Herrenhäuser
Am Morgen weckt mich die Sonne auf dem Zelt, aber als ich die Nase ins Freie stecke, sehe ich am Horizont bereits fette Regenwolken heraufziehen. Ich muss mich beeilen, um wenigstens trocken zusammenpacken zu können.
Eine Reise ist immer auch eine Suche nach Sehenswertem. Schließlich will man nicht nur eine Route abfahren: E6, Rv11, 600 km heute geschafft , sondern man möchte etwas sehen, etwas erleben, ein paar Fotos machen und neue Eindrücke gewinnen. Das Baltikum ist voll von Herrenhäusern und Schlössern, doch Minen gibt es nur wenige und die alte Ölschiefermine von Kohtla-Nõmme ist eine davon.
Ich war überrascht, dass es überhaupt Minen in Estland gibt, aber das zeigt nur, wie wenig ich noch über das Baltikum weiß. Die Gegend um die Gemeinde Kohtla-Nõmme ist reich an Ölschiefer und laut Wikipedia deckt Estland über 90 % seines Strombedarfs aus der Verbrennung von Ölschiefer.
Die Mine liegt nicht weit vom Campingplatz entfernt und der Weg dorthin führt etwa 9 km über matschige Waldwege. Der Boden ist schmierig und ich fahre vorsichtig.
"Hello...?!"
"We're closed", antwortet eine junge Dame brüsk. Im Halbdunkel hatte ich sie nicht bemerkt.
"But..."
"We open at eleven o'clock." Es ist halb neun.
"Brrrr. Such a shite weather. Café closed, also?"
Statt einer Antwort, steckt sie mit einem resignierten Seufzer den Stecker des Kaffeeautomaten ein und fährt die Maschine hoch. "Anything to eat?"
Die Gastfreundschaft ist unglaublich, immerhin öffnet das Café erst in 90 min. Ich habe den Eindruck, es ist eine Form von Pflichtbewusstsein, so als gehöre es sich nicht, eine Fremde wieder hinaus in den Regen zu schicken.
Sie backt für Pieps und mich zwei von den Würstchen im Blätterteig auf, die wir schon aus Kuremäe kennen. Eine gewisse Maus ist hochzufrieden und interessiert sich von diesem Moment an kein Stück mehr für das Minenmuseum, dessentwegen wir hier sind.
Ein junger Mann von vielleicht Mitte 20 kommt aus dem Gebäude zu mir herüber. Er trägt eine Endurojacke und Motorradstiefel. Erst jetzt sehe ich, dass am Seiteneingang eine betagte Honda Transalp geparkt ist, die auf den fiesesten MotoCross Reifen steht, die man sich nur vorstellen kann.
"You're lookin' for a good Moto Cross area?", fragt er und sieht zu Greeny hinüber.
Mir fallen ein Dutzend Gründe ein, weshalb ich nein sagen sollte, z.B. weil ich mit Gepäck fahre, 1.200 km Luftlinie von zuhause weg bin und ganz sicher keinen Crash gebrauchen kann, aber ich will keine Muschi sein und mir nicht die Blöße geben und sage stattdessen: "Course, why not?"
Augenblicke später sitzen wir in Imres Büro neben der Cafeteria. Die junge Frau von vorhin lächelt zu uns herüber. Sie hat ihm den Tipp mit dem Endurogirl aus Deutschland gegeben. Ich erfahre, dass Imre neben seiner Transalp eine Husqvarna 450 fährt und zu einer Gruppe von Offroad Verrückten aus der Gegend gehört.
Während er den Bürocomputer hochfährt, erzählt Imre mir von einem alten sowjetischen Tagebau, der schon vor 40 Jahren aufgegeben wurde. Das riesige Gelände liegt seitdem brach und niemanden stört es, wenn sich dort die Verrückten mit Fahrzeugen aller Art nach Belieben austoben. Als sein PC hochgefahren ist, zeigt Imre mir die Lage der Mine auf Google Earth. Das Gelände ist etwa 25 km² groß und liegt nicht weit von hier entfernt. Auf der Satellitenaufnahme sieht man, dass der Wald sich viel davon zurückgeholt hat.
Ich bin sofort Feuer und Flamme. Mit der Enduro durch den verlassenen Tagebau zu heizen ist tausend Mal bessser, als eine Besichtigung zu Fuß. Imre würde so gerne mitfahren, aber er muss jetzt arbeiten. Das Museum und das Café öffnen bald.
Das Anwesen Kalvi Manor war früher eine beliebte Sehenswürdigkeit für Touristen, aber vor einigen Jahren wurde es von einem russischen Oligarchen gekauft und seitdem ist das ganze Gelände Off-Limits. Die Warntafeln mit der Pistole sprechen eine deutliche Sprache.
Vor dem Schloss parkt ein schwarzer Mercedes V8. Die gucken wirklich die falschen Filme, diese Typen. Ich mache ein Foto über den Zaun hinweg und fahre eilig weiter.
Am Ortsrand liegt ein gewaltiger Supermarkt, Rakvere Maksimarket. Eine bessere Gelegenheit zum Einkaufen werde ich heute nicht finden. Kurz darauf pirsche ich mit dem Korb in der Hand durch den Laden.
Ich brauche unbedingt eine neue Leggings, die alte ist von Anti-Brumm total zerfressen. Erster Halt: Textilabteilung. Für 5 € erstehe ich eine neue Leggings ziemlich guter Qualität. Ich denke an Kilkenny und muss lächeln.
