Nach Lettland
Wenn mich jemand nach dem optimalen Reisewetter fragt, dann ist die Antwort einfach: Sonnig, kühl und eine leichte Brise. Das wird ein Premiumtag, denke ich, während ich das Lager abbreche und die Enduro startklar mache. Heute geht es auf nach Lettland. Ich bin gespannt, wie es sich von Litauen unterscheidet.
Die Piste ist ätzend zu fahren, denn auch wenn kein Schlagloch zu sehen ist, schüttelt sich die Maschine, dass man glaubt, sie falle gleich auseinander. Shice Wellblechpiste. Vor Wut reiße ich das Gas auf bis 110 km/h und die Enduro fliegt über den Weg, wie Kara Ben Nemsis sagenhafter Hengst Rih. Nach 9 Kilometern endet der wilde Ritt auf der anderen Seite der Vollsperrung. Selten habe ich mich so über ein Stück Asphalt gefreut.
Es ist Montagmorgen und an der Bushaltestelle im Zentrum von Kuršėnai warten Trauben von Menschen, die meisten von ihnen Frauen. Ein betagter Omnibus der Firma SETRA, wie ich ihn lange nicht gesehen habe, hält an und öffnet zischend seine Türen.
Der kleine Ort brummt vor Menschen und es sollte nicht schwer sein, ein Frühstück, oder wenigstens einen Kaffee aufzutreiben. Langsam fahre ich die Straßen der Innenstadt ab und suche nach einem Bäcker, oder einem Café. Ich halte Ausschau nach Tischen und Stühlen, die auf dem Bürgersteig stehen, oder nach einer heruntergelassenen Markise.
Ich lasse Kuršėnai hinter mir und laufe die nächste Tankstelle an, eine Autobahnstation der norwegischen STATOIL. Pieps ist glücklich über ihren geliebten Frühstücks-Hotdog à la STATOIL, die Wurst ist mit Speck umwickelt, und ich begnüge mich mit einem XL Becher Kaffee aus dem Automaten.
Mein Plan ist es, die Autobahn an der nächsten Ausfahrt zu verlassen und zurück auf meine Route zu fahren, aber das brauche ich gar nicht: Die Autobahnen in Litauen sehen an wichtigen Stellen, wie an Rastplätzen und Tankstellen, einen U-Turn vor. Ich staune nicht schlecht, als auf dem Asphalt der Überholspur ein Pfeil zum Linksabbiegen erscheint und ich durch eine Öffnung in der Leitplanke auf die Gegenfahrbahn wenden kann.
Warum gibt es das nicht am Kamener Kreuz? Dann bräuchte man keine kilometerlangen Umwege zu fahren, wenn man sich an einem der verwirrenden Autobahnkreuze falsch eingeordnet hat.
Kurz darauf verlasse ich die Autobahn dort, wo ich raufgefahren bin und folge wieder der geplanten Route. Mein Weg führt durch Wälder und Wiesen und durch zersiedelte Dörfer. Auf einem Mast klappert der Storch des Tages. Es ist der Zwanzigste, den ich heute sehe.
Ich wende, fahre zurück und parke das Motorrad neben der Mama Bar. Eine junge Frau steht hinterm Tresen und scheint sämtliche Geräte gleichzeitig zu bedienen. Der Schweiß läuft ihr übers Gesicht. In zwei Friteusen brodelt heißes Fett, ein Toaster röstet Burgerbrötchen. Offenbar eine Großbestellung für die Handwerker, die draußen warten.
Später, als ich zuhause das Hintergrundmaterial für den Reisebericht recherchiere, werde ich feststellen, dass die Bude nicht nur ein prima Beispiel für das aufkeimende Unternehmertum im Baltikum ist, sondern auch eine überraschend gute Website hat, die geschickt auf Wordpress aufsetzt.
Ich bestelle eine Portion frittierter Kroketten für Pieps und mich und setze mich draußen in die pralle Sonne. Mir ist heiß, denn im Gegensatz zu Pieps trage ich dicke, schwarze Motorradklamotten. Wie kommt es bloß, dass man Appetit auf Frittiertes mit fett Mayonnaise kriegt, sowie es draußen richtig heiß wird und man ohnehin schon schwitzt wie ein Stier? Hat das mal einer untersucht? Ist das der Freibadeffekt?
Ein kleiner blonder Junge kommt neugierig näher. Er erinnert mich an Michel aus Lönneberga, den ich mit Volker mal in Schweden besucht habe. "Ruski?", fragt er und sagt dann etwas, das ich nicht verstehe.
Er spricht auch ein paar Brocken Englisch, aber für ein echtes Gespräch reicht es nicht. Das Motorrad interessiert ihn und er betrachtet voller Interesse jedes Detail, bevor seine Mutter ihn ruft und die Beiden mit einer Tüte Imbissessen hinüber zu den Plattenbauten gehen.
Während ich mit dem Jungen gesprochen habe, hat Pieps die letzten Kartoffelbällchen in sich reingestopft und wir fahren weiter. Auch das mag ich am Imbissessen: Kein umständliches "Zahlen bitte!" und dann ewig auf die Bedienung warten, sondern man steht einfach auf, klopft sich die Krümel vom Hemd, schmeißt die Plastikreste in den Biomüll und verschwindet.
