Am Peipussee
Wir fliegen weg! Das hält kein Zelt aus. Die Alustangen biegen sich, aber sie brechen nicht. Immer wieder drückt der Sturm das feuchte Außenzelt herunter bis tief auf mein Gesicht. Draußen dämmert es und ein gewaltiger Sturm heult über den Campingplatz.
Ich muss mal, aber ich mag nicht zum Klo gehen, weil ich Angst habe, dass da nichts mehr ist, wohin ich zurückkommen kann und ich in meinem süßen Snoopy Nachthemd verloren auf der nassen Wiese stehe. Von all dem stand nichts im Reiseführer, denke ich empört.Ich tue, was ich immer tue, wenn ich im Leben einen Rat brauche: Ich rufe Claudia an. Im Gegensatz zu mir ist sie nicht aus der Ruhe zu bringen und weiß dazu mehr über diesen ganzen Outdoor Kram, als sonst ein Mensch.
Beim zweiten Klingeln ist Claudie an ihrem Handy und merkt sofort, dass etwas nicht stimmt. Sie bleibt völlig gelassen, während ich ihr die Situation schildere und dabei mit einer Hand das Zelt stütze. Allein ihre Ruhe bringt mich noch weiter auf die Palme.
"Du packst zuerst alles zusammen und belädst dein Motorrad. Dann baust du das Zelt ab. Lass die Heringe einfach stecken und schieb nur die Stangen zur anderen Seite raus. Dann löst du immer nur einen Hering zur Zeit und knüllst das Zelt Stück für Stück zusammen, während du dich mit deinem Gewicht darauf kniest. Im allerschlimmsten Fall legst du dein Motorrad vorsichtig aufs Zelt."
"Soll ich nicht lieber im Bett bleiben und warten bis der Sturm nachlässt?" frage ich weinerlich, während aus dem Schlafsack heraus eine gewisse Maus eindringlich nickt.
"Der lässt leider nicht nach. Windstärke 9 und Regen den ganzen Tag bis in die Nacht."
"Na gut, danke Liebes. Ich melde mich später, wenn ich die erste Pause mache. Wahrscheinlich von der Statoil in Cesis."
Als alles gepackt ist und ich im engen Zelt die Motorradjacke anziehe, bin ich froh, das große 3-Personen Zelt gekauft zu haben: Eine Person bin ich, die Zweite meine Motorradklamotten, Helm und Stiefel und die dritte Person ist ein Scherz der Werbeabteilung.
Ich mache alles so, wie Claudia es gesagt hat und tatsächlich bin ich kurz darauf reisefertig. Eine Art trotziger Stolz überkommt mich, während ich den Helm über die klatschnassen Haare ziehe: Greeny, Pieps und Svenja sind wieder On-the-Road.
Claudie hat sich Sorgen gemacht, ob ich bei dem Wetter überhaupt fahren kann, aber das weiß ich wiederum: Motorradfahren bei Sturm ist kein Problem. Man segelt hart am Wind, aber irgendwie legt sich das Motorrad automatisch zur richtige Seite und man fährt in Schräglage geradeaus. Etwas unruhig, aber nicht gefährlich.
Gefährlich sind lediglich die vielen umgestürzten Bäume. Gleich hinter dem Campingplatz liegt der erste auf der Straße, aber es ist Platz genug, um vorbeizufahren.
Der erste Halt heute Morgen ist die STATOIL Station in Cesis. Es gießt wie blöde, als ich unter dem Dach der Tankstelle ausrolle. Meine Güte, welch ein Wetter. Ich ziehe die Regenkombi halb aus und binde die Ärmel vorm Bauch zusammen. In der Tanke ist ordentlich was los, ich bin nicht die Einzige, die vor dem Regen geflüchtet ist. Ich bestelle Kaffee und ein großes Baguette mit Hackfleisch, Zwiebeln und Käse überbacken.
Bei dem Wetter sollte kein Biker fröhlich sein, aber ich bin es. Sonst schlägt mir Regen leicht aufs Gemüt, aber nicht heute. Nicht einmal, als Pieps "aus Vaseehn" ein Stück Zwiebel in den Kaffee fallen lässt, kann das mein Hochgefühl trüben.
Mit dem letzten Schluck Kaffee mache ich mich wieder auf den Weg. Viele Kilometer geht es über matschige Straßen. Inzwischen habe ich aufgehört, die umgestürzten Bäume zu zählen, die von Kettensägen zerteilt am Straßenrand liegen. Nur noch Laub und kleine Zweige zeigen die Stelle, wo eben noch ein Baum auf der Straße gelegen hat.
Mein Weg führt auf der Landstraße A3 in Richtung Estland und es ist überraschend viel Verkehr. Von Zeit zu Zeit wische ich das matschige Wasser vom Visier. Ohne Regenkombi wären meine schönen Motorradsachen heute Nacht ein ziemlich unangenehmer Bettnachbar. Da nützt auch die Goretexmembran nichts.
