Nach Finnland
Ich bin schon um 5:45 Uhr wach, lange bevor der Wecker klingelt. Heute darf nichts schiefgehen. Die erste Fähre legt um 9 in Tallinn ab. Kurz nach 11 bin ich in Helsinki und habe 2 Stunden Zeit, um einmal quer durch die finnische Hauptstadt zur nächsten Fähre zu fahren. Die Überfahrt nach Travemünde dauert fast anderthalb Tage und hat 513 EUR gekostet. Wenn ich die verpasse, bin ich geliefert.
Es sind 20 km bis nach Tallinn. Im morgendlichen Berufsverkehr schwimme ich auf der fünfspurigen Stadtautobahn ins Zentrum. Ich habe das GPS-Gerät auf volle Helligkeit gestellt, um bei der miesen Sicht überhaupt etwas erkennen zu können. Einen Verfahrer kann ich mir heute nicht erlauben.
Der Nebel unten am Pier ist so dicht, dass ich Mühe habe, den richtigen Anleger zu finden. Es gibt drei Reedereien, die in kurzen Abständen zwischen Tallinn und Helsinki verkehren, Viking Line, Tallink Silja und Eckerö. Mein Schiff, die M/S Star gehört zu Tallink Silja.
Die Hafenanlagen sind weit verzweigt und ich muss nach Vanasadam, das bedeutet Alter Hafen. Endlich taucht ein Gebäude aus dem Nebel auf. Vanasadam - Old City Harbour steht darüber und auf einem Schild: Tallink Check-In. Das ist mein Terminal.
Ein Schlepper und zwei Fischtrawler liegen an der Pier. Ich schlendere zu ihnen hinüber und sehe hinunter auf das ölige Wasser. Selbst die Möwen sind bei diesem Wetter anders. Anstatt wie sonst kreischend ums Futter zu streiten, sitzen sie teilnahmslos auf ihren Pollern, solange bis eine größere Möwe den Platz für sich beansprucht und sie fortjagt.
Allmählich beginnt sich der Aufstellplatz zu füllen. White-Van-Guys, wie sie in England genannt werden, Handwerker in weißen Sprintern, machen einen Teil der Passagiere aus. Estnische Firmen, die Aufträge in Finnland haben und auf dem Weg zur Arbeit sind.
Endlich öffnet sich der Check-In Schalter und ich fahre an das Fenster heran. Ich zeige meinen Ausweis und den Ausdruck meines Tickets, den ich vor Monaten zu Hause aus meinem Drucker gezogen habe.
"Have a nice Trip", sagt der junge Mann am Counter und die Schranke vor mir geht hoch. Der Old City Harbour ist so groß und unübersichtlich wie jeder Hafen, in dem ich gewesen bin. Auf dem Boden gelbe und weiße Linien, die man nicht versteht, Container, Trailer und Ladebrücken stehen herum, dazwischen Zubringer-LKW mit gelbem Blinklicht, die nach einem geheimen Plan eilig auf dem Kai entlang fahren.
Ratlos tuckere ich mit dem Motorrad auf dem Gelände umher, bis sich vor mir ein Schiff mit offener Bugklappe aus dem Nebel herausschält. Der Laderaum ist hell beleuchtet und ein schwarzer Volvo mit schwedischen Kennzeichen rollt vor mir an Bord.
Ein Einweiser in einer neongelben Sicherheitsjacke spricht eindringlich in sein Funkgerät. Er lauscht, es knackt, Stimmengewirr, Rauschen. Dann macht er eine kreisende Bewegung mit dem Arm und weist mich energisch zurück: "Wrong ship!".
Ich wende das Motorrad und fahre gegen den Strom der einfahrenden Autos zurück an Land. Um ein Haar wären Pieps und ich als blinde Passagiere in ein unbekanntes Land gereist. Von hier gibt es zahlreiche Fähren nach Schweden, aber auch eine nach Sankt Petersburg.
Die ganze Aktion ging so schnell, dass ich trotzdem als zweite Maschine auf dem richtigen Aufstellplatz lande, denn das richtige Schiff ist noch gar nicht da. Ich stelle mich neben einen Biker aus Thüringen, der mit einer Honda NC750 unterwegs ist.
Zwei nagelneue BMW GS fahren auf den Kai und halten hinter uns an. Beide Maschinen tragen russische Kennzeichen. Einer der Fahrer ist ein großer Kerl mit rasiertem Schädel. Er trägt eine Tarnfleckhose und kommt zu uns herüber. Mit ernstem Blick reicht er zuerst mir und dann dem Thüringer die Hand und begrüßt uns. Sein höflich korrektes Auftreten verblüfft mich. Es passt so gar nicht zu dem Bild, das ich in meinem Kopf von Russen in Tarnkleidung hatte.
Die Beiden stellen sich vor und berichten in gutem Englisch, dass sie auf dem Weg zum Nordkap seien. Der Bär zückt ein nagelneues iPhone und zeigt auf dem Display die geplante Route. Die Russen sind perfekt ausgestattet: Nagelneue Motorräder, iPhones, original BMW-Navis und selbst die Tarnfleckhose ist so neu, dass man noch die Bügelfalte sieht.
Ihre Verhaltensweise, sich persönlich vorzustellen und ein richtiges Gespräch zu führen, finde ich klasse. Bisher kenne ich nur das gemeinsame Herumblödeln, ohne dass ein vernünftiges Wort fällt und meistens halte ich mich abseits davon. Das Verhalten der russischen Biker finde ich besser. Ich will versuchen etwas daraus zu lernen.