Ich wundere mich erneut über die vielen Brachflächen in der Landschaft. Riesige Flächen Kulturland, die dauerhaft brach zu liegen scheinen. Der Boden wirkt fruchtbar und gut erholt. Mehr als einmal denke ich: Gebt mir meinen alten David Brown Allradschlepper, den Dreischar Tiefpflug und die schwere Spatenrollegge und ich könnte einen schönen Acker machen, über den bloß noch die der Drillmaschine fahren müsste.
Ob das Land vor 1991 noch von Sowchosen bewirtschaftet wurde? Das wäre eine Erklärung für die gewaltigen Landbrachen und aufgelassenen Großbetriebe. Die verfallenen Stallungen passen ins Bild, riesige Hallen, die halb eingesunken in der Landschaft stehen, wo einmal tausende Legehennen, Schweine, oder Kühe gestanden haben.
Schließlich erreiche ich Skuodas, die letzte Stadt, bevor ich Litauen verlasse. Die Straße führt an einem IKI-Markt vorbei und ich nutze die Gelegenheit, fürs Abendessen einzukaufen.
Die knusprig gebackenen Schweinebraten, die hinter dem fettigen Glas der heißen Theke nur darauf warten, endlich angeschnitten zu werden, sehen so lecker aus, dass ich mir den schönsten davon einpacken lasse. Das ganze Biest kostet nur 1,96 €, kaum zu glauben.
Zufrieden trage ich meine Beute zur Kasse und sammele unterwegs noch einen Räucherkäse und eine Dose Bier ein. Vor dem Bierregal stehen ein halbes Dutzend Šakotis, Litauische Hochzeitskuchen. Sehen interessant aus, schmecken aber wie olle Butterkekse, die zu lange im Schrank gelegen haben.
Ich programmiere den inneren Tempomaten auf 96 km/h, meine liebste Geschwindigkeit auf Langstrecken, und ziehe stur durch. Ab und zu werfe ich einen Blick aus dem Helm, bloß um festzustellen, dass die Landschaft unverändert ist: Tiefer Nadelwald links und rechts, die Straße weiter schnurgerade bis zum Horizont.
Der Zeltplatz liegt nicht weit hinter der Grenze am Strand und die 10 Kilometer lange Zufahrt zum Camp bietet noch einmal Wellblechpiste der übelsten Sorte.
Die Dame in der Rezeption ist eine junge Frau, die leider nicht im entferntesten an Miss Kitty aus Rauchende Colts erinnert. Sie ist ganz erstaunt, dass ich zelten möchte.
"Cabin is just 16 € and all are free", bietet sie mir eine der kleinen Hütten an.
"No, thank you. It's not for the money. I just love my little tent."
Wie soll ich ihr erklären, dass ich das Zelten liebe? Mich darin zuhause fühle, jede Nacht im eigenen Bett schlafe und morgens, wenn ich die Augen aufschlage, den vertrauten Anblick genieße. Ich kenne jeden Ziehfaden im Zelthimmel, jede schiefe Naht am Reißverschluss.
Ich sehe ihr die Verwunderung an, als sie mich mit einem Achselzucken als Zeltcamper bucht und ich bereitwillig die 6,50 € für die Nacht zahle.
Der Campingplatz ist riesengroß und Dutzende der winzigen Holzhütten stehen auf dem Gelände verteilt. Ich suche mir die Rasenfläche neben dem Beachvolleyballfeld aus und fange an, das Lager aufzustellen. Noch bevor ich fertig bin, wird die Rezeption geschossen, die Campingleute fahren in zwei Autos davon und ich bin mit Pieps allein auf dem Platz.
Im Westen grenzt Camp Pukarags an den Ostseestrand. Pieps und ich wandern über eine flache Düne hinunter zum Strand. Ich spüre das vertraute Pieksen des Strandhafers an den Füßen und das Gefühl, wie der warme Sand zwischen den Zehen hindurch quillt.
Vor dem Abendessen checke ich das Motorrad. Die Kette ist ein wenig zu trocken und ich sprühe sie dünn mit SX90 ein. Den Reifen haben die Pisten nicht geschadet, aber als ich die Speichen abklopfe, machen drei von ihnen plong, wo sie pling machen sollten. Die lasse ich zuhause in der Werkstatt nachziehen.
Ich habe weder Ersatzteile, noch Werkzeug dabei, außer dem Täschchen mit Kawasaki Bordwerkzeug, aber eines liegt immer im Tankrucksack: Eine Rolle Tesa Gewebeband extra Power. Damit lassen sich die erstaunlichsten Reparaturen ausführen.
Ich klebe die Blechtafel seitlich fest und stütze auch den Riss von hinten. Das Meiste vom Kennzeichen ist noch immer fast gut zu lesen. Das sollte erst einmal halten. Das Motorrad ist versorgt, jetzt wird es Zeit zum Abendessen.
Ich lege die schöne Picknickdecke ins Zelt, schenke einen Becher Bier ein und schneide den Braten an. Pieps hat keine Mühe mit der dicken Schwarte, aber ich muss ganz schön kauen, bevor ich sie mit einem Schluck warmem Bier runterspülen kann.
Morgen fahre ich die Küste hoch durch Kurland und ich bin neugierig, wie sich Lettland von Litauen unterscheidet. Zumindest hoffe ich, dass es das tut...
zum nächsten Tag...
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