es wird höchste Zeit, dass ich mein Zelt aufbaue.
Camp Abragciems ist eines jener großen Hüttendörfer, die ich normalerweise meide, aber bei dem aufkommenden Wetter freue ich mich über die guten 'Facilities', was mit 'Einrichtungen' nur unzureichend übersetzt ist.
Die Rezeption würde manchem Hotel Ehre machen und wenn ich je den Eindruck von 'sowjetisch durchorganisiert' hatte, dann hier. Die ältere Dame am Empfang ‐ wieder jemand in meinem Alter ‐ trägt eine Betonfrisur, härter als die von Hilary Clinton.
"We are fully booked but you can put up a small tent."
Ich schaue ungläubig über den Platz. Kein einziger Gast ist zu sehen, aber tatsächlich ist ein Geschwader von Putzfrauen und Gärtnern dabei, den Platz auf Vordermann zu bringen. Die Frauen beziehen Betten und ein Hilfsgärtner schneidet die Rasenkanten mit einem Fadenschneider. Hier tut sich was.
"Is there a holiday?"
"Two holidays. Tommorrow and friday", erwidert sie missbilligend, als wäre es unverzeilich nicht zu wissen, dass zuerst Gedenktag an die Opfer des kommunistischen Terrors ist und dann Der Tag der Besetzung Lettlands.
"Eighty children and family are coming. Everything is booked."
"Ah, how nice", flöte ich entzückt in dem lahmen Versuch, Punkte gut zu machen.
Höre ich eigentlich den Quatsch, den ich da rede? Natürlich ist es kein bisschen 'nice', wenn 80 Kinder übers Camp herfallen, Krach machen und meine Kreise stören. Nur Pieps ist begeistert. Solange, bis es Ärger gibt, weil sie in der Sandkiste wieder irgendeinem Gör ihre Schippe über den Kopf gedroschen hat.
Aber zuerst brauche ich einen Platz fürs Zelt. Ich suche einen Ort soweit von jeder Party Location entfernt, wie es nur möglich ist. Auf einem schmalen Streifen Gras vor den Dünen baue ich mein Lager dicht am Wasser auf.
Gerade habe ich das Zelt eingeräumt, die Matte ausgerollt und die Daunen im Schlafsack aufgeplustert, da beginnt es zu regnen. Ich lege mich auf den Schlafsack und bin trotz der starken Brandung nach wenigen Augenblicken fest eingeschlafen.
Als ich zwei Stunden später wieder wach werde und mir die Augen reibe, ist es Zeit zum Abendessen. Zum Braten habe ich heute keine Lust: "Komm, Pieps. Wir gehen essen."
Ich schnappe mir Pieps, meine Geldbörse und das Kindle und gehe hinüber zum Bar-Cafe Restaurant des Camps, ein moderner Laden, der den ganzen Tag über geöffnet ist, auch wenn keine Gäste da sind.
"Do you want to eat?"
"Yes, please. Do you have a card?"
"No card. We have got fish, chicken, pork, potatoes and rice."
"I would like fish and rice. And white wine, please."
Das Essen erinnert an Hausmannskost und ist erstaunlich lecker. Ein richtig gutes Essen! Und der Wein ist perfekt eingeschenkt: Der obere Rand des Glases ist der Eichstrich. Mehr ginge nur rein, wenn man Tesafilm obenrum kleben würde. Oh, ich liebe das, endlich normale Menschen.
Gerade jetzt endet der mega spannende Thriller, den ich die letzten Tage auf meinem Kindle gelesen habe: The Ascendant. Ein Krimi aus der Welt des Cybercrime in dem sich Amerika und China einen Cyberkrieg liefern und die USA einen begnadeten Hacker engagieren, der so gar nicht in die militärische Welt der NSA passt, auf den sie aber nicht verzichten können, weil er so gut ist.
Wenn ich nach Hause komme, muss ich sofort die Einstellungen meiner Firewall checken und die Logfiles des Routers analysieren. Aber jetzt will ich unbedingt den nächsten Band lesen, um zu erfahren, wie es weitergeht mit Garrett Reilly. Ob es hier WiFi gibt?
Ich wecke das Kindle aus dem Flugmodus und habe Augenblicke später ein offenes WiFi in bester Stärke. Kein Passwort, nichts. Innerhalb einer Minute habe ich den nächsten Band der Garret Reilly Serie auf meinem Kindle. Während wir uns noch mit der Störerhaftung herumschlagen, gehören Internet und WiFi im Baltikum längst zur Grundversorgung.
Ich wüsste keinen Ort, an dem ich jetzt lieber wäre...
zum nächsten Tag...
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Von Kurland hatte ich mir mehr versprochen. Die Strecken sind auf dem Motorrad eher langweilig, aber ein schöner Urlaubstag war es doch: Motorradfahren, fotografieren, zelten. Viel mehr braucht es nicht.