Der Berg der Kreuze
Es ist Sonntagmorgen und ich habe dienstfrei, kann ausschlafen, das Zelt stehenlassen und muss nicht weiterfahren. Dafür sehe ich mir heute den Berg der Kreuze an, ein kurzer Ausflug von etwa 35 km, doch vorher fahre ich nach Siauliai und mache mich auf die Suche nach einem Frühstück.
Ich biege von der Stadtautobahn ab und lande in einer Plattenbausiedlung. Die Straßen der riesigen Wohnmaschine sind schachbrettartig angeordnet und ein Block sieht gruseliger aus als der nächste. Nein, hier hätte ich als Kind nicht aufwachsen mögen.
Kurz darauf stehe ich vor einer Konditorei Café. Ein flacher Bau zwischen zwei Wohnblöcken. Aus den Fugen der Gehwegplatten wächst Gras, davor eine Telefonzelle.
Tankstellen am Sonntagmorgen haben eine ganz eigene Atmosphäre, das ist in Litauen nicht anders, als in Dänemark oder irgendwo in Irland. Wo sonst der Berufsverkehr im Minutentakt abgefertigt wird, herrscht heute Ruhe. Die wenigen Kunden nehmen sich Zeit beim Tanken, ihre Schritte sind leichter, wenn sie an die Kasse gehen. Viele kaufen eine Zeitung und Gebäck zum Mitnehmen. Ich stehe vor dem Regal mit Motorenöl und trinke meinen Kaffee.
Wie mit dem Lineal gezogen, verläuft die Landstraße A12 schnurgerade nach Nordosten. 12 km hinter Siauliai biege ich ab zum Kreuzhügel. Der Berg der Kreuze ist ein Wallfahrtsort, der zum Symbol gegen die kommunistische Herrschaft der Sowjets in Litauen geworden ist.
Viele der Kreuze wurden in Gedenken an die nach Sibirien Depotierten aufgestellt und die, die überlebt hatten, stellten nach ihrer Rückkehr weitere Kreuze auf. Irgendwann war das den Sowjets solch ein Dorn im Auge, dass sie den Hügel mit Bulldozern plattgemacht und die Kreuze verbrannt haben.
Am nächsten Morgen standen dort, wie von Geisterhand errichtet, die ersten neuen Kreuze. Dreimal wiederholte sich die Zerstörung, dreimal wurde der Hügel neu errichtet. Der Berg der Kreuze war zum nationalen Symbol des Widerstands geworden.
Ich denke nicht, dass diese Symbolik mich erreicht, aber zumindest möchte ich mir den Ort ansehen, der in keinem Reiseführer und auf keiner Litauenreise fehlen darf.
Meine Fahrt endet vor der Schranke eines Großparkplatzes. Ich ziehe ein Ticket und stelle das Motorrad vor dem Besucherzentrum ab. Um den Parkplatz reihen sich Andenkenläden und Verkaufsstände voller Kreuze. Die Händler stehen erwartungsvoll hinter den Tischen und warten auf die Ankunft der Reisebusse, aber noch sind die riesigen Parkflächen leer.
Schon aus der Ferne erkenne ich das typische Bild aus dem Reiseführer, ein flacher Hügel, der in der Mitte von einer hölzernen Treppe durchschnitten wird, hohe Kreuze links und rechts, davor zwei gewaltige Jesusfiguren, die sich aus einem Meer von Kreuzen erheben.
Manche Kreuze sind so riesig, als gehörten sie in einen Dom, andere haben die Größe von Grabkreuzen und dann sind da die vielen, vielen Kreuze, die nur wenige Handbreit hoch sind und die überall aus dem Boden wachsen. Das müssen hunderte, nein, tausende Kreuze sein, die hier stehen.
Manche Kreuze sind ganz neu aus frischem Holz, andere alt und verwittert, die meisten aus Holz, viele aus Metall. Vorne am Weg stehen die frischen Holzkreuze, die noch hell in der Sonne leuchten, während sie an den Rändern des Abhangs zu zehntausenden ins Grundwasser sickern.
"In beloved memory. Chris Parker."
"In eternal love." Louise, Canada.
"I will always love you, Dad." Pat from Australia.
All die Menschen, all die Liebe, das Unglück und die tiefe Traurigkeit. Ich muss an die denken, die ich selbst verloren habe, Freunde, Verwandte, Familie. Nur zwei durch den Tod, andere durch Entfremdung und Lieblosigkeit, die meisten durch trans.