Ich stelle das Motorrad auf dem Besucherparkplatz ab und erkund das Gelände zu Fuß. Auf eine Führung durchs Schloss verzichte ich. Das interessiert mich heute nicht so sehr und ich will denen auch nicht die guten Teppiche mit dem schlammigen Wasser der Regenkombi volltropfen.
Stattdessen sehe ich mir die Nebengebäude an, Stallungen, Scheunen und Gesindehäuser. Dieser Teil des Gutshofs sieht interessanter aus. Am Gesindehaus ist großflächig der Putz abgefallen und man sieht die Wände darunter, die aus Stroh mit Lehmbewurf gemacht sind. Es ist erstaunlich, wie lange die gehalten haben.
In der Kreisstadt Vöru halte ich bei Maxima und erledige meine Einkäufe. Bei dem Wetter möchte ich mich heute Abend auf ein schönes Abendessen freuen. Ich kaufe einen frisch gebackenen Schweinebraten, eine Miniflasche Wein und eine Dose Bier. Kurz darauf bin ich wieder auf der Landstraße, die wie gewohnt schnurgeradeaus zum Horizont führt.
Nein, hier gefällt es mir nicht und eine Toilette scheint es auch nicht zu geben. Ich weiß nicht, ob die Anwohner reif sind für den Anblick eines alleinreisenden, älteren Dämchens, die im pinken Nachthemd von Zeit zu Zeit im Wald verschwindet. Das passt alles nicht in mein Sicherheitskonzept. Ohne abzusteigen wende ich und fahre zurück zur Hauptstraße.
Mein Plan ist, dem Track des nächsten Tages zu folgen, bis ich auf einen Campingplatz treffe. Die Reise führt am Ufer des Peipussees entlang nach Norden.
Mit dem Track des 14. Reisetages erbe ich auch dessen Sehenswürdigkeiten: Die erste ist der Leuchtturm in Mehikoorma. Auch er hat den Sturm nicht unbeschadet überstanden, ein Baum ist gegen den Turm gestürzt und versperrt nun die Eingangstür. Viel mehr als das gibt es allerdings nicht zu sehen. Ich mache ein Foto und fahre weiter.
Fast hätte ich das blaue Schild mit dem Campingsymbol übersehen, das nach links in den Wald zeigt. Ich bremse scharf, schalte drei Gänge runter und biege in den Waldweg ein.
Im Grunde ist das ein toller Zeltplatz, aber der Boden ist matschig und das Feuerholz so nass, dass ich keine Lust habe, hier zu übernachten.
Am späten Nachmittag erreiche ich den Fluss Emajögi, einen der größten Flüsse Estlands. Er mündet nicht weit von hier in den Peipussee und auf meinem Weg nach Norden muss ich ihn überqueren, nur: Da ist keine Brücke.
Um über den Fluss zu kommen müsste ich bis Tartu fahren und dort über die Straßenbrücke, aber das ist ein Umweg von 20 Kilometern. Es soll aber bei Kavastu auch eine handbetriebene Kettenfähre geben. Ob die überhaupt in Betrieb ist?
Ein geschotterter Weg führt hinunter ans Ufer und tatsächlich: Da ist ein Fähranleger. Die Fähre liegt verlassen auf dem gegenüberliegenden Ufer und es ist niemand zu sehen. Nun, dann wird es doch die Straßenbrücke in Tartu werden, aber ich will zumindest ein Foto machen.
Er seufzt, kommt aus seinem Häuschen hervor und geht ohne Eile hinunter zum Anleger wo ein Ruderboot vertäut liegt. Mit einem Geschick, das für einen Mann seiner Figur erstaunlich ist, klettert er in das kleine Boot, löst das Tau und beginnt zu rudern.
Auf der anderen Seite angekommen steigt er auf die Fähre, löst die Taue und legt den stählernen Schwimmponton ab. An der Seite ist ein blaues Rad mit fünf Speichen montiert, womit er den Ponton mit geübten Bewegungen über den Fluss zu mir herüber kurbelt.
Die Fähre wird allein mit Armkraft an einer Kette über den Fluss geführt. Es herrscht eine ziemliche Strömung und der Fährmann kurbelt nach Leibeskräften.
Die Strömung treibt den Ponton immer wieder schräg ans Ufer und erst beim dritten Versuch gelingt das Anlegemanöver. Der Fährmann blockiert das Rad mit einem hölzernen Knüppel, den er in die Speichen steckt und winkt mich an Bord. Ohne Motorkraft rolle ich hinunter auf den Ponton, lege den 1. Gang ein und stelle die Enduro auf dem Seitenständer ab.
"How much?", frage ich den Ferryman, als wir auf der anderen Seite festgemacht haben.