Kaum ist das Schiff vertäut, öffnet sich die Bugklappe und die ersten Autos rollen von Bord. Nachdem der letzte LKW herausgefahren wurde, dürfen wir aufs Schiff. Das Lashing der Motorräder wird von der Crew erledigt. Ich schnappe mir Pieps und gehe mit ihr von Cardeck C1 hinauf zu F8. Als ich die Passage vor Monaten am Computer gebucht habe, landete mit einem Klick auch das Shuttle Buffet für 11,50 EUR im Warenkorb.
Als Pieps und ich auf dem Restaurantdeck ankommen, hängen dünne Absperrketten vor den Gängen. Das Buffet ist noch nicht eröffnet. Wir stellen uns in günstiger Startposition vorne auf und warten, bis alles fertig ist.
Die heißen Speisen sehen erbärmlich aus. Was ich auf den ersten Blick für Milchreis halte, ist schneeweißes, fein krümeliges Rührei mit ohne Geschmack. Astronautennahrung. Lustlos schaufele ich ein paar Frikadellchen auf den Teller, die weder Pieps noch ich mögen. Allein das gelbe Brot, das noch ganz warm ist, weil es hier an Bord gebacken wird, schmeckt prima, besonders mit finderdick Butter drauf.
Nach dem Essen bleibt genügend Zeit, um sich an Deck die Beine zu vertreten. Dichter Seenebel liegt über dem Meer und der Kapitän steht unablässig auf dem Nebelhorn. Dabei sollte man meinen, dass elektronische Seekarten, GPS und Radar die Seefahrt zu einem ungefährlichen Kinderspiel gemacht hätten, aber das ist nicht so und ich muss unwillkürlich an Jack Londons «Der Seewolf» denken, das mit einem Schiffsunglück bei dichtem Nebel in der Bucht von San Franzisko beginnt. Daraufhin wird der Schiffbrüchige Humphrey van Weyden von Wolf Larsen, dem Seewolf an Bord des Robbenschoners Ghost genommen. Ein wundervoller Abenteuerroman und mein Lieblingsbuch seit Kindertagen. Claudia hat mir einmal zu Weihnachten eine antiquarische Ausgabe geschenkt. Darin steht vorne noch die Widmung des ersten Käufers: Zur Erinnerung an die 6. Kriegsweihnacht von Gertrud.
Die Bugklappe öffnet sich und ich setze hastig den Helm auf, aber da ist es schon zu spät: Ein Schwall kaltes Wasser, das sich irgendwo gestaut hat, klatscht auf uns runter. Die Motorradfahrer, je nach Temperament, lachen oder fluchen.
Wir rollen von Bord nach Helsinki hinein. Ein Regenguss, wie ich noch keinen zweiten erlebt habe, setzt die Stadt unter Wasser. Die Gullis sind längst vollgelaufen und die Straßen der finnischen Hauptstadt sind etwa 30 cm hoch überflutet. Aufmerksam folge ich dem Fahrer eines grünen Citroen, der vorsichtig durch die Fluten lenkt und hoffentlich weiß was er tut.
Im Hollandradtempo fahre ich durch die Innenstadt. Das Wasser verschwindet, als ich vom Hafen weg in höher gelegene Straßen komme, aber nasses Kopfsteinpflaster und ein Gewirr von Straßenbahnschienen brauchen meine ganze Konzentration.
Die Fähre nach Travemünde liegt in Helsinkis neuem Hafen Vuosaari. Für die 22 km durch die Innenstadt bis hinaus nach Vuosaari brauche ich über eine Stunde. Meine Stiefel sind längst vollgelaufen und mein Bauch ist trotz der Regenkombi nass geworden. Der Hafen ist nagelneu und manches wirkt noch sehr unfertig. Ich bin froh, als ich endlich das Check-In von Finnlines entdecke.
Oive und ich mögen uns auf den ersten Blick und unterhalten uns so gut, als wären wir alte Biker Buddys, die schon manches Bier zusammen getrunken haben. Ich erfahre, dass Oive zuhause in Finnland eine alte Honda Africa Twin stehen hat, mit der er auf den endlosen Sandwegen durch die finnischen Wälder heizt.
Als die Sachen halbwegs trocken sind, ziehe ich die klammen Klamotten wieder an und mache mich auf die Suche nach etwas Essbarem. Das Abendbuffet, an dem fast alle Biker außer mir teilnehmen, kostet 34,50 EUR. Nein, das ist mir zu teuer, dann schmeckt es mir nicht mehr. Ich hole mir an der Bar ein Sandwich, dann noch eines, Kaffee, ein paar Dosen Bier und einen Schokoriegel für Pieps. Als wir endlich satt sind, habe ich fast genau soviel ausgegeben. Mit den Resten verziehe ich mich in die Kabine. Mir ist so kalt, dass ich mich sofort ins Bett lege.
Das Frühstücksbuffet soll 23 EUR kosten. Entweder buche ich das Morgen, oder ich werde an Bord verhungern, denn schon ein Sandwich kostet 7 EUR. Während ich noch über die Preisgestaltung auf Fährschiffen sinniere, schlafe ich fest ein. Das halb ausgetrunkene Bier steht unbeachtet auf dem Nachtisch...
zum nächsten Tag...
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Morgen Abend werden wir in Travemünde anlegen. Dann fahre ich noch eine knappe Stunde nach Hause, aber zuvor müssen Pieps und ich Morgen einen langen Tag an Bord der MS Finnlady rumbringen.