Als ich die Treppe wieder hinunter steige, kommen mir Scharen von Touristen entgegen. Die Chinesen, jedenfalls halte ich sie dafür, tragen fast alle einen Mundschutz, wie man sie aus Arztfilmen kennt, wenn der Professor am OP-Tisch steht. Die haben wirklich eine Meise, die Chinesen, aber eine liebenswerte.
Wenn man kein völliger Holzkopf ist, wird es einem schwerfallen, sich dem Zauber des Bergs der Kreuze zu entziehen. Es ist, als habe er die Gefühle Hunderttausender aufgesogen. Ich bin vermutlich der am wenigsten spirituelle Mensch auf diesem Planeten, aber dem konnte ich mich nicht entziehen.
Für das Parkticket zahle ich 60 Cent, ein Auto hätte 90 gekostet. Ich starte die Maschine und fahre zurück nach Siauliai. Dort gibt es einen Maxima XX. Die Zahl der Ixe wird von der Größe des Ladens bestimmt. Ein Doppel X ist schon ein großer Supermarkt, der allein von Triple X, den Megastores, übertroffen wird.
Obwohl Sonntag ist, hat der Laden geöffnet. Ich parke das Motorrad ganz dicht neben dem Eingang, klicke den Helm an der Querstange vom Lenker fest und lasse meine teure Kamera mit den Objektiven im Tankrucksack. Ich bin schlicht zu faul, all meine Sachen mit in den Laden zu schleppen und ich habe auch nicht den Eindruck, als sei das nötig.
Ich suche Fischstäbchen für Pieps, aber die möchte stattdessen wieder Koteletts essen, und zwar: "Die mit die fette Knusperschwaate", wie eine kleine Maus nachdrücklich versichert. Mir solls recht sein, ich mag die auch.
An der Kasse lege ich eine Tüte Koteletts aufs Band, Zwiebeln, Bier, eine Flasche Wasser und einen Camembert mit Pfefferkörnern. Eine halbe Flasche Wein habe ich noch im Zelt. Der gesamte Einkauf kostet nur 5,96 €.
Von Siauliai sind es 15 km Autobahn und weitere 6 km auf kleinen Wegen, bis ich wieder Zuhause bin. Den Tankrucksack lege ich mit dem Einkauf darin ins Zelt.
Der Sandweg führt geradewegs auf den alten Kornspeicher zu, ein imposantes Holzhaus, wie aus einem Südstaatenfilm, nur dass es nicht weiß gestrichen ist, sondern seine natürliche Holzfarbe trägt.
Ein Fußweg führt unter Bäumen hindurch zu einem Tor am Ende des Guts. Dahinter erhebt sich majestätisch die weiße Basilika von Kurtuvenai. Eine ungewöhnlich große und hübsche Kirche für einen so kleinen Ort.
Das Gräberfeld ist klein und bevor ich mir weitere Gedanken machen kann, habe ich schon alles gesehen und mache mich auf den Rückweg zum Campingplatz.
Camping Kurtuvenai ist einer der am schönsten gelegenen Plätze, auf denen ich je mein Zelt aufgestellt habe. Der malerische Blick über den Ententeich, der Gutshof mit dem alten Kornspeicher, welch ein friedlicher Ort. Sollte ich je wieder nach Litauen kommen, wäre dies mein Lieblingsplatz.
Das Camp liegt verlassen. Außer meinem Zelt steht nur das englische Wohnmobil und die Beiden sind vorhin spazieren gegangen. Ich werde die Chance nutzen und mir die Haare waschen.
Ich schnappe mir Handtuch und Shampoo und mache mich auf den Weg in die Duschen. In der folgenden Viertelstunde verwandele ich den verlassenen Duschraum in einer wahren Wasserschlacht in ein Feuchtbiotop aus Wasserdampf und Shampooschaum.
Es ist erstaunlich, wie ein kleines Outdoor Handtuch mich und meine langen Haare trocknet. Dabei wiegt es keine 300 g. Nach dem Duschen ziehe ich eine Leggings und mein Snoopy Nachthemd an. Auch das mag ich so am Camping: Hier spielt es keine Rolle, wie man rumläuft, selbst wenn jemand da wäre, der mich sehen könnte.
Die Haare können an der Luft zu Ende trocknen, während ich das Abendessen vorbereite. Zuerst ritze ich die Schwarte der Koteletts ein und dann muss ich Zwiebeln schneiden.
Das war ein wunderschöner Jokertag. Die Heulerei am Berg der Kreuze hat mich ziemlich geschlaucht, aber das war das. Nun bin ich durch damit. Der alte Friedhof neben dem Campingplatz war nur noch ein Fotomotiv.
zum nächsten Tag...
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