In der Meisterwerkstatt
Heute werden Pieps und ich Lettland erkunden. Der kleine Staat ist ungefähr so groß wie Bayern und ich bin gespannt, wie er sich von Litauen unterscheidet. Das wird ein Premiumtag, denke ich, während ich das Lager abbreche und die Enduro startklar mache.
Ich stelle Greeny am Wegrand ab und sehe mir das Zelt näher an. Überlaute Reggaemusik schallt aus dem Zelt. Die großen Boxen machen einen Mördersound. Im Hintergrund gibt es einen Bartresen und Lampen, die wie Discokugeln aussehen, sorgen für Partybeleuchtung.
Der gesamte Platz macht den Eindruck, als sei er von einer Insel aus der Karibik direkt ins trübe Baltikum gebeamt worden. Es fehlen bloß noch die Palmen. An der Wand einer Scheune hängt eine Tafel mit der Aufschrift: Amber Wind Beach Café.
Ein Mann kommt über den Rasen auf uns zu. Ein Althippie deutlich über 60, der in seinen farbenfrohen Reggaeklamotten wie die weiße Inkarnation von Bob Marley aussieht. Dazu trägt er stilsicher eine bunte Reggae Strickmütze. Er ist mir auf Anhieb sympathisch.
Ich bestelle Kaffee und schaue auf die Speisekarte, was es zum Frühstück gibt. Die Gerichte sind mir völlig fremd. In solch einem Fall sollte man entweder das teuerste Gericht nehmen, oder eines, das den Namen des Hauses trägt.
Ein plötzlicher Stromausfall dreht Bob Marley schlagartig den Saft ab und auch der Kaffeenachschub kommt zum Erliegen. Pieps kratzt den letzten Rest Käse vom Teller, ich bezahle und wir machen uns wieder auf den Weg.
Es sind mehr als 10 km, bis wir wieder eine richtige Straße unter die Räder bekommen und das letzte Stück Rüttelpiste gibt Greenys Nummerschild den Rest. Jetzt hängt es nur noch an dem starken Tesaband der Notreparatur. Wir brauchen dringend eine Werkstatt.
Lettland ist so dünn besiedelt, dass man auf weiten Strecken den Eindruck haben kann, es sei gänzlich unbewohnt. Mit 31 Einwohnern pro km² ist es noch verlassener als Litauen und im Vergleich zu den 230 Menschen, die sich in Deutschland pro km² tummeln, ist es hier wunderbar einsam. Ich mag das, außer wenn ich, wie heute, eine Werkstatt brauche, die Greenys Kennzeichen wieder anschrauben soll.
In der Mitte der vierspurigen Hauptstraße fährt eine Straßenbahn, die aussieht, als sei sie aus der Zeit gefallen, oder ein Requisit aus einem DDR Film. Der Eindruck von Trostlosigkeit ist überwältigend. Von der Aufbruchstimmung in das neue Zeitalter der Unabhängigkeit ist nichts zu spüren, oder ich nehme sie nicht wahr, denn wer weiß, wie es hier vor 1990 aussah, vor der Unabhängigkeit von der Sowjetunion.
Bei der nächsten Gelegenheit wende ich das Motorrad und fahre zwischen den Wohnblocks hindurch, bis es nicht mehr weitergeht. Ich stelle die Enduro auf dem Vorplatz der Nikolaus-Kathedrale ab und mache ein Foto. Es ist der Gegenschuss zu dem Foto, das auf Wikipedia zu sehen ist. Ich stehe an derselben Stelle, bloß mit dem Rücken zur Kirche. In diesem Fall das interessantere Motiv.
Quelle: Wikipedia
Die Kathedrale ist geöffnet und ich bin neugierig, wie sie von innen aussieht, aber ich fühle mich nicht wohl bei dem Gedanken, Greeny hier stehen zu lassen und verzichte auf eine Besichtigung. Der Motor ist noch nicht kalt, als ich wieder starte.
Hinter der Brücke über den Tirdzniecības Kanal zweigt ein unscheinbarer Weg ins Gewerbegebiet ab. Hier finde ich sicher eine seriöse Vertragswerkstatt für Greeny. Auf den Schildern wenig Vertrauen erweckender Hinterhof-Firmen sind zumindest Fahrzeugteile abgebildet.
Ich biege in die Zufahrt auf einen Hinterhof ein, vorbei an einem Kranwagen sowjetischer Bauart und einer weißen Stretchlimo, die dort allmählich ins Grundwasser sickern. Vor den Baracken stehen Autos in verschiedenen Zuständen des Verfalls und Gruppen ernst dreinblickender Männer verhandeln über die Preise der breit bereiften Kilometerleichen.
"Hello...?!", rufe ich unverzagt ins Dunkel hinein und versuche mir keine Unsicherheit anmerken zu lassen. Aus den Tiefen des Motorraums eines Ford Mondeo beugt sich ein Mechaniker hervor. Er ist so ölverschmiert, dass ich sofort weiß: Er ist der Richtige. Wer in dieser Dunkelheit einen Motor reparieren kann, oder auch nur den Versuch unternimmt, der kann auch ein Nummernschild wieder anschrauben.