Aus der Abteilung Auto und Zubehör nehme ich eine Dose WD40 mit und mache mich auf den Weg ins Zentrum: Die Fleischabteilung. Ich entscheide mich für eingelegte Grillkoteletts, einen Grillsalat, der im Wesentlichen aus Mayonnaise besteht und für ein Stück gebratenen Fisch aus der heißen Theke.
Kurz darauf stehe ich wieder an meinem Motorrad, verstaue die Einkäufe und mache mich dann über den heißen Fisch her. Für Pieps sieht jeder Fisch verdächtig aus, der nicht von Käpt'n Iglo kommt, aber schon nach dem ersten Bissen muss ich aufpassen, noch etwas abzubekommen, denn der panierte Seelachs schmeckt köstlich und hat keine Gräten.
Mit einer Serviette wische ich die fettigen Finger ab und fahre weiter. Bei der Reiseplanung auf Google Maps ist mir das Limestone Museum in Porkuni aufgefallen. Ein Museum für Kalkstein? Das klingt schon öde bevor man überhaupt dort gewesen ist.
Das Museum liegt auf der Insel Küngassaar im Porkuni See. Ich parke das Motorrad vor einem gewaltigen Anwesen mit roten Mauern, dem alten Schloss Porkuni. Es muss einst prachtvoll gewesen sein, doch jetzt sieht es verwahrlost aus. Inzwischen ist dort eine Internatsschule für gehörlose Kinder untergebracht.
Ich klettere bis in die oberste Etage. Von dort führt eine Leiter hinaus aufs Dach. Ich zwänge mich durch die Luke nach draußen und stehe auf dem Turm. Zwischen den Zinnen blickt man hinunter auf das neue Herrenhaus.
Als ich die letzten Stufen heruntersteige und wieder in den Raum mit der Kasse komme, werde ich bereits erwartet. "Director of the museum wants to meet you", raunt die Frau, die einmal in Australien gelebt hat, mir zu.
Ein freundlicher, rotgesichtiger Herr im hellen Sommeranzug kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Er scheint hocherfreut, dass ich den weiten Weg aus Deutschland hierher in sein Museum gefunden habe. In seinem Schatten steht eine kleine, sehr adrette Dame, die ausgezeichnet Deutsch spricht.
Der Direktor beginnt sogleich mit einer Ansprache über die Landreform in Estland seit der Unabhängigkeit und weiht mich in Besonderheiten seines Landes ein. Zur Unterstreichung seines Vortrags zieht er eine Landkarte aus der Tasche, die er mir feierlich überreicht. Er und seine Frau sind von solch einer herzlichen Freundlichkeit, dass ich ihnen gerne zuhöre.
Eine Abordnung estnischer Landfrauen ist meine Rettung. Ein Dutzend von ihnen kommt in einem der Minibusse angefahren, die für das Baltikum so typisch sind. Schon bald sind wir von fröhlichen älteren Damen umringt und es gelingt mir, mich zu verabschieden. Besonders Pieps ist froh, den Backenkneifern zu entkommen. Was finden ältere Dämchen nur daran, kleinen Kinder in die Wangen zu kneifen?
Diese 25 km durch den Wald sind die schönste Endurostrecke der bisherigen Reise. Erst kurz vor dem Campingplatz komme ich wieder auf Asphalt.
"Kamping?", fragt sie mich, als ich den Helm absetze.
"Yes."
Sie nimmt ein Handy aus einer Tasche ihrers Kittels und telefoniert jemanden herbei. Kurz darauf kommt ein junger Mann in einem Lada auf den Platz gerauscht. Morgen werden hier über 200 Kinder fürs Ferienlager erwartet, aber heute habe ich den Platz ganz für mich.
Wechselgeld ist ein Problem. Camping kostet 5 € und ich habe nur einen 20 € Schein. Erst Morgen früh könne er Wechselgeld besorgen. Er nimmt den Geldschein und fährt in seinem Lada davon. Das Zelt darf ich aufstellen, wo immer ich mag.
Das Waschhaus steht mitten im Wald. Kaltes Wasser und Plumpsklo, aber um Längen besser als das in Vaikla. Nur die Symbolik lässt mich ratlos zurück. Auf einem Eingang prangt ein Dreieck mit der Spitze oben, während auf der anderen Tür die Spitze nach unten zeigt. Welches bedeutet Männlein und welches Weiblein?
Den Abend verbringen Pieps und ich auf der Terrasse vorm Blockhaus. Da ist genügend Platz, um die Landkarte auszubreiten und den Fortschritt der Reise auf dem Papier zu verfolgen. Während ich vertieft über der Karte sitze, kommt der Mann mit dem Lada wieder angefahren und bringt mir das Wechselgeld. Es ist ihm sichtlich peinlich, keine Scheine zu haben, aber mir macht die Handvoll Münzen vom 5 Cent Stück aufwärts nichts aus. Die sind so freundlich hier in Estland, da fühlt man sich auch als alleinreisendes Dreieck Spitze oben sehr wohl.
Pausenlos schwirren Mücken und Geziefer um mich herum und als es dämmert verziehen Pieps und ich uns ins Zelt und überlassen die Terrasse den Blutsaugern.
Ich schmeiße den Kocher an und lasse die marinierten Koteletts in die Pfanne gleiten. Ein köstlicher Duft erfüllt das Zelt. Das Fleisch ist so unglaublich gut und lecker, wie bisher überall im Baltikum. Schweinefleisch einlegen, das können sie hier. Mein geliebtes Entrecote vermisse ich bisher noch keinen Moment und auch Pieps sieht ganz zufrieden aus.
zum nächsten Tag...
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Estland hat doch eine Menge zu bieten. Dabei gefallen mir die halb verfallenen Gutshäuser sogar besser, als die perfekt restaurierten Schlösser.