"Five!"
Er steckt den 5 EUR Schein ein und dreht sich ohne ein weiteres Wort grußlos weg. Ich kanns verstehen: Um Greeny und mich überzusetzen musste er viermal über den Fluss, zweimal im Ruderboot und zweimal kurbelnd.
Ich steige auf die Kawasaki, starte den Motor und brause von Bord. Im Rückspiegel sehe ich den Fährmann wieder in sein Ruderboot steigen. Auf einer Bank sitzen drei halbstarke Jugendliche und sehen mir nach. Welch eine deprimierende Gegend.
Kilometer um Kilometer führt die Straße durch das Schwemmland am Ufer des Peipussees. Wiesen, Schilf und Morast, der See selbst ist nur selten zu sehen und einen Campingplatz habe ich bis jetzt auch nicht entdecken können.
In Alatskivi fahre ich auf eine Tankstelle, die aus nicht viel mehr besteht, als aus zwei gelben Tanksäulen unter freiem Himmel und dem Kassenhäuschen. Ich stelle den Motor aus und nehme den Helm ab.
"Gibt es denn einen Campingplatz in der Nähe?"
"Ja. Etwa fünf Kilometer von hier. Fahr mir nach, ich bring dich hin."
Er startet den Kuga und braust los, dass ich Mühe habe zu folgen. Nach drei Kilometern biegen wir auf eine Schotterpiste ab und heizen durch den Wald bis wir schließlich eine Wiese mit Hütten erreichen, Camping Willipu.
Ich habe kaum den Motor ausgestellt, da ist er bereits ausgestiegen und verhandelt mit einem alten Mütterchen. Sie trägt eine Kittelschürze und ein Kopftuch, so wie man sich ein russiches Mütterchen vorstellt, aber sie ist auch die Chefin und offensichtlich kennt man sich.
"We are fully booked", sagt das Mütterchen im besten Englisch. Die verblüffen mich immer wieder aufs Neue, die Esten.
Als ich ihr klar mache, dass ich keine Hütte mieten, sondern nur ein kleines Zelt aufschlagen möchte, darf ich bleiben.
Der Mann kann nicht glauben, dass ich zelten will und bietet mir sofort an, bei ihm zu Hause zu schlafen: "Keine Angst", fügt er lächelnd hinzu, als er mein entsetztes Gesicht sieht, "Ich habe eine Frau zuhause."
Welch eine Gastfreundschaft. Dennoch lehne ich das Angebot so charmant und freundlich ab, wie es nur möglich ist. Ich bin sicher, dass er keine Hintergedanken hat, aber das ist mir zu nah an Menschen. "Danke, du Lieber. Danke fürs Herführen und die angebotene Gastfreundschaft", füge ich in Gedanken hinzu.
Er steigt in seinen Kuga, winkt ein letztes Mal und braust davon. Die Facility Managerin, als Mütterchen mag ich sie trotz des Kopftuchs nicht mehr bezeichnen, kassiert 5 EUR für die Übernachtung und erklärt mir, dass ich mein Zelt aufschlagen darf wo ich nur mag. Das Gelände ist groß und die Wiese reicht bis hinunter an den See.
Sie bekamen nach 1991 nicht automatisch die neue Staatsbürgerschaft. Nur wer einen Sprach- und Verfassungstest ablegte, bekam einen estnischen Pass, die anderen blieben Nichtbürger, oder sie nahmen die russische Staatsbürgerschaft an.
So groß Camp Willipu ist, so rustikal ist es auch Es gibt eine Keramik für die Herren und eine für die Damen. Alles sehr einfach, aber durchaus sauber. Waschräume? Duschen? Es gibt ein kleines Handwaschbecken mit Kaltwasser. Pieps und ich sehen uns an und sind sofort einig: Hygiene wird überschätzt. Wir überspringen einen Waschtag.
Ich falte die Picknickdecke, die Claudie für mich zu Weihnachten genäht hat, auf ein Viertel und decke fürs Abendessen. Die drei Bratenstücke passen knapp auf den Teller und sofort gibt es Missstimmung: Wie macht man einer Maus klar, dass 2:1 für Svenja in diesem Fall durchaus gerecht geteilt sind? Dafür darf Pieps das knusprige, dunkle Stück.
Heute sind wir 380 km gefahren, Landstraßen, Matsch und Baustellen, Waldwege und eine Kettenfähre, die ewig gedauert hat. Pieps ist eingeschlafen, noch bevor sie ihr Stück halb aufgegessen hat und ich bin auch erledigt, kaum dass die kleine Flasche Wein leer ist.
Gute Nacht, Welt...
zum nächsten Tag...
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Das war ein Reisetag in grandioser Tristesse und dennoch ein klasse Urlaubstag. Interessant, fremd und auf seine Art auch schön.