Wortlos wirft er einen Blick auf das klapperige Nummerschild und ebenso wortlos verschwindet er wieder in seiner Höhle. Ich warte. Hilft er mir nun oder nicht? Nach einer Weile bin ich nicht mehr sicher, aber dann kommt er mit einem nagelneuen Makita Akkuschrauber und einem Bolzen zurück. In kürzester Zeit ist Greenys Nummernschild wieder bereit für die Piste. Ich drücke ihm 5 EUR in die Hand und mache mich vom Hof.
Liepaja hat sicher noch Einiges mehr zu bieten, aber für heute hatte ich genug Menschen um mich und fahre zügig nach Norden aus der Stadt hinaus.
Es ist schon etwas ungewohnt: Man fährt auf freier Strecke mit 90 km/h an einen Bahnübergang heran, kommt vollständig zum Stehen, guckt links, guckt rechts, und fährt wieder an. Das funktioniert auch nur bei der geringen Verkehrsdichte im Baltikum. Einmal, als mehr Verkehr herrscht, kommt es zu einer merkwürdigen Staubildung, die sich sogleich tröpfenweise wieder auflöst. Ich unterstütze den Verkehrsfluss, indem ich gar nicht erst anhalte.
Es geht einsam geradeaus durch endlos erscheinende Wälder und die Landschaft erinnert mich sehr an meine Fahrt durch Finland, wo mitunter auch 50 km zwischen den einzelnen Ortschaften lagen. Die Straßen sind schlechter als in Litauen und als ich nach 60 km endlich eine Tankstelle erreiche, halte ich dankbar an, um einen Kaffee zu trinken.
Der Kaffee ist gut, aber der HotDog der bisher mieseste der ganzen Reise. Pieps mampft ihn dennoch, ohne auch nur eine Miene zu verziehen, gleichmütig in sich hinein. Diese Maus verblüfft mich stets aufs Neue.
In Ventspils halte ich an einem Supermarkt und kaufe etwas eingelegtes Fleisch und Rotwein. Alkohol ist hier deutlich teurer als in Litauen. Die 0,25 l Miniflasche kostet 3,02 €.
Hinter Ventspils fahre ich noch 18 km die Küste rauf, bis ich die Zufahrt zum Campingplatz erreiche. Eine große Tafel listet alle Errungenschaften von Kempings Liepene auf. Oh nein, hoffentlich nicht so ein modernes Beach Resort mit Animation und Remmidemmi. Sollte ich mich bei der Planung so vertan haben?
"Hello. Where is the reception?"
"The reception?", fragt sie lachend, "I am the reception. Three Euro, please!"
Meine Sorge um einen allzu engagierten Animationsbetrieb ist unbegründet. Die freundliche Empfangsdame ist der einzige Mensch, den ich während meines gesamten Aufenthalts zu sehen kriegen soll, aber das kann ich jetzt noch nicht wissen.
Kempings Liepene besteht aus einem großen Wiesengelände in einem Kiefernwäldchen am Strand. Ich fühle mich sofort an den schönen Platz auf Gotland erinnert, wo ich vor zwei Jahren so gefroren habe.
Mir ist warm und ich suche mir einen Platz im Schatten unter Kiefern. Das Gelände ist groß und mit der üppigen Wiese ein idealer Zeltplatz. Stromanschlüsse für Wohnwagen sind nirgends zu sehen, aber wer braucht die schon? Mir reicht eine Steckdose aufm Klo, um für ein paar Stunden mein Handy zu laden, Guerilla Charging.
Ich gehe ein wenig am Wasser auf und ab, aber ich würde in hundert Jahren nicht auf die Idee kommen, mich in den Sand zu legen. Mein Papa, der alte Panzerkommandant, sagte zum Thema Strandurlaub lediglich: "Strände sind zum Truppenlanden da."
Das Essen ist so lecker, das Fleisch so zart und fett, dass ich erst daran denke, ein Foto zu machen, als bloß noch ein fettiger Teller und eine verkrustete Pfanne übrig sind. Und eine reichlich verschmierte Maus.
Jetzt, nachdem Geschirr und Maus wieder sauber sind, liege ich auf dem Rücken im Zelt und beobachte das Spiel von Licht und Schatten. Der Wind rauscht sanft in den Bäumen und vom Strand ist das Brechen der Wellen zu hören. Vögel singen und Insekten fliegen emsig durch die Gegend, als hätten sie woanders noch etwas Dringendes zu erledigen.
Meine Güte, ist das ein verlassener Ort. Ich könnte der letzte Mensch auf Erden sein und wüsste es nicht. Ich liebe dieses Gefühl und suche danach auf meinen Reisen. Allein zu sein bedeutet, niemandem etwas vorspielen zu müssen. Einfach sein, sonst nichts.
Allerdings macht auch das Alleinsein mehr Freude mit einem guten Buch und einer Flasche Rotwein. Zufrieden liege ich im Schlafsack und lese, während Pieps in unser Moleskine malt. Das war ein prima Reisetag und ich freue mich über das neu befestigte Kennzeichen. Morgen kann ich damit wieder unbesorgt über die Pisten brettern. Und das werde ich...
zum nächsten Tag...
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